Gewalt war gestern
Von Vigor Calma

Tims Weg in den Kindergarten war ihm inzwischen bekannt. Er war kurz davor seinen 5ten Geburtstag zu feiern, und war ein aufgeweckter Junge. Er konnte sich Dinge merken, die sich für andere Kinder erst Jahre später erschließen würden. Obwohl er vieles nicht verstand, was ihm Erzieherinnen und andere Kinder im Kindergarten erklärten, ging er gerne dorthin. Weil er gerne dort war, hatte er sich schon vor Wochen den Weg gemerkt. Trotzdem genoss er es, wenn seine Mutter ihn brachte und abholte. Vor dem Kindergarten freute er sich, die warme, führende Hand seiner Mutter zu spüren, und auf dem Rückweg erzählt er seiner Mutter all die Abenteuer, die er an einem Tag erlebt hatte.

Der Weg zum Kindergarten führte an einem Bach entlang, der das Dorf von Norden nach Süden durchschnitt, und im Zentrum des Dorfes in einen breiten Fluss mündete. Von dem Heim seiner Eltern war nur eine Straße zu überqueren, und an einer gewaltigen Kastanie bogen sie links in die Strasse neben dem Bach.

Jeden Morgen gab es viel zu entdecken. So viel wie er auf dem Rückweg redete, so viel gab es jeden neuen Tag auf dem Hinweg zu sehen.
An diesem einen, speziellen Montagmorgen, wartete unter der Kastanie eine Überraschung der besonderen Art. Da war ein Berg aus Sperrmüll aufgetürmt. Tim ließ sich von seiner Mutter erklären, dass alle drei Monate die Bewohner der Mietshäuser ihren Sperrmüll raus tragen konnten, damit er abgeholt werden konnte.

"So viel Müll", sagt Tim staunend, während er sich mit seiner Mutter diesem Berg aus zerlegten Möbeln, Wäschesäcken, durchgelegenen Matratzen und verschiedensten Brettern näherte. Einige Schritte vor dem Sperrmüll entdeckte Tim etwas, das überhaupt nicht ins Bild passte. Da lehnte an einer Spanplatte ein brauner Plüschteddy. So wie er da saß, machte er den Anschein, dass er nach einer Bergwanderung einen kleinen Halt machte, und sich ausruhte. Tim bekam große Augen, denn dieser Teddy war das liebste und süßeste Wesen, das er in seinem jungen Leben gesehen hatte. Tim störte sich nicht daran, dass dem Plüschteddy ein Auge fehlte, und aus seinem offenen Bauch Stroh quoll. Tim wusste nicht viel über Verletzungen und Schmerzen. Er kannte nur das Wunder der heilenden Liebe seiner Mutter, die mit ihrer Aufmerksamkeit und einem bunten Pflaster jede Schürfwunde an einem Knie heilen konnte. Hätte Tim mehr über die Welt und das Leben gewusst, hätte er erkannt, dass der Teddy schwer verwundet war, und nicht da saß um sich auszuruhen, sondern um zu sterben. Er war schwer verwundet, aber nicht tot. Mit leiser, sanfter Stimme flüsterte er:

"Nimm mich mit".
Ohne eine Sekunde zu zögern sagte Tim:
„Au ja, lass ihn uns mitnehmen!". Tims Mutter sah erst Tim, dann den zerfledderten Teddy an. Tims Mutter sah weder einen verwundeten Teddy, noch einen zukünftigen Freund in diesem ausrangierten Spielzeug. Sie sah nur ein kaputtes Spielzeug ohne Wert, das zu Recht auf dem Müll lag.
"Aber der ist doch kaputt", wandte sich die Stimme der Vernunft an Tim. Tim verstand nicht. Er hörte nur, wie der Teddy, dieses Mal ein wenig leiser und schwächer, flüsterte:
"Nimm mich mit".
"Ich will den mitnehmen", sagte Tim, und zog seine Mutter zu dem Teddybären.
"Aber du musst doch in den Kindergarten. Da kannst du ihn nicht mitnehmen".
Tim verstand wieder nicht. Wieso konnte er den Teddy nicht mitnehmen? Aber wenn seine Mutter das sagte, dann hatte sie bestimmt Recht. Seine Mutter war eine Göttin, und sie wusste alles.
"Pass auf, wenn er heute Abend noch da ist, dann nehmen wir ihn mit. Was sagst du dazu?"
Ungeachtet der schweren Verletzungen des Teddys, sagte Tim "Ja", und setzte den Weg zum Kindergarten fort.
Im Kindergarten dachte er jedoch nur an den Weg zurück, und den Teddy mitzunehmen. Er wusste, sie würden gute Freunde.

Als am Nachmittag der Kindergarten vorbei war, wurde Tim von seiner Mutter abgeholt. Doch heute war etwas anders. Unter ihrem Arm hielt sie den Teddy. Auf wundersame Weise war er geheilt.
"Ich habe ihn heute Morgen mit nach Hause genommen. Und weil er nur ein Auge hatte, hab ich ihm zwei neue Augen geschenkt. Und ich hab seinen Bauch wieder heil gemacht." Tims Mutter war eine große Zauberin. Sie hatte dem Teddy den Bauch zugenäht, und zwei runde, schwarze Knöpfe als Augen angenäht. Teddy blinzelte Tim zu und hatte das süßeste Lächeln, das sich Tim vorstellen konnte. Auf den ganzen Heimweg schwieg Tim. Er hielt Teddy in einem Arm, hielt mit der freien Hand die Hand seiner Mutter, und hatte nur Augen für Teddy.

Diese Nacht schlief Tim nicht allein. Sicher, da war seine Schwester im Bett, auf der anderen Seite des Zimmers, nur getrennt durch eine Schrankwand. Diese Nacht lag Teddy neben Tim. Und nach langer, langer Zeit fühlt er sich wieder geborgen. Er hatte keine Worte für Geborgenheit, und hätte auch nicht sagen können, dass ihm Nähe gefehlt hatte. Nun, da Teddy neben ihm lag, ging es Tim unerklärlich gut. Er fühlte sich geborgen und sicher. Er hatte auch noch kein Wort für Liebe - doch er liebte Teddy bereits. Er hatte ihn vom ersten Augenblick geliebt.

Für die nächsten Wochen wurde Teddy ein ständiger Begleiter. Tim durfte ihn weiter nicht in den Kindergarten mitnehmen, doch Zuhause machte Tim nichts mehr ohne Teddy. Er saß dabei, wenn Tim mit seiner Schwester spielte, er war dabei wenn Tim frühstückte, zu Mittag aß, beim Abendessen, beim Radiohören, und bei der gute Nachtgeschichte, die seine Mutter ihm vorlas. Weiter blieb jeder Tag ein Wunder an Überraschungen, und nun fühlte sich alles noch besser an, denn Teddy war dabei.

An einem weiteren Tag der Wunder, sagte Tims Mutter, dass sie zusammen ins Kino gingen.

"Was ist Kino?", fragte Tim.
"Das ist ein Raum mit ganz vielen Sitzen, wo du auf einer riesigen Leinwand einen Film ansehen kannst", erklärte seine Schwester, die ein paar Jahre älter war.
"Einen Film? Was ist ein Film?", fragte Tim.
"Lass dich überraschen", sagte Tims Mutter.

Am nächsten Tag, einem Sonntag, bereiteten sich Tim, seine Schwester und seine Mutter darauf vor, gemeinsam in eines der drei Dorfkinos zu gehen. Tim wusste, dass er wo hin gehen würde, wo er noch nie gewesen war. Ein großes Abenteuer für ihn. Er fühlte sich völlig sicher, weil seine Schwester und seine Mutter ihn begleiten würden.  Als Tim bereits fertig angezogen und seine Schuhe selbst zugebunden hatte, hörte er Teddy flüstern:

"Nimm mich mit". Er hörte diese Stimme deutlich und klar, als hätte seine Mutter zu ihm gesprochen. Nur war sie dieses mal eindringlich und stark. Sie duldete keinen Widerspruch. Also nahm Tim Teddy unter den Arm und weder Schwester noch Mutter äußerten Einwände. Vom Augenblick, dass Teddy in Tims Arm gelandet war, strahlte er ein Licht aus, das Teddy und Tim wie in einer Blase einhüllten. Tim verstand das nicht, doch es war ihm ebenso natürlich, wie ein Stuhl oder Baum. Er war sicher, dass auch seine Schwester und Mutter in dieses Licht gehüllt würden, wenn sie Teddy hielten.

Gemeinsam wanderten sie durchs Dorf. Es ging leicht bergauf. Das bedeutete, dass dieses "Kino" im oberen Teil des Dorfes lag. Irgendwann waren sie da. Da war eine große Glastür, und neben diesem einladenden Eingang, gab es an Wänden mehrere Schautafeln. In einem hing ein Bild von einem Reh und daneben war ein kleines Kaninchen. Darüber war ein Name geschrieben.

"Das ist Bambi", sagte Tims Schwester. "Den Film schauen wir uns heute an". "Bambi...", wiederholte Tim staunend, und fand, dass Bambi kein bisschen weniger lieb war, als Teddy.

