Katharsis Tage

 

 Ich wurde groß in einer Gesellschaft, in der „Nächstenliebe“ gepredigt wurde. Wohlgemerkt: „Nächstenliebe“ - nicht Selbstliebe. Damit verbunden, Ideale von Aufopferung für andere, und Misstrauen gegenüber aller Lebensfreude.

 

In einer solchen Gesellschaft aufzuwachsen, bringt ein gewisses Maß an Selbstverleugnung mit sich. 

Es ist schon faszinierend, was man alles nicht tun soll, in dieser Gesellschaft.  Was man alles machen, und was alles lassen soll..! Sagenhaft! Da kann einem manchmal das Lachen irgendwo steckenbleiben. Ich könnte eine lange Liste machen, was alles verboten ist, und was alles zu befolgen ist, aber frag dich einfach selbst, wann und in welchen Augenblicken der Druck der edlen Gesellschaftstabus dir die Laune verdirbt. Wann du dich mies fühlst, nur weil du den Fremderwartungen oder deinen Erwartungen nicht entsprechen kannst.

Von allen Gurus der albernen Geschichte, waren da nur Osho, und ein paar Wochen davor, Diogenes, die sich für ein Ausleben der "niedersten" Instinkte aussprachen. Die zum Beispiel Sex nicht verurteilten, sondern als Aspekt der Heilung sahen. Weiter gedacht, gibt es noch viel mehr Bereiche als Sex, in denen wir mit Regeln begrenzt sind – und gut daran täten,  zu tun, was verboten ist. Ich rede hier nicht von Mord, Vergewaltigung oder Zerstörung an anderen. Katharsis geht nicht auf Kosten anderer. Ich rede von ritueller Selbstschändung.

Ja, du hast richtig gelesen. Selbstschändung.

 

Wellness ist eine tolle Sache – aber manchmal brauche ich etwas anderes. Die Heilung im Exzess. Über viele Jahre hatte ich dazu ausreichend Gelegenheit in meinem Tempel des Exzesses, dem KitKatClub in Berlin. Selbst wenn ich clean wie ein Baby dort einritt, gab es unendliche Möglichkeiten mich zu beschmutzen, und meinem Körper einen Ausnahmezustand zu bescheren. Verbunden mit Drogen, Lärm, Gestank, durchgeknalltem Rumzappeln, und sinnlosem Sex ergab sich daraus eine Katharsis, wie sie eigentlich im kleinsten Dorf wenigstens einmal wöchentlich angeboten werden sollte. Stattdessen haben wir Kirchen, wo die Leute rumsitzen und Worte nachbeten oder -singen, die sie in eine Art scheinheilige Hypnose versetzen. . Oder Yogagruppen, wo sich alle der süßen Illusion von Erleuchtung durch Aktivität hingeben, und unglaublich spirituell fühlen, nur weil sie gemeinsam geschäftig sein können. Sie alle predigen irgendwelche Ideale, mit denen man sich schön selbst befriedigen kann. Ja, wir sind schon alle ganz nah dran an der Erleuchtung...

Bei allen edlen Ansprüchen, die ich an mich habe (wie fast alle Leute in modernen Gesellschaften) ist es für mich unerlässlich wenigstens manchmal etwas hochgradig Dämliches zu tun. Dazu ist alles geeignet, was in irgendeiner Weise gegen die selbst auferlegten heiligen Ideale stößt. Idealerweise mache ich das mit mir klar, und achte darauf, dass niemand verstrickt wird – denn diese Energien sind riskant. Oder würdest du in einem Film sitzen wollen, wo sich jemand willentlich mit Zigaretten, Junkfood, sinnentleertem Gewichse, unbefriedigendem Ficken, Jämmerlichkeit, selbstmitleidigem Ächzen und Stöhnen, wütendem Rumgefluche und Rumgefurze, und übelsten Gedanken auspeitscht?

 

Nur gibt es einen Nebeneffekt, wenn ich wenigstens einmal im Monat einen solchen Tag erlaube.

 

Erstens wache ich am nächsten Tag sanft wie in Lämmchen auf. Ich fühle mich ähnlich gereinigt, wie nach manchem KitKat Besuch. Hab ein Lächeln im Gesicht, und einen erstaunlich durchgespülten Verstand. Fühle mich leicht wie eine Feder und bin wieder bereit meinen edlen Weg als SuperVigor zu gehen.

 

Zweitens nimmt eine solche Katharsis Druck von mir. Es ist, als ließe ich mich einmal kurz vom ganzen Gewicht der (Selbst)Erwartungen zerquetschen – und ploppe dann unter dem Daumen gestärkt hervor.

 

Bis heute weiß ich nicht, was die Auslöser für solche Katharsis Tage sind. Auf den Mond kann ich es nicht schieben. Ich weiß nur, dass ich mich nicht darum kümmern brauche. Ich wache einfach manchmal auf, und es ist klar: "Ah! One of these days!" Kündigt sich ein solcher Tag an, bin ich gut beraten, dem nachzugeben – denn dagegen anzukämpfen führt nur dazu, dass das Leben irgendwann einen Katharsis Urlaub bestimmt. Welcher für die Mehrzahl aller braven Bürger im Krankenbett oder Krankenhaus stattfindet. Wenn es dir garantiert nicht in den Kram passt. Wählst du dir keinen Katharsis Tag, bestimmt ihn das Leben für dich.

 

Wann hattest du zuletzt einen Katharsis Tag?

(Vigor Calma, 2016, für M.)



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