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Die große, fette Lüge (und warum sie so geliebt wird)

 

John Steinbeck schrieb in seinem Roman, „Die Straße der Ölsardinen“, dass „die Menschen belogen werden wollen“. Der Held des Romans hatte die fixe Idee, einmal einen „Bier-Milch-Shake“ ausprobieren zu wollen. Er bestellte ihn in einer Bar, mit der Erklärung, "es sei ihm vom Arzt verordnet worden". Was die Barfrau augenblicklich schluckte. Als er ihn kostete, fragte sie ihn mitfühlend, ob das sehr schlimm wäre, worauf er antwortete, „man gewöhnt sich daran“.

Als ich diese Geschichte gelesen habe, als Teenager,  hatte nur eine vage Ahnung, wie tief die Lüge ging. Wenn ich schreibe „eine Ahnung“, dann meine ich, dass ich oft sehr empört und wütend war, und gern Bomben geworfen hätte, aber nicht genau sagen konnte, warum eigentlich, oder auf wen. Ich fühlte, dass „etwas nicht stimmte“ - konnte aber den Ursprung des Gefühls nicht ausfindig machen. Was mich häufig noch wütender machte.

 

Ich war wütend, weil ich verzweifelt war, dass scheinbar niemand sonst den üblen Gestank der Lüge wahrzunehmen schien.

 

Schon früh erlebte ich, dass die Wahrheit eine intime Angelegenheit war, die man mit sich ausmachen musste. Mit sich. Gegen den Rest der Welt. Da waren all die edlen, hohen Ansprüche, die man an mich oder Mitglieder einer Gesellschaft stellte – aber kaum jemand schien sich daran zu halten. Vielmehr schien es mir, als würden alle Erwachsenen eine Tarnmaskerade tragen, und dahinter verbargen sich jämmerliche, armselige Sklaven, die sich selbst und andere ununterbrochen belogen. Sklaven, die Gemeinschaft oft überhaupt nur suchten, um in der Gemeinsamkeit die Lüge besser verschleiern zu können, und unter Lügnern sicher fühlen zu können.

 

Was mich in arge Bedrängnis brachte, weil ich ja „gut“ sein wollte. Ich wollte so sein, wie meine Eltern „gut sein“ definiert hatten. Ohne zu überprüfen, wie „gut“ meine Eltern waren. Ich vertraute ihnen blind, weil ich sie liebte. Hier ist ein besonders scheußlicher Aspekt der Lüge. Wenn man liebend Menschen vertraut, geht man auch davon aus, dass dieses Vertrauen gerechtfertigt sei. Welches Kind und welcher Teenager geht schon davon aus, dass die eigenen Eltern lügen würden? Welches Kind und welcher Teenager kann sich vorstellen, dass die eigenen Eltern Sklaven eines Systems sind, das sie ebenso wenig gewählt haben, wie man selbst davon ausgeht, in Sklaverei geboren worden zu sein?

 

Das Faszinierende an der Lüge ist, dass fast alle brav mitspielen, weil es Teil eines sozialen Konstruktes ist. Nicht jede Lüge geschieht aus Böswilligkeit. Aber wohl jede Lüge scheint im Moment, da sie ausgesprochen wird, viel bequemer und praktischer, als die unangenehme Wahrheit zu sagen.

 

Warum es so unangenehm ist die Wahrheit zu sagen? Weil viel, viel zu wenige Menschen den Mut und die Würde besitzen, die Wahrheit hören zu wollen und annehmen zu können. (Häufig werden ehrliche Menschen aus dem Weg geräumt, und im Nachhinein angebetet, weil sie lebendig viel zu unbequem und bloßstellend waren.)

 

Über das Phänomen der Lüge nachzudenken, ist, als wollte man einen unsichtbaren Taifun ausfindig machen. Man bekommt zwar die Folgen zu spüren, aber kann nie wirklich das Epizentrum ausfindig machen.

 

Nach den Erfolgs-Idealen der Gesellschaft, werden Lügen tatsächlich belohnt. Wenn man Materie, Macht, oder den schnellen Kick als „Belohnung“ sehen mag. Wenn man sich nichts Tieferes vorstellen kann. Die Leute wollen belogen werden. Das „Warum?“ dahinter, war weniger leicht ausfindig zu machen. Dafür musste ich erst jahrelang Versuchsanordnungen durchleben, um das Prinzip dahinter zu verstehen. Die Leute wollen belogen werden, aber sie wollen nicht wissen, dass sie belogen werden. Was nicht weiter verwundert, weil die Illusion sehr unterhaltsam daher kommt, und Integrität sehr viel weniger attraktiv scheint. Aus der Sicht einer unterhaltungssüchtigen Gesellschaft, die Halli Galli und Ramba Zamba der Stille und Tiefe vorzieht. Wahrheit kann ganz schnell allein machen. Wie viel angenehmer ist es da doch, tausende „Freunde“ in einem sozialen Netzwerk zu sammeln, und sich der süßen Illusion hinzugeben, man hätte „Bedeutung“. War das nicht, was man uns als Lebensinhalt mit auf den Weg gegeben hatte? „Bedeutung“ zu haben? Dem eigenen Leben mit Erfolg „Sinn“ zu geben? War das nicht der Sinn der ganzen Schul-Qual gewesen? Kinder auf irgendwas hinzuführen, was dann zu ihrem Job werden sollte, damit sie „etwas Sinnvolles“ täten? Mir sträubten sich die Haare. Denn weder weltliche noch geistliche Laufbahnen schienen mir all zu viel mit meiner eigenen Wahrheit zu tun zu haben. Was aber diese Wahrheit wäre, konnte mir niemand sagen. Es scheint ein Teil des Lebensspiels zu sein, dass wir die Freiheit haben, für uns allein raus zu finden, worum sich alles dreht.