Dieses Kino war ein beeindruckender Platz. Tim hatte nichts Vergleichbares gesehen. Die Farben der Stofftapeten. Die Lichter. Die Größe. Diese unglaublich vielen Stühle! So viele Menschen! Mütter mit Kindern. Sie alle setzten sich wie er in eine Reihe, und dann wurde gestaunt. Kinderstimmen. Flüsternde Erwachsenenstimmen. Alle Stühle waren einem großen, roten Vorhang zugewandt, der kunstvoll drapiert und von oben angeleuchtet wurde. Dieser Vorhang zog nach und nach alle Anwesenden in den Bann, aber besonders den kleinen Tim. Er spürte eine Kraft von diesem Vorhang ausgehen, dass er glaubte dass der Vorhang sich manchmal bewegte. Er war sich sicher, dass sich der Stoff bewegte. Es war, als wären in diesem Vorhang tausende Erwartungen neugieriger Kinobesucher gespeichert, und sie alle sprachen zu Tim. Dann ging das Licht aus, und der Vorhang öffnete sich. Nun bewegte er sich tatsächlich und machte den Blick frei auf eine weiße Leinwand. Dann fiel ein Lichtstrahl auf diese Leinwand und bewegte Bilder tanzten über die Leinwand. So groß. So leuchtend. Musik war zu hören. Eine Stimme, die von überall zu kommen schien, und den ganzen Raum erfüllte. Tim vergaß die Blase aus Licht, die ihn und Teddy umgab und tauchte in eine Geschichte. Von einem Reh. Dieses Reh wurde gejagt. Mit ihrem Kind. Das war schrecklich. Wieso taten Menschen so etwas? Dann wurde die Mutter erschossen und Tim schaute ängstlich zu seiner Mutter, die gebannt auf die Leinwand starrte.

"Hab keine Angst", sagte Teddy. Tim sah Teddy an, während das junge Kitz mit Namen Bambi, durch den Nebel irrte. "Hab keine Angst. Die Mutter ist einfach an einem anderen Ort. Das passiert überall. Tiere kommen und gehen. Menschen kommen und gehen. Alles kommt und geht. Auch dieser Film ist gekommen und geht. Solange er da ist, genieße ihn. Hab Spaß, kleiner Tim".

Sofort hatte Tim den Tod der Rehmutter vergessen und tauchte in das abenteuerliche Leben eines Rehkitzes, wie es aus der Fabrik von Walt Disney kindertauglich gemacht worden war. Teddy ließ sich jedoch nicht täuschen. Er kannte den Film. Er kannte ihn seit vielen Jahrhunderten, und hatte viele Kinder mit seinem Ring aus Licht geschützt. Sein Moment käme. Er hatte Tim ausgesucht. Er fühlte, Tim würde verstehen. Tim war nicht wie andere waren, und sah auch nicht was andere sahen.

Nach ewigen Zeiten in den Wäldern, war Bambi endlich ein erwachsener junger Hirsch. Er hatte sich in eine junge Hirschdame verliebt, und wie es die Walt Disney Fabrik wollte, wurden die Liebenden von wilden, wütenden Jagdhunden verfolgt. Eine düstere, erschreckende Jagd, mit dramatischer Musik untermalt. Überlebensgroß und beeindruckend.

"Hab keine Angst", sagte Teddy sanft. "Das ist nicht echt. Das ist ein Film. Es gibt im wahren Leben keine solchen Hunde." Da rissen die Filmhunde direkt vor Tim ihre Mäuler auf und zeigten böse, scharfe Zähne, bereit alles zu beißen. "Sie können nicht beißen", sagte Teddy. "Aber es sieht so echt aus", sagte Tim atemlos. Da hielt Teddy den  Film kurzerhand an.

"Das ist ein Film, lieber Tim. Er wurde gemacht, um dir eine Geschichte zu erzählen. Leider verstehen Erwachsene nicht mehr, wie ihre Kinderherzen waren. Sie glauben, sie müssten etwas einbauen, was spannend ist. Das ist nicht leicht zu erklären. Erwachsene glauben meist nicht mehr an das Wunder. Sie brauchen Spannung um zu spüren, dass sie leben. Sie sind nicht so weise wie du".

"Was heißt "weise"?", fragte Tim.
"Es heißt, dass du natürlich bist. Dass du die Welt siehst, wie sie ist."
"Erwachsene tun das nicht?"
"Sie verlernen es."
"Das ist traurig", sagte Tim mitfühlend.
"Ja. Es ist traurig, dass die, die es vergessen haben, ihren Kindern beibringen, wie man vergisst. Ich bin hier, um dich zu erinnern. Ich bin hier, um dich daran zu erinnern, dass da nichts ist, wovor du Angst haben musst. Diese Hunde sind nicht echt. Diese Jagd ist nicht echt. Nicht mal Bambi und Klopfer sind echt. Genau genommen, ist nicht mal die Leinwand echt, aber das erkläre ich dir wann du älter bist. Vorerst musst du nur eines wissen. Diese Jagd ist gemacht, um bei dir Spannung zu erzeugen. Körperliche Anspannung. Das ist nicht gesund. Du kannst etwas ausprobieren. Wie schauen uns nun diese Jagd gemeinsam weiter an, und atmen dabei gleichmäßig ein und aus. Ich atme mit dir mit. Dann schau dir an, ob die Jagd noch immer beängstigend für dich ist."
"Gut", sagte Tim, und Teddy ließ den Film weiterlaufen. Bambi wurde an einem Felsen in die Enge getrieben, half seiner Rehfreundin, und kämpfte mutig gegen die Hunde. Er gewann diesen Kampf, und nicht viel später ging das Licht an, und Tim verließ mit Mutter, Schwester und Teddy das Kino.

"Wie war das?", fragte Teddy.
"Das Atmen?"
"Ja. Hat es dir geholfen?"
"Ja, sehr gut. Ich hab viel Spaß gehabt, und keine Angst."
Teddy blinzelte zufrieden.
"Sag, woher weißt du das? Das mit dem Atmen..."
"Ich weiß viel", antwortete Teddy. "Ich bin zu dir gekommen, um dir zu helfen zu verstehen".
"Das ist lieb", flüsterte Tim seinem Freund zu und küsste ihn. Seine Schwester und seine Mutter hatten das gesehen und lächelten sich an. Sie hatten nichts gehört. Alles was Tim und Teddy sprachen, war nur für besondere Ohren gedacht.

 

In den Tagen nach dem Bambifilm war Tim sehr ruhig, ließ sich von seiner Mutter immer neues Papier geben, um damit Rehe, Kaninchen, und Teddy zu zeichnen. So sehr er sich anstrengte, nur Teddy sah meistens wie Teddy aus. Er liebte Teddy so sehr, dass er das Bild seines Freundes tief verinnerlicht hatte. Darum malte er bald nur mehr Teddybären. Teddybären auf Spielplätzen, Teddybären vor Häusern, Teddybären vor Bäumen, und Teddybären auf Bergen. Er malte auch gerne sich, seine Familie - und Teddy.


Bis die nächste ungewöhnliche Überraschung ins Leben von Tim getragen wurde. In Form eines riesigen, großen Kartons. In dem Karton war eine große Kiste, die aussah, wie aus blank poliertem Holz. Es gab ein „Vorne“ und „Hinten“ bei dieser Kiste. „Hinten“ war schwarzes Plastik mit Schlitzen, und „Vorne“ war eine gebogene, graue Glasfläche. Neben der Glasfläche waren ein paar glänzende, silberne Rädchen mit Zahlen. Andere Familien hatten bereits einen Fernseher. Tims Vater hatte dieses Gerät gekauft, und es war auch seine Aufgabe, dieses Wunderwerk der Technik aufzustellen. Als er es auf einen niedrigen Schrank platziert hatte, steckte er ein Stromkabel ein, und drückte einen Knopf unter den Rädchen. Tims Vater drehte an den Reglern, und auf magische weiße wuchs auf dem Bildschirm ein weißer Punkt, wurde größer, füllte den ganzen Bildschirm aus, und dann erschien ein Testbild. Es war Nachmittag. Die erste Sendung würde erst am frühen Abend ausgestrahlt. Tim und Teddy sahen zu, und obwohl das Testbild nicht sonderlich aufregend war, starrten alle gebannt auf dieses schwarzweiße Bild mit geometrischen Mustern und grauen Flächen unterschiedlicher Helligkeit.

"Das ist ein Fernseher", erklärte Teddy.
"Ist das so was wie Kino?"
"Kann man so sagen. Du kannst darin Filme sehen. Aber nicht in Farbe, wie im Kino. Da kommt erst. Das ist erst der Anfang. Du wirst staunen, wie beeindruckend es ist, bewegte Bilder mit Ton und Musik zu sehen."
Tim freute sich, und konnte es gar nicht abwarten.

