Das Allzweck-Werkzeug

 

 Da ist etwas, im Spiel des Lebens, aber wenigstens im Spiel der Zweibeiner, was einfach nicht so recht zu passen scheint. Kein Konzept, das wir uns zurechtlegen, scheint daran etwas ändern zu können. Der Einfachheit halber, darfst du mich, liebes Lesewesen, gleich hier und jetzt, als Zweifler, Pessimisten, Nihilisten, Unwissenden, oder auf jede dir passende Art abstempeln.

Hübsch sollen sie sein, die Antworten auf essentielle Sinnfragen. Unterhaltsam, humorvoll, clever und smart. Bitte mit Lächeln oder einer süßen Melodie im Hintergrund vorgetragen. Und nenn die Lügen nicht Lügen, weil das nicht schön klingt. Wir wollen alle schön und liebenswert wirken. Wir wollen nicht auf die Tricks gestoßen werden, mit denen wir uns das Leben passend biegen und brechen. Je schöner die Maske, desto geneigter sind wir, alles darunter auszublenden. Bewusstsein ist weniger ein Zustand, als ein Schmuckstück. Um Anderen zu gefallen. Um uns selbst zu gefallen. Meist ist das Bewusstsein auf Konstrukten wildfremder Projektionsflächen aufgebaut. Auf Leuten, die staatlich anerkannte, diplomierte Schlauberger sind. Sie präsentieren öffentlich Selbstlosigkeit, Weisheit und Erleuchtung. Ihr Schauspiel wird geschätzt, weil es inspiriert und gefällt. Weil es Mut und Hoffnung spendet, wenn da jemand sich zur Projektionsfläche macht, und vorgibt, „es“ geschafft zu haben. Aber mehr noch, weil der Wert von Heiligen mit der Anzahl der Gläubigen wächst. Wahrheit wächst nicht direkt Proportional mit.

 

Wir können Wahrheit nicht sehen, sondern nur fühlen. Wenn überhaupt. Meist können wir sie nicht fühlen, weil wir zu beschäftigt sind, die Folgen der ständigen Lügerei herum zu schieben. Lügen sind wie eine voll gestellte Wohnung. Man sucht irgendeinen freien Platz, wo man noch einen Rest Bewegungsfreiheit haben kann. Aber man kann nur den Krempel in der Wohnung herumschieben,. Bis man sich vielleicht irgendwann entschließt, auszumisten.

 

Mit den Lügen ist es, wie mit angehäufter Materie. Angestachelt von Sehnsucht und Wollen, hat es irre viel Spaß gemacht, Dinge ins Leben zu holen. Ohne das Haltbarkeitsdatum zu beachten. Es wird festgehalten, auch wenn es längst ausgesaugt und verinnerlicht wurde. Es loszulassen, wird von Tag zu Tag schwieriger. So ist es auch mit den allseits beliebten Lügen. Einmal damit durchgekommen, womöglich sogar erfolgreich gewesen, dank einer Lüge, wird es schwierig die Lüge loszulassen. Noch schwieriger wird es in einem Umfeld, das Lüge nicht nur toleriert, sondern erwartet. Was unter keinen Umständen erlaubt ist: jemand der Lüge zu überführen. So absurd es scheint – Lügner wollen für ihre Lügen ebenso geliebt werden, wie Schauspieler für ihre Maske.

 

Lange habe ich mich damit beschäftigt, meine voll gestellte Bude leer zu bekommen. Lange habe ich mir gewünscht, mich meiner Wahrheit anzunähern. Diese Wahrheit ist nicht glorreich. Nicht sexy. Nicht attraktiv oder schön anzusehen. Es ist zum durchdrehen. Begonnen habe ich mit dem Weg der Wahrheit, weil ich das ganze Lügen und Betrügen so lächerlich und albern fand. Ich weiß nicht mehr was ich mir von der Wahrheit erwünscht hatte. Frieden? Einen anerkennenden Schulterklopf? Ruhm? Groupies? Einen Platz in Geschichtsbüchern zwischen Gandhi und Hitler? Oder hatte ich nur ganz banal Macht und Kontrolle angestrebt? Ein Allzweck-Werkzeug, um das fiese Leben zu entfiesen?