 

Zuerst fand ich heraus, warum Leute lieber belogen wurden, als die Wahrheit zu erfahren. Die Wahrheit fordert einen heraus. Sie kann einem den Boden unter den Füßen wegreißen, und im nächsten Moment befindet man sich im freien Fall. Weit und breit nichts, woran man sich festhalten könnte. Eben dieser freie Fall, scheint dem ängstlichen Ego ganz schön unheimlich zu sein.

 

Das Festhalten der Zweibeiner hat viele Facetten. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie auf Glaubenssystemen aufgebaut sind. Ob es Hierarchien sind, Ordnungen, Regeln, Mathematik oder Sprache – an irgendwas wollen sich alle festhalten. Euer Schreiber ebenfalls. Sein bevorzugtes Glaubenssystem ist Sprache. Gefolgt von Bildern und Klängen. Was insofern putzig ist, denn welchen Sinn hat es, über Wahrheit zu schreiben, wenn nicht gewährleistet ist, dass Sprache keine Lüge ist?

 

Generell scheine ich mich der Wahrheit anzunähern, indem ich alles ablege, was keine Wahrheit ist. Um herauszufinden, was keine Wahrheit ist, habe ich mich oft genug in Versuchsanordnungen begeben, die durchaus Gefahren für meine unsterbliche Seele bargen. Allein die Idee, den Kunstweg einzuschlagen, war von großartigem Heldenmut – weil das, worauf ich meine Ideen von „Kunst“ und „Künstler“ aufgebaut hatte, nicht real existiert. Ich hatte meine Entscheidungen auf einen Mythos gestützt. Auf Ideen, die ich in Künstlerbiographien gierig aufgesaugt hatte. Doch was hätte ich tun sollen? Welche anderen Optionen hatte ich?

 

Eine der gelungenen Schilderungen des Lügenspieles, ist im Roman „Der Sieger bleibt allein“ zu finden. Mein Lieblingsroman von Paulo Coelho. Geichzeitig, der Roman, der von treuen Coelho-Fans, am wenigsten gemocht wird. Weil in dem Buch kein nettes, schmeichelhaftes Märchen verkauft wird, sondern die Kunst- und Ruhm-Illusion unters Mikroskop gelegt wird. Es ist das Buch, mit der ungeschminkten Wahrheit über die Glamourwelt. Auch im Film „Maps to the stars“ von David Cronenberg, wird die Glamourwelt zerlegt. Was kaum jemand sehen will. Wenn's um die Stars und Idole geht, verstehen die Zweibeiner keinen Spaß. Sie wollen Götter und Göttinnen anbeten. Wenn nicht im fernen Olymp, dann wenigstens in Hollywood.

 

Wir bräuchten keine Angst zu haben, vor den schrecklichen Dingen, die geschehen können, wenn wir uns das Leben öfter etwas gefährlicher und unbequemer gestalten würden. Dann würden wir mitunter erkennen, dass wir auch ohne Geld weiterleben, und sogar Wunder erfahren können. Eben deshalb ist das Netz der Lügen so eng geflochten. Damit nicht jemand „aus versehen“ über die Wahrheit stolpert. Man muss es wirklich darauf anlegen, um eine Ahnung der Wahrheit zu erschnuppern.

 

Genau da ist meine Rolle als scheinbarer Spielverderber. Mir ist seit langem klar, dass wenige lesen, hören, oder sehen wollen, was ich zu schenken habe. Es lässt sich nicht konsumieren. Es zwingt einen in die Spiegelung und Selbsterkenntnis. Man kann nicht auf zwei Partys gleichzeitig feiern. Du kannst nicht einerseits die Lüge leben, und gleichzeitig Freiheit finden. Geht nicht. Entscheidungen sind angesagt. So wie ich von Botschaftern die Wahrheit erhielt, gebe ich Wahrheit weiter. Das ist nicht eine Frage meines Egos – auch wenn es mir Spaß macht, diesen Job zu machen. Ich möchte, dass du frei bist, weil es schön ist, frei zu sein. Auch wenn die Freiheit, die ich bereits erreicht habe, noch lang nicht das Ende des Erreichbaren ist.