Am ersten Tag sah er dann auch viel, was ihn vollkommen überwältigte. Da waren Nachrichten, und Ansager, da waren Berichte, und immer waren da verkleinerte Menschen hinter der Glasscheibe, und machten etwas. Manchmal war es lustig, manchmal war da Musik, aber am meisten mochte Tim die Werbung. Sie war kurz, mit lustigen Liedchen und Reimen verbunden, und alle paar Werbesendungen tauchten lustige, knollige Trickfiguren auf, die irgendwelchen Blödsinn machten. Sie hatten putzige Mützchen auf, und zogen Tim vollkommen in ihren Bann. Sie waren so niedlich, dass er darüber sogar manchmal vergaß Teddy anzusehen - doch das machte ihm nichts aus. Teddy wusste, dass ihre Freundschaft erst begonnen hatte. Dann kam etwas, dass Tim vollkommen aufsaugte. Hätte er in den Fernseher kriechen können, hätte er es gemacht. Nach dem Abendessen gab es eine Sendung, die sich "Western von gestern" nannte. Da gab es Cowboys und Indianer, und alles war unglaublich spannend. Jede Folge endete damit, dass der Held in einer bedrohlichen Situation steckte, und die nächste Folge in der Woche darauf knüpfte daran an, und zeigte, wie der Held sich aus der Situation rettete. Das war selten logisch, beschäftigte Tim jedoch manche Tage, weil er mit den Helden mitfieberte. Er wusste es nicht, aber er war hypnotisiert worden. Die Kombination vonbewegten Bildern und Klang erzeugte einen magischen Sog. Niemand in Tims Familie hätte es erkannt oder gesagt, doch sie hatten nun einen Altar, vor dem sich sich jeden Tag zum andächtigen Gebet niederließen. Stundenlang.

"Das gefällt dir, nicht wahr?", sagte Teddy. Tim starrte in die Flimmerkiste und nickte. Er war zu gebannt, um sprechen zu können. "Stört es dich nicht, dass die sich alle weh tun?", fragte Teddy. Erst im Bett antworte Tim:

"Aber die Bösen müssen doch bestraft werden", sagte Tim.
"Und wer ist böse?"
"Die, die anderen wehtun“, sagte Tim.
"Die Helden tun den Bösen auch weh. Ist das etwas anderes?", fragte Teddy.
"Eigentlich nicht. Eigentlich sind die Helden genauso gemein, wie die Bösen. Aber sie sind die Helden", fand Tim.
"Du meinst, sie sind im Recht?  Sie dürfen das tun, weil sie anderen Menschen helfen, indem sie Böse bestrafen?"
"Ja. Du würdest mich doch auch beschützen, Teddy."
"Das würde ich. Doch nicht wie in den Filmen. Ich bin von einer anderen Art. Ich muss niemandem wehtun, um dir zu helfen. Klingt das gut?"
"Ja, sehr. Du meinst, mir kann nichts passieren, und keine bösen Leute kommen zu mir?"
"Nicht solange ich bei dir bin. Ich wünsche mir nur, dass du dir genau ansiehst, was die Schauspieler in den Filmen tun. Frage dich immer, ob es nicht eine andere Möglichkeit gegeben hätte. Und wenn es sie gegeben hätte - warum wurde diese Möglichkeit nicht gezeigt?"
"Auch bei Zorro?"
"Auch bei Zorro."
"Und wenn es keine andere Möglichkeit gab?", wollte Tim wissen, weil er sich an Sendungen erinnerte, in denen der Held sich nur mit Gewalt hatte befreien oder retten können.
"Dann erinnere dich, dass diese Filme nicht echt sind. Dass sie von Menschen geschrieben und gefilmt wurden. Warum haben sie die Geschichte so geschrieben, und nicht anders?"
"Du meinst, wie die Jagd in Bambi?"
"Ja. War sie nötig? Machte sie die Geschichte besser? Hat es dir Spaß gemacht, Angst zu haben?"
"Ich hatte keinen Spaß an der Angst."
"Ja, Angst macht keinen Spaß", sagte Teddy, und merkte, dass da noch einiges auf ihn und seinen Schützling zukäme.
"Ich wünsche dir eine gute Nacht", sagte Teddy.
"Ich dir auch", sagte Tim, kuschelte sich an Teddy, und schlief sofort ein.

Innerhalb weniger Monate hatte die kleine Wunderkiste das Leben in Tims Familie verändert und fest im Griff. „Fernschauen“ war zu einem festen Bestandteil des Familienlebens geworden. Wenn die erste Sendung begann, setzten sich Mutter, Schwester, Tim und Teddy vor die Kiste. Eine Stunde später kam der Vater von der Arbeit nach Hause, Mutter wärmte das Essen auf, das se tagsüber vorbereitet hatte, alle aßen gemeinsam vor dem Fernseher, schauten Werbung, Trickfilme mit Pink Panther, oder Stan und Olli, und abschließend durfte Tim noch die letzte Werbung anschauen. Mit putzigen Werbeunterbrechungen, gemacht, um Kinder, die Konsumenten von Morgen, auf all die schönen Produkte zu prägen, die sie einmal glauben zu brauchen werden. Dann brachte die Mutter Tim ins Bett. Seine Schwester durfte, weil sie älter war, eine Stunde länger mit ihren Eltern schauen.

Die übliche Geräuschkulisse, mit der Tim einschlief, waren Stimmen der Eltern, und gedämpfte Stimmen aus dem Fernseher, die ihn in den Schlaf begleiteten. Das Kinderzimmer ging von der Küche ab, und direkt gegenüber der Tür zum Kinderzimmer, war das Wohnzimmer. Es ging ebenfalls von der Küche ab. Die Küche war sozusagen ein Lärmdämpfer. Alle Geräusche aus dem Wohnzimmer drangen wie ferner Gesang zu Tim. Es hatte etwas Beruhigendes. Das gab Tim das Gefühl, nie allein zu sein. Er wusste so, wo seine Eltern waren, und meist war er schon eingeschlafen, wenn seine Schwester über ihn ins Etagenbett kletterte.


Tims Eltern waren nicht reich. Sie hatten viel Herz, und noch mehr Mut, doch Geld hatten sie wenig. Es war der Fluch dieser Familie. Es fehlte überall. Die Wohnung, in der sie lebten, war klein, hatte Ofenheizung, Außenklo, und das Kinderzimmer hieß nur so, weil die Kinder dort schliefen. Es erinnerte wenig an die Anwesenheit von Kindern. Es war nicht bunt, es hatte weder fröhliche Kindertapeten, noch bergeweise Spielsachen. Wenn etwas in diesem Zimmer auffiel, dann war es der Schrank des Vaters. Im Wohnzimmer hatte das dunkle, braune Holzding keinen Platz mehr gefunden. Darum stand er im Kinderzimmer, direkt gegenüber der Tür.

Manchmal in der Nacht, im Halbdunkel des Zimmers, das nur vom Licht einer fernen Straßenlaterne leicht erhellt wurde, verwandelten sich Gegenstände oder aufgehängte Kleidungsstücke in sonderbare Wesen. Anders als Teddy bewegten sie sich zwar, doch sagten nie ein Wort. Es haftete ihnen etwas Unheimliches an. Manchmal wollte Tim sie fragen, wer sie waren. Aber weil sie schwiegen, und untereinadner nicht redeten, hielt Tim sie für stumm. Es war kein heiteres Schweigen. Sie schienen etwas auf der Seele zu haben. Warum sonst, wären sie zu ihm ins Kinderzimmer gekommen? Doch mit Teddy an seiner Seite, konnte nichts passieren. Er kuschelte sich einfach fester an seinen besten Freund, und kurz darauf schlief Tim tief und fest.


Die Welt der Wunder eröffnete sich jeden Tag aufs Neue. Doch nun waren da nicht nur die reale Welt, der Kindergarten, die wenigen Freunde dort, seine Schwester, seine Eltern, die Berge, die Bäume, die Bäche, sondern zusätzlich zu den Geschichten, die Mutter aus Büchern hervorzauberte, waren da auch Filme. Filme faszinierten Tim, und manches Mal ging er mit seiner Schwester ins Kino, um dort Winnetou-Filme anzusehen. Davon konnte er nie genug bekommen. Immer wenn er ins Kino ging, zauberte Teddy zuvor das Schutzlicht um Tim, und so kam es, dass er selbst in grausigsten Momenten nie Gefahr oder Angst spürte. Er sah die Filme, wäre auch gerne auf Pferden geritten, hätte auch gerne mit Pistolen geschossen, mit Pfeil und Bogen, mit Speeren oder Messern hantiert. Tauchte in fremde Welten, hatte keine Vorstellung, wo Amerika sei, und ahnte nicht, dass die Winnetoufilme in den Yugoslawischen Bergen gedreht worden waren. Nicht unweit von den Bergen, wo er mit seinen Eltern schon in Ferien wandern gewesen war.

