Schmerzolympiade 

 

Schmerz ist – wie alle Wahrnehmungen – individuell.

Über Phänomene verbal auszutauschen, heißt nicht, etwas zu wissen.

Weil ich Zahnschmerzen hatte, heißt das nicht, dass ich deine Zahnschmerzen kennen würde.

Dass ich wüsste, wie es sich für dich anfühlt.

Sprache schuf die Illusion von „Verstehen“.

Ich habe keine Ahnung, was „Verstehen“ sein soll.

Die öffentliche Bekundung, ich wüsste etwas?

Wie etwas oder jemand sei?

Wahres „Verstehen“ ist eigentlich Empathie.

Darauf zu vertrauen,

dass man aufgrund eines vagen Mitgefühls eine ungefähre Ahnung hat,

was ein anderes Wesen durchlebt.

Gewagt, weil selten ausgeschlossen werden kann,

dass sich nicht doch ein Häppchen Wertung oder Beurteilung einschleicht.

Schließlich wurden und werden wir motiviert, eigene Meinungen zu haben.

Die vermeintlich eigene Meinung ist nicht,

was in einem anderen Wesen zwangsläufig stattfindet.

Vielleicht trifft man ungewollt – gerade ohne Wollen und Absicht – einmal den Kern der Sache.

Wahrscheinlicher ist, dass wir einander Fremd sind und Fremd bleiben.

Daran ist nichts falsch. Es ist nicht schlecht.

Es ist einfach.

Mein heutiger Stand der Einsicht sagt,

dass es keinen Wettbewerb der Schmerzen gibt.

Jeder Schmerz ist subjektiv.

Unvergleichbar.

Daher gibt es keinen Schmerz der über oder unter einem anderen Schmerz steht.

Wenn mir jemand Leid mitteilt, ist es nicht an mir, das zu bewerten, zu vergleichen, oder zu messen.

Es reicht völlig, wenn ich den Schmerz bezeuge.

Wenn ich mein Mitgefühl kund tue.

Sollte ich um Hilfe gebeten werden, dann kann ich überprüfen, ob das in meiner Macht steht.

Meist nicht.

Schmerz erfüllt einen Zweck, und auch meine gefragte Hilfe, stellt eine Art Einmischung dar,

die subtil an der Aufgabenstellung schraubt.

Weil Schmerz den Leidenden gegeben wurde, damit sie eine Erfahrung machen.

Ob, um zu lernen, oder um zu wachsen, oder einfach nur, weil das Leben ein Sadist ist,

liegt bereits wieder außerhalb meines Zuständigkeitsbereiches.

Ich kann mich in Achtsamkeit üben.

Ich kann beobachten.

Wie mit Schmerz umgegangen wird.

Wie ich mit meinem Schmerzpaket umgehe.

Wie bei allen Phänomenen, kann ich durch Beobachtung lernen.

Erkennen, womit ich es zu tun habe.

Was weder heißt, dass ich Schmerz in masochistischer Heuchelei begrüßen,

noch in esoterischer Schönfärberei gutreden würde.

Schmerz geschieht – wie alle Phänomene.

Warum auch immer.

Ich nehme mir die Freiheit ihn zu benennen, wenn ich ihn wahrnehme.

So wie es allen freisteht, mich dafür zu verurteilen, zu bewerten, mich zu vergleichen, oder sonst wie kund zu tun, was mein Sein in ihnen auslöst.

Doch was ich bei dir auslöse, ist schon wieder deine ganz individuelle Angelegenheit

und außerhalb meines Zuständigkeitsbereiches.

Wofür ich so wenig kann, wie du für meinen Schmerz,

oder die Folgen meiner Entscheidungen.

 

Ist das nicht faszinierend?

 

(VC, 2019)

 

 

 



#schmerz #wettkampf #vergleich #individualität #vigorcalma #unpopuläreessays