 

Das ist, was mir inzwischen richtig unheimlich geworden ist. Wenn Zweibeiner für sich eine Antwort gefunden haben, und wirklich glauben, damit ließe sich das Leben bewältigen.Tatsächlich dient das Allzweck-Werkzeug vor allem dazu, von der eigenen Verletztheit und Verletzlichkeit abzulenken. Wer glaubt, das Allzweck-Werkzeug zu haben, bemerkt die Selbstlüge nicht mal, denn ist es nicht das, worum sich das Leben dreht? Irgendeine Antwort zu finden, mit der sich das Leben meistern lässt? Eine ultimative Antwort, die entweder über dem Leben steht, aber wenigstens mit dem Leben in Harmonie scheint. Ist es nicht das, was Glaubenssysteme überall auf dem Planeten verkaufen? Einen Ort oder Moment, da Frieden einkehrt? Der Schmerz aufhört? Alles einfacher wird? Ist es nicht so, dass ein Herz, das nicht damit angibt, wie einfach plötzlich alles ist, und nicht ein penetrantes Dauergrinsen in dein Gesicht prügelt, kurzerhand als „noch nicht erleuchtet“ abgetan wird? Meine Weigerung ein unterhaltsamer Weisheiten-Quell und angenehm konsumierbar zu sein, wird kurzerhand als „ach, der Kleine ist noch nicht soweit“ ausgelegt. Als gäbe es irgendwas zu erreichen... Als gäbe es einen Moment, da man das Leben an die Leine legen und wie einen Schoßhund herumführen könnte.

 

Der Schlüssel zur Wahrheit ist eindeutig Verletzlichkeit. Ganz eine unpopuläre Eigenschaft. Sie wird nicht populärer, weil irgendwer in spirituellen Kreisen meinte, es wäre gut, die eigene Verletzlichkeit zu zeigen. Oh, nein. Das ist es nicht. Verletzlichkeit zeigen, wird nicht belohnt. Es wird weder wertgeschätzt, noch geliebt. Es wird dadurch nichts leichter, und du wirst dadurch nicht beliebter. Zum Einen wirst du damit noch angreifbarer, als du ohnehin dein Leben lang bist, zum Anderen steht es im größtmöglichen Widerspruch zur fantastischen Unverwundbarkeit der Superhelden-Gurus. Wer Unsicherheit, Schüchternheit, Schwäche oder Angst zeigt, wird nicht für voll genommen. Obwohl die allergrößten Idole der Zweibeiner verdient hätten, humor-, aber schwungvoll, von ihren Socken geschubst zu werden.

 

Schwäche und Verletzlichkeit zu zeigen, wird überwiegend als Einladung betrachtet, an betreffende Person Weisheiten und Patentrezepte zu hängen. Was meist großzügig in eitler Selbstgefälligkeit getan wird. Damit die schwache, verletzliche Person auch irgendwann groß, weise und erleuchtet sein kann. Und auch ein Allzweck-Werkzeug zum Schrauben am Leben findet.

 

Komisch eigentlich...

 

Ich bin wütend, ärgerlich, frustriert, hilflos, verletzlich, schwach, ach ja, unattraktiv, finanziell überwiegend am Abgrund, trag ne Brille, hab drei Zahnlücken, und ich könnte die Liste meiner so genannten Fehler auf Romangröße ausweiten, denn irgendwas hat man immer an mir gefunden, was nicht passte oder  nicht "gut genug" war – aber ich weigere mich, mich deshalb weniger wert zu fühlen als die Helden der Zweibeiner. Ich sehe mich auch nicht über den Ausgestoßenen und Außenseitern.

 

Ich hab keine Antwort was vor sich geht. Ich würde gerne ein schlaues Fazit aus diesem Text ziehen. Aber da ist keines. Ich hab nur keine Lust mir ne Maske aufzusetzen, damit ich der Erpressung des Außen entspreche. Ich hab kein Allzweck-Wektzeug. Weder für dich noch mich. Wer sagt, es zu haben, hat eine schicke Selbstlüge installiert, Um sich weniger verletzlich zu fühlen. Ich kann das nicht, und ich will das nicht. Und ich würde den Helden mit Allzweck-Werkzeug gerne glauben. ich kann nicht. Nicht mehr.

 

(Vigor Calma, 2019)