Im Leben von Tim gab es viel Routine. Er liebte diese Routine. Wenn es heißt, dass Kinder Routine bräuchten, dann traf das wenigstens auf Tim zu. So sicher, wie er morgens aufwachte, so sicher gab es Frühstück, so sicher brachte ihn Mutter in den Kindergarten, so sicher spielte, und malte er dort, so sicher wurde er abgeholt, durfte fernsehen, bekam sein Abendessen, und schief glücklich und zufrieden ein. Es stellte sich nicht die Frage nach Glück oder Unglück, Arm oder Reich, gut oder schlecht. Alles war ein einziges Wunder. Bis zu diesem unseligen Wochenende, wo der Abgrund in Tims Leben kam. Niemand hatte ihn vorgewarnt. Nicht mal Teddy, der sonst alles wusste.

Es war Nachmittag. Tims Vater hatte sich vor dem Fernseher eine Pfeife angemacht, und schaute einen Film. Er hatte nichts dagegen, dass sich Tim dazu setzte. Mutter und Schwester waren auch da, und schauten gebannt in die Mattscheibe. Vielleicht war es die Anwesenheit der ganzen Familie, die Tim vergessen ließ, Teddy zu holen, der noch im Bett lag. Tim verstand nicht ganz, worum es ging. Da waren Menschen in sonderbarer Kleidung, in sonderbaren, glatten Räumen. Alles war ganz und gar anders, als er es von Zuhause oder aus dem Dorf kannte. Es gab keine Cowboys und Indianer. Keine Pferde. Keine Zugüberfälle. Da waren seltsame Fluggeräte, mit denen diese Leute durch den Sternenhimmel flogen, und auf einem fremden Planeten landeten. Tim sah, wie das Raumschiff in eine düstere Gebirgslandschaft sank, die so überhaupt keine Ähnlichkeit hatte, mit der belebten Natur, die sein Dorf umgab. Die Musik war bedrohlich. Dann zogen die Astronauten ihre Raumanzüge an, und machten sich auf den Weg, den Planeten zu erforschen. Tim verstand nicht was da vor sich ging, aber noch weniger, was in ihm vor sich ging. Etwas ging von diesen Bildern aus, das bedrohlicher und fürchterlicher war, als alles was er je zuvor irgendwo gesehen hatte. Dann drängte sich die Musik in den Vordergrund. Tims Herzschlag erhöhte sich, doch wurde im sonderbar kalt. Die Astronauten fanden einen Krater. Für Tim eine dunkle, schwarze Höhle, die tief in die Erde reichte. Als die Astronauten sich an den Abstieg machten, hielt es Tim nicht mehr aus.
"Das gefällt mir nicht mehr", sagte er, und alle schauten ihn erstaunt an. Tim hatte gedacht, dass seine Familie ebenso empfand, doch sie drehten ihre Köpfe wieder weg und sahen den Film weiter an.
"Das macht mir Angst", sagte Tim, jetzt etwas lauter.
"Das ist nur ein Film", sagte seine Schwester.
"Ich will das nicht mehr sehen. Schaltet um", sagte Tim lauter, und glaubte, seine Liebsten würden ihn verstehen. Alle wunderten sich, doch niemand stand auf, um am Drehregler einen anderen Kanal zu wählen. Da geschah etwas, das sich Tim nicht erklären konnte. Er wurde lauter und lauter, begann zu schreien, und hörte erst wieder auf, als sein Vater in einen anderen Kanal gewechselt hatte. Augenblicklich ging es Tim besser.  Es lief ein Winnetou-Film, den Tim noch nicht im Kino gesehen hatte. Da schossen Cowboys auf Cowboys, Indianer auf Cowboys, Cowboys auf Indianer, und alle brachten sich aus recht unerklärlichen Gründen um - aber das machte Tim keine Angst. Das kannte er schon.

Als Tim diese Nacht neben Teddy lag, fragte er:
"Was war das? Wieso hatte ich solche Angst?"
"Es tut mir leid. Ich habe dich gehört, aber konnte nicht zu dir kommen. Ich darf mich nicht zu erkennen geben.“
Tim fühlte, dass das nichts mit seinen Fragen zu tun hatte, und starrte neugierig in Teddys schwarze Knopfaugen. Er würde es schon erklären. Er hatte bisher alles erklärt.
„Es hat dich erschreckt, weil es so fremd war. Das war ein Film über die Zukunft. Wenn Menschen durch den weiten Sternenhimmel reisen."
"Können die das denn?"
"Oh ja. Sie sind dabei damit anzufangen. Kurz nach deinem Geburtstag ist ein Mensch auf dem Mond gelandet."
"Auf dem Mond? Wie ist er da hingekommen?"
"Mit einer Rakete."
"Waren das im Film auch Raketen?"
"Das waren Raumschiffe. Das ist, wie sich Menschen heute vorstellen, dass sie in der Zukunft durch das All reisen werden. Tatsächlich wird das auf andere Weise geschehen. Doch soweit sind sie noch nicht."
"Bist du aus der Zukunft?", fragte Tim.
"Ich bin aus der Zukunft. Ich bin aber auch von einem fernen Planeten."
"Sehen da alle so aus, wie du?"
"Wie ich? Wie ein Teddybär?" Teddy lachte. "Nein. Meine wirkliche Gestalt kannst du noch nicht begreifen. Ich habe eine Gestalt gewählt, die du lieben kannst. Nur so kann ich dich beschützen und dir etwas beibringen."
"Aha", sagte Tim. "Sieht es da, wo du herkommst, so aus, wie in dem Film?"
"Nein. Das ist, wie sich Menschen vorstellen, dass die Reise auf ferne Planeten wäre. Es gibt freundliche Planeten, die so schön und bunt sind, wie euer Planet. Sie haben Licht und sind voller Leben. Die Farben sind vielleicht prächtiger, aber vielleicht sage ich das nur, weil ich meinen Heimatplaneten so liebe. Vielleicht würdest du deine Heimat viel leuchtender finden."
"Aber ich weiß noch nicht, warum ich solche Angst hatte. Es ist da gar kein Böser in dem Film vorgekommen. Die Leute sind einfach nur eine Höhle runter geklettert..."
"...und du konntest nicht ertragen zu sehen, was als Nächstes passieren würde?"
"Ja. So war das. Ich hatte das Gefühl, dass gleich was ganz Schlimmes passieren würde. Ich wollte das nicht sehen."
"Das ist die Angst vor dem Unbekannten. Alle Menschen kennen das. Sie lieben, was sie kennen, und fürchten, was sie nicht kennen. Sie lehnen ab, was unbekannt scheint. Statt das Unbekannte anzunehmen und kennen zu lernen. Verstehst du?"
Tim schüttelte den Kopf. Er hörte zwar die Worte, doch er verstand nicht, was Teddy meinte.
"Das ist, weshalb ihr Schlösser an eure Türen macht. Ihr habt Angst, dass etwas Unbekanntes zu euch kommen könnte. Dass es in euer Reich eindringen könnte. Dass es euch stören oder verletzen könnte. Dass es euch etwas nehmen könnte. Und das ist verständlich. Menschen lernen gerade erst, dass sie in Frieden miteinander leben können."
"Du meinst wie Blutsbrüder? Wie Winnetou und Old Shatterhand?"
"Ja. So. Bloß, dass niemand mehr kämpfen müsste. Nicht mal die Helden. Du lebst in Frieden. Du hast dir deine Eltern weise gewählt. Es sind gute Eltern. Sie werden dir alles möglich machen, was du zum Wachsen brauchst. Nur haben sie nicht verstanden, dass das Böse nicht durch die Tür kommt. Es kommt auf eine andere Weise."
"Wie meinst du das?"
"Hast du die Gesichter in der Nacht schon mal gesehen?“

Tim nickte aufgeregt. Teddy kannte sie also.
"Ssie sind echt. Sie existieren wirklich. Nur nicht auf die gleiche Art wie du oder dein Zuhause. Sie können dir hier nichts anhaben. Dennoch sind sie da. So ist das auch mit allem, was dir schaden kann. Es muss nicht durch die Tür kommen. Es kommt vielleicht durch ein Buch. Oder durch einen Film. Es kann sogar durch dein Essen kommen. „Böse“ ist hierfür nicht das richtige Wort. Es ist schädlich", sagte Teddy sanft.
"Wie giftige Pilze?"
"Ja, ein sehr guter Vergleich. Pilze sind nicht schlecht oder böse. Sie sind Nahrung für manche Tiere, und Gift für andere Tiere. So ist das auch mit Filmen. Sie können dir ein Geschenk sein, aber sie können dich auch verderben".
"Wie wenn ich etwas Schlechtes gegessen habe?", fragte Tim.
"So ähnlich. Der Film der dir nicht gefallen hat, war nicht für dich gedacht gewesen. Ein paar Jahre später, hätte die Sache dich nicht beeindruckt."

Teddy wollte sich vergewissen, ob Tim begriffen hatte, doch der war eingeschlafen. Teddy wusste, dass ihm ein Fehler unterlaufen war. Dass Tim diesen Film nicht hätte sehen dürfen. Der Abstieg in den Abgrund hatte ihn für den Abgrund geöffnet. Teddy fragte sich, ob das unvermeidbar gewesen war. Eine überflüssige Frage, denn was nun folgen würde, entzog sich ein wenig dem Einflussbereich seiner magischen Fähigkeiten. Er kannte das bereits. Das war der Nachteil, an einem bewegungslosen Körper gefesselt zu sein. Teddy konnte sich nur vorbereiten, und wartete von diesem Samstag an, auf den Anfang.