 

Ich habe bislang geglaubt, es gäbe ein paar Situationen, mit denen man sich dem wahren Leben annähert. Das waren psychedelische Drogen, Tanz, ekstatischer Sex, Meditation, oder Nahtoderfahrungen (die in eigentlich ausnahmslos Nahlebenerfahrungen sind). Heute möchte ich ein wenig weiter gehen. Dass man Nahlebenerfahrungen macht, sobald kein Geld im Spiel ist. Warum? Weil Geld praktisch alles verfälscht. Statt es als Werkzeug für Energieaustausch zu sehen, hat man ein Glaubenssystem daraus gemacht. Ein illusionäres Glaubenssystem, dem man sich angstvoll zu unterwerfen hat, weil alle es tun.

 

Es ist kein Zufall, dass alle Weisen der Welt auf die Gefahren des Geldes hinwiesen. Ich habe inzwischen ausreichend Erfahrungen mir Armut gesammelt, um sagen zu können, dass Armut tatsächlich Reichtum ist, wenn man keine Angst vor Geldmangel hat. Angst vor Geldmangel erzeugt allgemeine Bereitschaft sich zu versklaven – statt vertrauen zu üben, und sich in die Hände des Lebens zu begeben. Ich muss dann immer an die Szene aus Fight Club denken, in der Tyler Durden das Lenkrad des Wagens loslässt, mit dem er über eine verregnete Autobahn rast. Bin ich bereit, das Auto den Abgrund runter rollen zu lassen?

 

Mir scheint, dass die Lüge nur funktioniert, weil fast alle lieber zu irgendwas gehören wollen, als zu nichts. Dass die Masse nicht wählerisch ist, wenn es um Zugehörigkeiten geht, und bereit ist alles zu glauben, wenn sich dadurch nur die Angst vor Einsamkeit - umgehen lässt.

 

Geldglaube ist vielleicht eines der Größten Gruppenphänomene überhaupt. Bewundert wird, wer viel Geld hat – ohne zu sehen, dass da womöglich eine Illusion angebetet wird. Wie angepasst müssen die sein, die viel Geld haben? Glaubt irgendwer, man könnte viel Geld haben, ohne Regeln befolgen zu müssen, oder wenigstens ein Spielfeld zu betreten, das nicht selbst geschaffen wurde? Ist es nicht interessant, dass da all die Legenden herrschen, wie man sich verhalten müsse, um Geld zu verdienen, aber kaum eine Stimme jemals erwähnt, dass der wesentliche Punkt des Geldspieles die Anpassung ist? Spiele mit, und du wirst belohnt. Weigere dich mitzuspielen, und du wirst ignoriert.

 

Da sind Alternativen zu Geld und Lüge. Natürlichkeit. Das pure Lebensmysterium, das aus Wundern und Staunen besteht. Es ist ebenso real wie jedes andere Glaubenssystem. Nur befindet man sich (noch) ziemlich allein in diesem System, weil die meisten Zweibeiner vor allem das fressen, was sie kennen. Bzw. womit sie ihr Leben lang gefüttert wurden. Obwohl wir alle gelernt haben, dass Glauben Berge versetzt, glauben daran nur wenige. Wie tief dieser Glaube geht, merke ich täglich, wenn ich versuche Bilder in mir zu erträumen, die Wunder möglich machen. Sie stoßen an Grenzen fremd geprägten Realismusglaubens. Sogar bei mir.

 

Was es dazu braucht, sich der Wahrheit anzunähern, wird mir täglich deutlicher. Täglich stellt sich mir die Frage, ob ich stark genug sein kann, die damit verbundenen Aufgaben zu bewältigen. Die Lüge loslassen, heißt auch, manche Bequemlichkeit loszulassen. Beziehungsweise die Idee der Bequemlichkeit um Varianten zu ergänzen, die nicht in der Werbung verkauft werden. Ja, ich lieb sie auch, die Bequemlichkeiten, die geschaffen wurden, um dem Gegenwind des Lebens eins auszuwischen. Nur sind mir die Bequemlichkeiten nicht so wichtig, dass ich deshalb die Illusion weiter praktizieren und füttern möchte. Also übe ich täglich das Träumen. Bilder und Taten zu erfinden, die nicht im trendy Luxusvideo des Superstars verbreitet werden. Und wenn das Geld schwindet, und die Angst die Krallen wetzt, und die Sicherheit sich anbiedert, und das Scheitern sich am wenigsten ruhmreich anfühlt, dann erst recht. Dann bin ich erst recht aufgefordert an das zu glauben, was meine Wahrheit ist. Wenn ich daran zugrunde gehen sollte, dann ist das eben so. Aber diese Hülle geht dann frei und unversklavt, und als Sieger über die Lüge.

 



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