Needful things – In einer kleinen Stadt

 

Lasst mich bitte etwas ausufern. Stephen King hat das wirklich verdient.

Seit der Krönungszeremonie 2020 sehe, höre und lese ich Dinge anders. Seit der Krönungszeremonie 2020 haben Geschichten, viele, Geschichten, eine tiefere und/oder zusätzliche Bedeutung gewonnen. Und eigentlich könnte man fast von Masochismus schreiben, wenn jemand in der heutigen Zeit Stephen King liest.

Es ist bloß so, dass das Etikett „Horrorautor“ so absolut unpassend ist. King darauf zu reduzieren, wird ihm nicht gerecht. Wer seine Geschichten auf die expliziten Splattersequenzen reduziert, hat das wesentliche verpasst.

 

Mich hatte seit meiner ersten King-Erfahrung („Shining“, das Buch) vor allem der übersinnliche Aspekt, aber auch die psychologische Komponente interessiert. Inzwischen gibt noch eine völlig andere Möglichkeit für mich, seine Geschichten zu interpretieren.

 

Das begann auf Zypern, als ich in der rauen Natur dieser bösen Insel, „das Mädchen“ von King als Hörbuch genoss. Es entsprach auf erschreckende Weise meinen Erfahrungen der unfreundlichen Natur, die mich umgab, biss, stach, zwickte, und auf jede erdenkliche Art zum Bluten brachte.

 

Diese Natur, die ich erfuhr, war keine liebe Gaia aus einem Eso-Einhörnchen-Film, und es war auch nicht die Natur, die von grünen Romantikern idealisiert wird, weil sie von ihrem Stadtgarten oder -park, auf die wahre Natur rückschließen wollen.

Die Natur, die ich erlebte, war grausam.

In einem Ausmaß, wie sich das niemand in zivilisierten Ländern wie Deutschland, Österreich, der Schweiz oder auch Italien vorstellen kann.

 

Und Stephen King hatte einen Roman genau über diese Bitch Gaya geschrieben, die eben nicht darauf wartete, eins ihrer Kinder, in die Arme zu nehmen.

Da dämmerte mir, dass King womöglich einer der ehrlichsten lebenden Autoren ist.

Dass seine Romane vielleicht weniger wegen ihrer Gewalt hypnotisieren, als durch ihre brutale Ehrlichkeit.

 

Da kommt mir gleich die Frage hochgewürgt, ob King ein Freund von mir sein könnte - und ich glaube... kaum. Er ist mir von dem, was ich von ihm hörte, mäßig sympathisch. Ich glaube in ihm einige ungeheilte Kindheitswunden zu sehen, die sowohl seine Geschichten, als auch sein Auftreten durchdringen. Da ist eine Art zwanghafter Zurschaustellung von Schlauheit, wie sie vielen verletzten Jungs eigen ist, aber auch eine gehörige Portion Selbstgerechtigkeit, die sich wie ein Vermächtnis seiner Koks-Zeiten anfühlt. Seine alberne Streiterei mit Donald Trump ist seiner auch irgendwie unwürdig.

 

Anders gesagt - King ist kein bequemer Charakter.

Was nicht verwundert, wenn erst mal erkannt wurde, dass er ein krasser Moralist ist.

Er hat inzwischen ausreichend Bücher geschrieben, um einen durchgehenden, roten Faden zu erkennen. Nein, nicht Gewalt, nicht Grausamkeit, sondern Moral.

Das überrascht dich (nicht)?

 

In beiden Fällen betrachte einmal genauer, wie ungewöhnlich es doch ist, wenn jemand sexuelle oder gewalttätige Aspekte detailliert beschreibt, aber letztlich eine hochmoralische Position einnimmt.

Was eindeutig ein Zeichen seiner Intelligenz ist.

 

Er lässt sich trotz seiner klaren Position für die Liebe und das Licht, nicht dazu hinreißen, die Grausamkeit und Dunkelheit verlogen zu leugnen.

Weshalb sich mir seit einiger Zeit der Verdacht aufdrängt, dass King keine Romane, sondern Reportagen schreibt.