Die Tage gingen, die Nächte gingen. Alles ging seinen gewohnten Lauf. Weiterhin verschlang Tim seine Nahrung aus Cartoons, Western, und Abenteuerfilmen. Teddy achtete darauf, dass die verborgenen Botschaften vorerst noch verborgen blieben. Es war offensichtlich, dass die Zeiten sich ändern würden. Es war unvermeidbar, dass ein reines Kinderherz beschmutzt werden würde. es war der Lauf der Dinge. Erst musste Tim das Tal durchwandern, ehe er zu dem Berg gelangen konnte, den er erklimmen würde. Teddy wusste von dem Tal. Teddy wusste nicht, wie das Tal beschaffen sein würde, das Tim durchwandern würde. Er wusste, dass Tims Schwester eine wichtige Stütze für Tims Herz würde. Er wusste, dass Tims Eltern voller Liebe waren. Nur hatten sie leider keine Schulung in Psychologie. Sie nahmen das gleiche Futter wie Tim zu sich, ohne die verborgenen Botschaften zu erkennen. Sie ließen sich manipulieren, und nannten das Unterhaltung. Sie folgten den Regeln, ohne sie zu kennen.  Tim war das unbeschriebene Blatt, auf dem alle ihr Autogramm hinterlassen wollten. So wie an den Kassen der Supermärkte Kinderfallen mit bunten Süßigkeiten warteten, gab es  Fallen, die es auf Tims Gefühle abgesehen hatten. Film um Film nahm Tim eine einfache, doch verheerende Botschaft in sich auf. Ohne es zu bemerken. Ohne dass seine Eltern es bemerkten.  Während Teddy sich darauf beschränken musste, sein süßes Teddylächeln zu lächeln und zu warten. Der rosarote Panther  veräppelte seine Verfolger, und Tim lachte. Stan und Olli ruinierten Häuser, Autos, Klaviere, und gaben sich gegenseitig auf die Melonen, und Tim lachte. Zorro rettete Menschen mit seiner Peitsche, und bestrafte Bösewichte und Tim träumte davon, zu sein wie Zorro. Mit einer schwarzen Maske. Mit einem Hut. Unbesiegbar. Gerecht. Mutig. Da wartete ein Leben auf Tim, und er wollte es als Held bestreiten. Wieder ging ein Tag vorbei, Mutter brachte ihn ins Bett, und wieder lauschte Tim in die Stimmen und Klänge aus dem Wohnzimmer. Teddy lag neben ihm, und spendete seine liebende Wärme. Die Dunkelheit deckte Tim zu.

Wach wurde Tim durch ein Geräusch. Er blinzelte in das Zimmer. Alles wirkte wie gewohnt. Das Licht war ein wenig ungewöhnlich, denn Tim konnte nicht herausfinden woher es kam. Er hätte seine Augen wieder schließen können, weiterschlafen können, doch da fiel ihm auf, dass seine Schwester noch nicht über ihm in der Metallkonstruktion schlief. Er lauschte durch die Küche ins Wohnzimmer. Er hörte den Fernseher. Er hörte seine Schwester mit seinen Eltern reden. Gedämpft. Wie er es kannte. Da war es wieder. Das Geräusch. Es kam vom Schrank, vom Kleiderschrank seines Vaters. Die Tür war einen Spalt geöffnet, und hatte sich kaum merklich bewegt. Tim bemerkte nicht, dass Teddy nicht da lag, wo er mit ihm eingeschlafen war. Er stand auf, und berührte in der Dunkelheit mit nackten Füßen den Boden. Er näherte sich neugierig, doch ohne besonderen Grund vorsichtig, auf den Kleiderschrank zu. Da war jemand drin. Irgendwer war im Kleiderschrank. Er dachte kurz an einen schlechten Scherz seiner Schwester. Die lachte jedoch gerade im Wohnzimmer. Tim drehte sich um und sah durch die geöffnete Kinderzimmertür, durch die Küche, durch die Wohnzimmertür, und sah dort seinen Vater, seine Mutter, und seine Schwester sitzen. Sie sahen fern, und hatten nicht bemerkt, dass Tim aufgestanden war. Tim drehte sich wieder um, und die Schranktür stand ein wenig weiter offen. Tim hatte nie in den Schrank seines Vaters geschaut. Ein unbekanntes Land. Aus der Schwärze des Raumes erklang ein tiefes Flüstern, das seinen Namen rief. "Tim". Etwas im Schrank rief ihn, und diese Stimme ähnelte nicht der freundlichen, sanften Stimme von Teddy. Sie war abgebrochen. Tonlos. Kalt. So kalt, dass Tim vor dem Ruf seines Namens zurück wich. Als er rückwärts einige Schritte Richtung Kinderzimmertür gegangen war, ging leise knarrend die eine Schranktür auf, dann die andere, und ein leerer, schwarzer Schrank starrte Tim an. Es war so dunkel in dem Schrank, dass Tim die Augen zusammen kniff, um genauer zu sehen. Es gab in dem Schrank keine Kleider, keine Regale, keine Fächer, und nichts, was er in einem Schrank erwartet hätte. Leise rief Tim den Namen seiner Schwester. Da bewegte sich etwas im Schrank. Erst unscheinbar, wie ein Schatten, Schwarz auf Schwarz. Gleich darauf erschien eine bleiche Knochenhand, und tastete sich an der Schranktür ins freie. Mit der Hand folgte ein Skelett, das wieder Tims Namen rief. Tim wusste bereits, dass Körper so aussahen, wenn sie tot waren. Dass in ihm, in jedem Menschen, in jedem Tier, ein Skelett war. Nie hatte er ein Skelett so gesehen. Jetzt rief Tim den Namen seiner Schwester lauter. Gleich würde sie zur Hilfe eilen, und Mutter und Vater würden das Skelett vertreiben. Er schaute Richtung Wohnzimmer, doch da saß seine Familie immer noch im Licht des Fernsehers, und beachtete seine Schreie nicht.

Als er wieder zum Schrank sah, stand da das Skelett, und schleuderte ein Netz nach ihm. Tim dreht sich um, klammerte sich am Türrahmen fest, schrie nach Mutter, Vater, Schwester, doch sie beachteten ihn nicht. Sie waren von seinen Schreien getrennt. Sie starrten in das blaue Licht des Fernsehers, während das Netz an ihm zog. Es zog wild und kräftig. Es ging ganz schnell. Die Finger konnten sich nicht länger am Türrahmen halten, und Tim wurde über den Boden zum Schrank gezogen. Das Skelett stand im Schrank, und wie ein düsterer Fischer, holte er seinen Fang ein. Nur noch wenige Augenblicke, und Tim würde in den Schrank gezogen werden. Die Schwärze, das Unbekannte, machten ihm unvorstellbare Angst, und Tim schrie aus Leibeskräften. Jetzt war das Skelett über ihm. Leere, schwarze Löcher statt Augen. Ein Ruck, und er war im Schrank. Tim schlug um sich, griff durch das Netz nach den Türflügeln, schrie, und schrie, und riss seine Augen auf.

Über ihm saß seine Mutter. Das Licht war an. Seine Schwester stand hinter seiner Mutter. Teddy lag neben ihm.
"Du hast geträumt", sagte seine Mutter, und streichelte ihm durchs Haar. "Es ist vorbei". Tim schluchzte und war sprachlos. Er sah entsetzt zum Kleiderschrank, der da harmlos im elektrischen Licht stand, und weit und breit keine Spur von einem Skelett. Tims Mutter streichelte ihn, während er atemlos versuchte zu beschreiben, was eben geschehen war. Seine Schwester hörte alles mit, und auch Teddy lauschte angestrengt. Nur er verstand, was eben vorgefallen war. Es hat begonnen, dachte er. Der ewige Kampf. Es ist soweit.

Nach einigen Minuten hatte sich Tim soweit beruhigt, dass seine Schwester wieder über ihn ins Bett kletterte, die Mutter ihn küsste, das Licht löschte, und die Tür offen ließ, damit etwas Licht aus dem Wohnzimmer ins Kinderzimmer streicheln konnte. Aber Tim konnte nicht mehr schlafen. Er heilt sich an Teddy fest und behielt den Schrank im Auge.

