Reizende Reizüberflutung

 

Menschen leben in großartigen Zeiten. Das Schlaraffenland ist für jene wahr geworden, die bereit sind, dort einzutreten. Der Preis dafür ist das Vergessen. Mit dem Eintritt ins Schlaraffenland wird die Erinnerung ausradiert, dass es jemals anders gewesen wäre, und jemals anders sein könnte. So freuen sich die Bewohner von Neo-Schlaraffenland an Luxus, der vor einem Jahrhundert noch Science Fiction war. Alles ist möglich. Alles greifbar. Die sonderbarste Idee, jeder ausgefallene Fetisch kann und wird befriedigt werden. Die Welt ist ein Dorf geworden, und Zeit mehr Illusion als je zuvor. Und doch ist es nie genug...

 

Was macht das mit der Wahrnehmung der angehenden Menschen?

Sind sie bereit für die unglaublichen Möglichkeiten?

Sind sie in der Lage, all das in Dankbarkeit und bescheidener Demut an- und aufzunehmen?

 

"Multitasking" ist die ironische Ausrede, mit der sich all Jene entschuldigen, die nicht länger in der Lage sind, sich nur einer Sache zu widmen. Wieso auch? Nur eine Sache im Moment? Wie langweilig! Wieso sich nur einer Sache widmen, wenn das Gehirn in der Lage ist, ähnlich einem vielarmigen Kraken, vieles aufzugreifen?

Wieso unbequeme Fragen stellen, wenn Therapeuten auch leben wollen, und neue Geisteskrankheiten volle Behandlungszimmer garantieren? Krankheitserfinder finden Krankheitsfinder. Da werden eilig neue Namen gefunden. Irgendwer fügt sich bestimmt in die Rolle des Opfers. Irgendwer wird ein Buch darüber schreiben. Irgendwer ein Medikament oder eine Therapie „dagegen“ entwickeln.

 

Wie ist das mit dem Ego? Glaubt es nicht ständig zu wenig zu bekommen? War es nicht jahrelang darauf geprägt worden, zu wenig zu haben, nicht modern genug zu sein, nicht schlank genug, nicht hip genug, nicht reich genug? War das nicht die zentrale Botschaft aller Werbung, die wir als Kinder und Teenager ahnungslos in uns lassen haben?

 

In Neo-Schlaraffenland bekommt das Ego endlich mehr.

Das unendliche Einkaufs- oder Infoparadies, wo die Regale nie leer werden. Für Nachschub ist gesorgt. Woher es kommt, fragen wenige. Wozu es eigentlich dient, noch weniger. 

 

Das Hirn in Bewegung halten.

Ein Tag dauert immer noch 24 Stunden, doch mancher Tag beinhaltet mehr Informationen, als eine Woche, ein Monat, oder vielleicht sogar ein Jahr in vergangenen Zeiten. Ist das Licht aus, verarbeitet der Biocomputer was er kann. Tatsächlich ist das Gehirn zu manchem Wunder fähig. Es macht so lang mit, bis es schlapp macht.

 

Die modernen Menschen sind dazu übergegangen, dringende Erholungszeiten "Krankheiten" zu nennen. Zeiten, in denen Belastungen so groß geworden sind, dass sie auf den Körper übergreifen, bis der sich mit Erschöpfung wehrt. Was natürlich nicht sein darf, in der Leistungsgesellschaft, wo Superhelden mit Superkräften Ikonen moderner Mythologie sind. Weshalb viele Menschen Krankheiten nicht als Erholungszeit und Heilungsraum betrachten, sondern als lästige Unterbrechung wichtigster Geschäftigkeit. "Krankheiten" werden bekämpft. 

  

Was als nette Idee begann, hat das Ausmaß einer Volksseuche gewonnen: Tele-Kommunikation. Handys, Internet, Mails, Chats, Social-Net. Erfindungen, die der Bequemlichkeit der Egos entgegen kamen. Jederzeit erreichbar, allzeit bereit. Für wen auch immer - solange es via Handy oder Internet geschieht. Parkbänke sind suspekt und in modernen Lebensräumen weitgehend abgeschafft. Es könnte sich ein Fremder dazu setzen. Jemand könnte auf die Idee kommen, für einen Moment nicht zu konsumieren.

 

Tamagotchi heißt heute Facebook. Hunderte bis tausende "Freunde" haben Gelegenheit sich der Illusion des Welt-Dorfes hinzugeben. Dabei frisst es mehr Aufmerksamkeit als ein Tamagotchi, und stirbt bereits bei den geringsten Regelverstößen. Um im Internet lebendig zu sein, musst du mitspielen. Kommentare schreiben. Meinungen haben. Du musst fleißig die "gefällt mir"-Knöpfe drücken. Damit signalisierst du: "Ich bin einer von euch. Ich bin so wie du." Virtueller Gruppenzwang. Längere Zeit nicht aktiv zu sein, missfällt den virtuellen Freunden. Drückt ein solch verräterisches Subjekt doch damit aus, dass es etwas Anderes zu tun hat, oder womöglich sogar wagt, ein real lebender Faulenzer zu sein.

 

Fasten ist ein wenig beliebtes Wort in Neo-Schlaraffenland. Genau das ist das Allheilmittel. Könnte dein Gehirn direkt mit dir sprechen, würde es sagen:

"Lass mich doch mal in Ruhe. Ich versuch noch die Sachen von vor dreißig Jahren richtig abzuordnen. Seitdem hast du mich mit immer neuen Mist voll gestopft. Was denkst du eigentlich?"

 

Weniger ist mehr. Mehr den je.

Auszeiten.

Eintauchen in die Stille.  Dann in der Stille eine Weile verweilen.

Das kostet nichts! Éine bewusste Entscheidung der Selbstliebe und Selbstachtung.

Es ist ganz einfach zu machen – durch nicht machen.

  

Vigor Calma, 2013

 



Kommentar schreiben

Kommentare: 0