 

In keinem Buch wird das deutlicher, als in dem massiv unterschätzten „Needful things“.

Man könnte es für ein psychologisches Buch halten. Ist es auch.

Vor allem ist es eine detaillierte Beschreibung, wie tief die klassischen „Todsünden“ in allen Menschen stecken – und es nur einen Hauch von Anlass braucht, um eine oder alle diese Schattenaspekte hervor zu kitzeln.

 

Dieses Buch hat 2020 neue Durchschlagskraft gewonnen.

Auf vielfältige Weise sind gerade tausende Beispiele im realen Leben zu sehen, wie verwundete

Herzen in ihre spezifische Lieblingssünde fallen.

„Sünde“ nicht im Sinne religiöser Moral, sondern als Überbegriff für die unbearbeiteten Wunden aus unser aller Vergangenheit.

In „Needful things“ gibt es einen Dämon, der sich von Seelen ernährt.

 

Vielleicht ist er auch nur eine Art fieser Gärtner, der Menschen in den Tod treibt, um anschließend Seelen zu ernten, um sie weiter zu verkaufen.

 

Interessant ist die Art, wie er das macht.

Er spielt die verborgenen Aspekte aller Menschen einer kleinen Stadt gegeneinander aus.

 

Er verwendet dafür das clevere Werkzeug der Lüge – und alle fallen reihenweise darauf rein, weil sie nicht an die Möglichkeit glauben können, dass ihre schmutzigen Fantasien nur schmutzige Fantasien wären. Wie im richtigen Leben.

 

Es ist 2020 – und allerorts halten sich alle für moralisch Erhaben und Nobel – und werten und richten, was das Zeug hält. Ohne zu berücksichtigen, dass sie vielleicht nur von cleveren Dämonen gegeneinander ausgespielt werden.

 

Wie gut der Roman wirklich ist, lässt sich ausgerechnet an Kings Moral festmachen.

 

Während des ganzen Romans ist relativ deutlich, dass alle, von Bedürftigkeit getrieben waren – und daran zugrunde gingen. Wie im richtigen Leben, waren alle Einwohner der kleinen Stadt in der Illusion gefangen, sie bräuchten etwas, um glücklich zu sein .

Oder sie glaubten zu wissen, dass nur ein bestimmtes Ding fehlte, zu ihrem Glück.

 

Genau auf diese Weise, werden Handys, Autos, Sex, Drogen, Luxusvillen, Reisen an öde Sandstrände oder schicke Frisuren verkauft.

Genau so, wird fast alles verkauft.

 

Und ohne es den Lesern auf die Nase zu binden, wird auch die Wurzel für diese Illusion geliefert – alle haben versteckte Herzenswunden oder Liebesmangel.

Es ist so einfach, und sogar fast banal, wenn man es erst mal durchschaut hat.

 

Weshalb sich die Dämonen in Regierungen und Machtpositionen bestimmt auch oft den Arsch ablachen, wie das bescheuerte Volk so einfach versklavt und ausgebeutet werden kann.

Es ist nicht, weil die Menschen dumm wären.

Es ist, weil sie sich ihrer Schwächen und Verletzungen schämen – und sie verstecken.

 

Genau davon handelt „Needful things“.

Und ist 2020 aktueller als je zuvor, weil in all den hitzigen Diskussionen dieser Tage, ein Aspekt weiterhin nicht stattfindet.

Dass jemand die eigene fremd geprägte Scham überwindet, und sich verletzlich macht und Schwäche zeigt.

 

Wie gut King wirklich ist, zeigt das Ende von „Needful things“.

Er hätte leicht in eine illusorische Plattheit abrutschen können, doch dank seines hochmoralischen Kompasses, hat er die eine Sache gefunden, die auch im realen Leben die Antwort ist.

 

Es braucht nur ein einziges Herz, das aus dem Spiel aussteigt.

Ein zentraler Schlüssel ist die Aufgabe von Stolz.

Darunter kommt das zum Vorschein, womit sich alle Dämonen besiegen lassen, ungeachtet ihrer äußeren Erscheinungen.

 

King hat dafür ein gelungenes Symbol gefunden.

Finde dein Symbol.