"Keine Angst, Tim. Es ist fast vorbei."
"Was war das?", flüsterte Tim so leise, dass seine Schwester übe rihm nichts hören konnte.
"Das war die andere Seite. Du wirst sie im Laufe deines Lebens noch besser kennen lernen. Sie trachtet dir nach deinem Herz. Sie wird versuchen dich einzufangen, genau so, wie du es gesehen hast. Doch nicht immer so direkt, wie heute Nacht. Ich kann dir nicht sagen, wieso sie das gewagt haben, doch du warst stark genug zu widerstehen. Ganz ohne meine Hilfe".
"Du hast gesagt, du beschützt mich", sagte Tim traurig.
"Das tue ich. In das Zwischenreich, das Land deiner Träume, kann ich dir nicht folgen. So wenig, wie ich dir mit meinen Teddybeinen in dieser Welt hier folgen kann. Ich kann dir nur helfen, dich dort besser zu Recht zu finden Hast du noch Angst?"
"Ja".
"Dann verrate ich dir etwas. Dieses Skelett war so etwas wie ein Film. Hättest du nach ihm geschlagen, hätte deine Hand durch Luft geschlagen. Es konnte dich nur einfangen, weil es sich in deine Gedanken geschlichen hat. Es hat in deinem Kopf einen Zugang gefunden. Es ist ein ähnlicher Zugang, wie der, durch den du in die Träume tauchst. Diese Zugänge öffnen und schließen sich noch zufällig. Solange, bis du sie beherrschen kannst. Du bist noch sehr klein und jung. Du kannst diese Zugänge noch nicht abschließen. Dafür musst du sie erst besser kennen lernen. Aber ich kann dir einen Trick sagen, woran du erkennst, dass der Zugang wieder geschlossen ist. Siehst du den Vorhang?"

Tim schaute zum Fenster. Ein einfaches Kreuzfenster, wie in fast allen Häusern des Dorfes. Der Vorhang war nicht ganz zugezogen, und von draußen war das gewohnte, dumpfe Licht der fernen Straßenlaterne zu sehen. Konzentriere dich nur auf den Vorhang. Achte genau darauf, ob er sich bewegt, oder er sich irgendwie verändert. Wenn das passiert, hat sich der Zugang geschlossen, und du kannst wieder schlafen."

Tim hatte nichts verstanden, was Teddy erzählt hatte. Bis auf den Schluss. Dass er wieder gut schlafen könnte, sobald der Vorhang sich ändern würde.
Also schaute er angestrengt auf den Vorhang, und nach einer Weile, als er vor Müdigkeit fast nicht mehr die Augen offen halten konnte, glaubte er einen Lichtschimmer über den Vorhang huschen zu sehen. Als ob jemand mit einer Taschenlampe ein kurzes Signal gegeben hätte. Nur gab es keinen Lichtkegel wie bei einer Taschenlampe. Da war nur ein kurzer Lichtschimmer. Wie eine Bewegung. Wie ein Windhauch. Jetzt konnte Tim wieder schlafen.

Am nächsten Morgen hatte Tim den Traum vergessen. Nicht Teddy. Er wusste, dass es begonnen hatte, und alles was er tun konnte, war hoffen. Die Welt der Schatten hatte noch Anderes aufzubieten als Skelette mit Netzen.

Für ein paar Nächte schlief Tim ruhig und tief, bis er eines Nachts wieder glaubte aufzuwachen. Nur war da kein Kinderzimmer. Kein Bett. Kein Teddy. Nichts. Schwarzes, gähnendes Nichts. Unter seinen Füßen. Überall. Er schwebte. Er war nicht allein. Da waren Frauen. Sie ritten durch die Dunkelheit. Auf Besen. Sie lachten. Sie begrüßten Tim, und schienen sich ganz offensichtlich zu freuen. Es waren Hexen. Tim kannte Hexen aus Märchen. Sie riefen seinen Namen und lachten, und Tim ruderte in der Leere, wie in einem Pool aus schwarzem Wasser. "Was wollt ihr? Ihr macht mir Angst", rief Tim in die Dunkelheit. Die Hexen lachten, und griffen nach Tim. Dann begannen sie ihn umher zu werfen, als hätte er kein Gewicht - oder als hätten sie Kräfte von Riesen. Tim schrie um sein Leben.

Mutter tröstete ihn, dann wartete Tim auf das Licht am Vorhang. Dieses Ereignis wiederholte sich Nacht um Nacht.
"Du brauchst keine Angst zu haben. Es sind Hexen. Sie wollen dir nichts Böses. Sie treiben nur Schabernack. Sie haben dich in ihrem Kreis willkommen genießen."
Aber Tim hatte Angst. Jede einzelne Nacht. Denn er hatte keinen Einfluss auf das was geschah. Es kam ihm sogar vor, als würde der Schabernack der Hexen immer wilder. Also begann Tim Angst vor dem Schlaf zu bekommen. Dieses Mal brauchte er keine Hilfe von Teddy. Tim konzentrierte sich vor dem Schlafen auf das Flimmern in seinen geschlossenen Augen. Er sortierte die Lichtblitze, ordnete die roten und grünen Energiefäden. Machte daraus einen Kreis. Dann eine Spirale. Dann ließ er die Spirale langsam drehen, bis daraus ein Sog wurde. Er ließ sich von dem elektrischen Strudel mitreißen, und ins Reich der Träume tragen. Von diesem Augenblick an, waren die Hexen verschwunden. Er hatte weiterhin Träume, die ihn nachts aufschreckten, doch er schrie seltener, und nach zwei Jahren, hatte er gelernt, mit den Schatten der Nacht zu leben. Teddy war stolz auf seinen Schützling. Wenige gab es, die in diesem Alter das Tor der Traumwelt beherrschen konnten. Tim hatte es geschafft.

Eine neue Herausforderung stand schon bevor. Die Schule. Tim wusste, dass auch das ein Ort würde, wohin er Tim nicht folgen konnte. Zumindest nicht in der Gestalt von Teddy. Wieder war Teddy dazu verdammt zu warten, und die Gelegenheit zu erkennen, wann er auch im gefährlichsten Umfeld für alle jungen Herzen, seinen Schutzzauber anbringen könnte.

Obwohl Tim weiterhin träumte und obwohl diese Träume oft unheimlich waren, gab es im Leben von Tim genug Wunder, dass die Schatten bei ihm nicht greifen konnten. Da gab es Wanderungen durch die Berglandschaften mit seinen Eltern. Da gab es lange, friedliche Spiele mit seiner Schwester. Seine Schwester kaufte sich eines Tages einen Plattenspieler, und damit kam Musik in die Wohnung. Die Eltern zogen um. Es gab mehr Platz. Es gab ein Innenklo. Es gab weiter keine Dusche, und Tim musste sich am Waschbecken mit einem Lappen waschen, doch alles war nur eine Gewöhnungssache. Er hatte damit kein Problem. Er hatte auch kein Problem damit, dass es in der Wohnung nur Öfen gab. Die Eltern sorgten für ausreichend Kohlen und Briketts, und Tim musste nie frieren. Für alles war gesorgt. Tim hatte es gut. Er lachte viel, und die Aussicht in der Schule zu lernen, erschien ihm wie ein Fest. Er freute sich auf andere Kinder, er freute sich auf die Lehrer, er freute sich auf alles, was in der Zukunft lag. Er sah in der Zukunft keinen dunklen Abgrund, oder einen leeren, schwarzen Schrank. Seine Zukunft war bunt, erfüllt, und heiter.

Als er mit der Schultüte ins Klassenzimmer kam, waren da viele fremde Kinder, Jungs und Mädchen. Eine Lehrerin stellte sich der Klasse vor. Tim beobachtete genau, fand alles spannend und interessant, und es war ein Gefühl, das ihn die nächsten Monate nicht verlassen sollte.

Die Lehrerin, eine schwarzhaarige Frau um die 40, erzählte Geschichten, las aus Büchern vor, und jeden Tag, wenn Tim von der Schule nach Hause ging - es war so nah, dass seine Mutter ihn auf dem kurzen Weg nicht abholen musste - hatte er unzählige interessante Dinge erfahren, und immer wenn seine Mutter ihn fragte, wie es ihm gefallen hatte, sagte er: "Es war schön".

Das änderte sich schlagartig im zweiten Schulhalbjahr. Ohne Vorwarnung hörte das Geschichtenerzählen auf. Es wurde nicht mehr vorgelesen. Obwohl Tim gerade erst 7 Jahre jung war, fühle er den betrug darin. Erst dei Kinder mit netten Geschichten ködern, und dann das wirkliche Programm abfackeln. Märchenstunden wurden durch Schulfächer ersetzt. Die Kinder wurden gezwungen eine Stundenplan zu führen. Regeln wurden aufgestellt, und Tim konnte sich nicht erinnern, dass man ihm das beim Verkaufsgespräch gesagt hatte, als man ihm die Schule hatte schmackhaft machen wollen. Aber vor allem wurde ein Benotungssystem eingeführt. Zahlen von Eins bis Sechs, wobei eine Eins das bestmögliche Ergebnis darstellte, und eine Sechs schlecht, und nach Möglichkeit zu vermeiden war.

"Wozu soll das gut sein?", fragte Tim seine Mutter.
"Das ist halt so", antwortete sie. "Da müssen wir alle durch".
"Wozu soll das gut sein?", fragte er Teddy.
"Das wurde gemacht, um dich zu kontrollieren".
"Kontrollieren?"
"Sie wollen dir deine Freiheit stehlen. Egal was sie sagen. Sie wollen nicht dass du frei bist. Sie wollen nicht, dass du ein Kind bleibst, und dass alles ein Wunder bleibt."
„Das würden Mama und Papa nie erlauben“, sagte Tim schockiert.
„Mama und Papa haben vergessen, wie sie als Kinder waren. Sie glauben wirklich, es müsste so sein. Sie meinen es nicht böse. Sie lieben dich. Sie können sich nur nicht vorstellen, dass ein Leben auch anders aussehen könnte.“
„Das muss ihnen doch jemand sagen“, sagte Tim und wollte seinen Eltern helfen.
„Sie bekommen es jeden Tag gesagt. Durch ihre Herzen, durch deine schwester, und durch dich. Sie können nicht hören. Sie haben zu große Angst.“
„Mama und Papa haben doch keine Angst!“, empörte sich Tim.
„Sie wissen es nicht. Doch sie leben im Reich der Angst. Sie arbeiten Tag ein, Tag aus, weil sie Angst haben. Angst nicht genug Geld zu verdienen. Angst ihre Kinder zu verlieren. Angst zugrunde zu gehen. Angst zu sterben. Weil sie es nicht anders kennen, machen sie immer weiter.“
Tim konnte das nicht glauben. Er wusste aber, dass Teddy ihn nie belog. Es tat ihm weh, was er da hörte. Er war kurz davor in Tränen auszubrechen.
„Sie wollen, dass du eines Tages Geld verdienst, und Andere reich machst. Das ist, was sie für Unabhängigkeit halten.“
"Ich will Geld verdienen. Ich will reich sein", sagte Tim nachdenklich.
"Das ist gut. Vergiss das nie. In der Schule wirst du lernen, dich anzupassen."
"Anpassen?" Teddy benutzte so viele Wörter, die Tim nicht verstand.

"Sie wollen, dass du wirst, wie alle. Sie wollen, dass du nicht mehr selbst denkst, dass du die Verbindung zu deinem Herz verlierst, dass du brav einkaufst, was man dir in der Werbung sagt, und sie wollen, dass du aufhörst zu träumen".
"Naja, meine Alpträume könnten schon aufhören", wandte Tim ein.
"Dann würden auch deine Flugträume aufhören. Und du fliegst doch gerne, oder?"
Tim dachte darüber nach, wie er schon viele Male im Traum über den Dächern seines Dorfes geflogen war. Sanft. Friedlich. Er hatte die Freiheit geliebt. Ohne Flügel zu fliegen war großartig. Wenn er nach einem Flugtraum aufwachte, ging e sihm gut. Dann war er von einem Gefühl erfüllt, dass er nicht beschreiben konnte.
"Ich will weiter träumen".
"Gut so. Darum musst du aufpassen. Du trägst das schützende Licht um dich herum. Vieles was dich erwartet, wird dazu geeignet sein, dieses Licht zu durchdringen. Dann bist du auf dich gestellt. Rechne damit, dass Schmerzen auf dich warten. Rechne damit an Stellen, wo du es nicht für möglich halten würdest".

Tim dachte darüber nach, was Teddy damit meinen könnte. Schmerzen? So, wie damals, als er vor einem Jungen geflüchtet und in einen dornigen Rosenbusch gestolpert war? Wie, wenn er hingefallen war und sich das Knie aufgeschlagen hatte? Tim fühlte, dass Teddy andere Schmerzen meinte.
Was Teddy meinte, wurde Tim klar, als er seiner Lehrerin, die er liebte, eine Zeichnung schenkte. Ein Bild, das er mit besonders viel Liebe gemalt hatte. Teddybären auf dem Spielplatz. Er hatte noch nie ein so gelungenes Bild gemacht. Er hatte auch noch nie so viele Teddybären auf einem Bild versammelt. Es erfüllte ihn mit Stolz. Es war ein großer Akt der Liebe und Selbstlosigkeit, dass er dieses Meisterwerk verschenken wollte. Er übergab es seiner Lehrerin, doch die reagierte nicht mit der Freude, die Tim erwartet hatte.

"Das hast nicht du gemalt", sagte sie, und diese Behauptung von ihr, schnürte Tim die Kehle zu. Er schaffte es gerade noch ein zitterndes "Doch" heraus zu stoßen,  als die Lehrerin nachsetzte:
"Du sollst nicht lügen. Wenn du lügst, bekommst du einen Eintrag ins Klassenbuch. Und jetzt geh".
Nach einem halben Jahr in der Schule, war es das erste Mal, dass er todunglücklich nach Hause ging. Er kuschelte sich an Teddy und weinte leise ins sein Fell aus Wolle. Das war also der Schmerz vonem Teddy gesprochen hatte. Kein Rosendorn und kein blutiges Knie tat so weh.

"Du musst das verstehen, Tim. Tatsächlich war das ein Kompliment. Dass sie nicht geglaubt hat, dass du es gezeichnet hattest, war ein Hinweis, dass sie es für so gelungen hielt, dass es nur von deiner Schwester sein konnte".
"Aber die kann gar nicht zeichnen", schluchzte Tim.
"Du kannst zeichnen, und deine Lehrerin hat einen Fehler gemacht. Sie hat ihre Erfahrungen mit anderen Kindern über dich gestülpt. Vermutlich ihre Erfahrungen mit ihrem eigenen Sohn, der sie vielleicht anlügt, weil sie zu streng mit ihm ist. Eine Lehrerin will, dass ihr eigener Sohn besser ist als die anderen. Darum erzeugt sie bei ihm Druck. Darum lügt er sie an. Darum sieht sie überall lügende Kinder."
"Aber eigentlich macht sie es alles?"
"Richtig, Tim. Alle versuchen genau wie du, ihr Bestes zu geben. Doch manchmal ist es nicht leicht zu verstehen, warum Menschen auf eine Bestimmte Art reagieren.“
„Warum tut es so weh“, fragte Tim, dessen Tränenstrom langsam versickerte.
„Weil auf diesen Schmerz kein buntes Pflaster geklebt werden kann.  Du kannst dich an mir festhalten, oder an Mama oder Papa, oder an deiner Schwester. Das hilft. Letztlich musst du es allein klar bekommen. Du musst selbst herausfinden, wie du heilen kannst. Tut es noch weh?"
"Nicht mehr so sehr", schniefte Tim, und ein paar Minuten später saß er über seinen Legosteinen und baute Häuser und Autos.

Wenn er spielte, wenn er Zuhause war, wenn er im Kreis seiner geliebten Familie war, fühlte sich Tim sicher. Geborgen. Alles war ihm vertraut. Auch wenn er nicht alles begriff, was Teddy ihm erzählte, so verstand etwas in ihm, und Teddy war der gute Freund, den er im Leben außerhalb der Wohnung seiner Eltern nicht hatte. Es kamen Freunde und gingen, doch ohne besonderen Grund blieben sie sonderbar fern. Er wusste nicht, wie unterschiedlich sein Leben vom Leben anderer Kinder war. Woher sollte er das wissen? Niemand sagte es ihm, niemand sprach darüber. War er mit Kindern zusammen, spielten sie harmlose Spiele, ohne jemals wirklich etwas über die Anderen zu erfahren. Es war, als gäbe es mehrere Welten, die zur gleichen Zeit exisitierten. Da war die welt von Tim. Da war die Welt seiner Eltern. Das war die Welt der Schule. Die Welten in Büchern und Filmen. Die Welt der Träume. Eine Welt der Schmerzen. Eine Welt der Freude. Und eine unsichtbare Welt der Geheimnisse, die Tim nur erahnen konnte. Keine Welt schien mit der anderen vergleichbar zu sein. Alle schienen sich nur kurz zu berühren, aber nie zu vereinigen.

Es war ein seltsames Leben, da draußen. Außerhalb der sicheren Wände. Es gab Kinder, die andere ärgerten. "Triezen", nannte sich das, und hieß soviel, dass sich stärkere oder ältere Kinder grundlos das Recht herausnahmen, andere Kinder zu benutzen. Um angestauten Frust abzubauen, auf Kosten scheinbar Schwächerer. Teddy hatte es ihm erklärt,. Trotzdem verstand Tim nicht, was sie dazu brachte, das zu tun. Wozu sollte es gut sein? Tim fühlte kein Bedürfnis, anderen weh zu tun. Er spürte manchmal, dass sich sein Herz zusammenzog, wenn irgendwelche Jungs sich in der Pause rauften. Doch Tim hatte ein unzähmbares Feuer in sich.

Zum ersten Mal brach es hervor, als ein Junge ihn auf dem Spielplatz getriezt hatte. Ohne Vorwarnung stürzte sich Tim schreiend auf den Jungen und schlug ihm eine blutige Nase. Die Geschwindigkeit hatte Tim und seinen Gegner überrascht. Unter ihm lag der fremde Junge, Blut lief aus seiner Nase, und die Augen des Jungen waren voller Angst. Als Tim sah, was er getan hatte, sprang er erschrocken auf, und wurde den ganzen Weg vom Spielplatz bis nach Hause, von dem Jungen verfolgt. Gerade rechtzeitig schaffte es Tim in die rettenden Arme seiner Mutter.

 

"Was war das?", fragte Tim Teddy.
"Das war Wut. Das war dein Feuere, das ungebündelt aus dir hervorbrach. Weißt du warum?"
"Nein", sagte Tim, der nicht wusste, was Teddy mit dem Feuer meinte.
"Wenn du hilflos bist, dann willst du dich wehren. Dann schaltet sich dein Verstand aus, und Schutzmechanismen übernehmen die Kontrolle. Der Junge hat dich geärgert, und du wolltest, dass es aufhört. Du hast geglaubt, dass das, was du in den Winnetou-Filmen gesehen hast, im richtigen Leben anwenden kannst. Und? Konntest du? Hat es das Ergebnis gebracht, das du dir gewünscht hast?"
"Das Ärgern hat aufgehört", erkannte Tim, als er darüber nachdachte, wie der Junge unter ihm in der Wiese gelegen hatte.
"Hast du dich dadurch gut gefühlt?", fragte Teddy.
"Nein. Es war nur ganz kurz, dass ich dachte es wäre vorbei. Dann hab ich gesehen wie verletzt und wütend der Junge war. Da hatte ich noch mehr Angst. ich glaube, er wollte sich an mir rächen."
Das war das Problem mit der Gewalt. Sie war nicht wie im Film. Sie war überhaupt kein bisschen wie im Film.
"Ja, lieber Tim, der Junge wird das nicht auf sich beruhen lassen. Du hast zwei Möglichkeiten. Du nimmst allen Mut zusammen, und entschuldigst dich bei ihm, oder du bereitest dich auf seine Rache vor. Er sieht die gleichen Filme wie du. Das heißt, dass er gelernt hat, dass sich ein wahrer Mann rächen muss. Auch wenn er nur ein kleiner Junge ist. Er wird genauso reagieren, wie es Kino und Fernsehen dir beigebracht haben."

Als Tim darüber nachdachte, dass er sich entschuldigen müsste, hatte er Angst. Als Tim sich vorstellte, wie sich der Junge in Zorro verwandeln könnte, wollte er es nicht glauben. Wollte nicht glauben, dass das passieren könnte. Vor dem Einschlafen konzentrierte er sich wieder auf die farbige Spirale vor seinem inneren Auge, und glitt in tiefen, sanften Schlaf.

Den Jungen sah er die nächsten Tage nicht. Das Leben schien dafür gesorgt zu haben, dass die Entschuldigung nicht stattfinden sollte. Tim war erleichtert. Stattdessen kam auf dem Spielplatz ein Mädchen auf Tim zu, und erzählte ihm von einem Geheimgang, den sie auf einem anderen Spielplatz entdeckt hatte. Tim war sofort neugierig. Er wusste, dass ein paar Häuser weiter, wo er nie hin ging, ein anderer Spielplatz war. Tims Welt war noch sehr klein. Er liebte vertraute Plätze. Er liebte es, von anderen Menschen an Ort geführt zu werden, wo er noch nie gewesen war. Er kannte diesen Spielplatz nicht, und hielt es gut für möglich, dass es da etwas gab, was es auf seinem Spielplatz nicht gab. Also folgte er dem Mädchen und ließ sich führen. Beim Sandkasten des fremden Spielplatzes, gab es ein Metallgestell über das die Hausfrauen Teppiche zum ausklopfen hängen konnten. Dort fand sich Tim überraschend angefesselt. Kein Geheimgang. Stattdessen ein paar fremde, ältere Kinder, die ihn gepackt und an ein Metallrohr gebunden hatten. Das allein war beängstigend genug. Doch als das Mädchen anfing von dem Jungen zu erzählen, und dass sie Tim für die blutige Nase bestrafen würde, bekam es Tim mit der Angst zu tun. Er schrie wie am Spieß. Er brüllte sich die Seele aus dem Leib, denn er fürchtete, die Kinder würden ihn umbringen.

"Was glaubst du, was dann passiert wäre? Wenn du getötet worden wärst?", fragte Teddy.
"Ich hätte nie wieder meine Mama gesehen. Meine Schwester. Meinen Papa. Meine Spielsachen. Ich wäre nicht mehr hier", sagte Tim den Tränen nahe.
"Aber du bist entkommen", bemerkte Teddy.
"Sie haben mich laufen lassen. Weil ich so laut war."
"Gut gemacht. Auch das ist die Kraft deines inneren Feuers. Du hast deine Stimme benutzt, um dich zu befreien. Vergesse das nie."
"Aber sie haben mich ausgelacht", sagte Tim traurig.
„Das spielt keine Rolle. Alles was zählt, ist dass du dich befreit hast, und mit dem Schreck davon gekommen bist."
Tim wollte Teddy glauben. Aber eine sture Stimme in ihm, war voller Scham. Helden im TV oder Kino heulten nie. Er hatte sich verhalten, wie ein Feigling. Teddy fühlte, dass er Tim nicht trösten hatte können. Tim hatte eine schlimme Demütigung erfahren. Teddy konnt nur darauf vertrauen, dass Tim eines Tages verstehen würde. Dass es keine Rolle spielte, wie man einer gefährlichen Situation entkam, sondern nur dass man ihr entkam. Teddy wusste etwas, das Tim nicht sehen konnte. Es hätte auch anders ausgehen können. Tim war nochmal mit dem Schreck davon gekommen.

Tim sollte oft mit dem Schreck davon kommen, doch ein Erlebnis in der Schule sollte untermauern, dass Gewalt im wahren Leben schmerzhafter war, als die Gewalt, die man als passiver Mittäter vom Sessel aus genießen konnte.

Wie in jeder Schulpause trafen sich Kinder und unterhielten sich. Schon mit seinen sechs Jahren fühlte sich Tim zu Mädchen hingezogen. Sie waren anders als er, und er wünschte sich sehr, dieser unbekannten Sache auf die Spur zu kommen. Von Psychologie wusste Tim so wenig, wie von "normalem“ menschlichem, sozialem Verhalten. Wenn er etwas wissen wollte, dann fragte er, und wenn er etwas interessant fand, dann ging er darauf zu. Obwohl Verhaltensregeln in Film und Fernsehen vorgelebt wurden, verstand Tim wenig davon.  Bislang war nur die Saat der Gewalt aufgegangen, und hatte ihn bereit und anfällig gemacht. Er war in seinen jungen Jahren bereits Täter und Opfer gewesen. Doch dass er Regeln zu befolgen hatte, wenn er einfach nur mit anderen Menschen zugehen und reden wollte, war Tim in allen Filmen entgangen. Es war es für ihn ganz selbstverständlich und natürlich, dass er in einer Pause zu der Gruppe Mädchen ging, in der auch die langhaarige Blonde stand, die für Tim unerklärlich anziehend wirkte. Er wusste nicht recht was er sagen sollte, und darum begann er mit:

"Wir gehen in die gleiche Klasse, und ich..." - weiter kam er nicht. Plötzlich hörte er einen Jungen schreien, und zu einem anderen Jungen rufen: "Der redet mit deiner Freundin. Der macht sich an deine Freundin ran". Tim verstand sofort, dass es um ihn ging, und als er sah, wen der schreiende Junge meinte, sah er die Sportskanone der Klasse von einer Treppe aufspringen und auf Tim zu rennen. Tim war sich nicht darüber bewusst, etwas falsch gemacht zu haben, aber der Gesichtsausdruck des Jungen war nicht freundlich. Also rannte Tim los. Purer, reiner Fluchtinstinkt, wie ihn alle Tiere haben. Natürlich hatte Tim keine Chance gegen die Sportkanone. Nach wenigen Metern hatte der Junge Tim eingeholt, warf ihn zu Boden, und dann warf sich der Junge auf Tim.

"Er hat das nicht absichtlich gemacht", sagte Teddy.
"Es hat so wehgetan Ich hab so was nie zuvor gespürt. Ich hab keine Luft mehr bekommen".
"Das Knie ist zufällig in deinem Magen gelandet. Und dann bleibt einem die Luft weg. Kein Wunder dass du nicht sprechen konntest".
"Aber ich wollte gar nichts von seiner Freundin", sagte Tim.
"Das ist egal. Es ging um Ehre. Dieser Unfug, den ihr Jungs in den Western seht."
"Du meinst, er wollte seine Freundin schützen? Aber ich wollte ihr gar nichts tun!".
"Nein, darum ging es nicht. Er wollte sein Ego schützen. Der andere Junge war der Schlüssel. Der Junge durfte vor dem anderen Jungen nicht das Gesicht verlieren."
"Das Gesicht verlieren?"
"Das sagt man so in Japan. Wenn du etwas machst, was gegen irgendwelche Regeln verstößt. Der Junge, die Sportkanone, hätte seine Ehre verloren, wenn er dich nicht angegriffen hätte."
"Du meinst, dass der Junge mich gar nicht wegen seiner Freundin angefallen hat, sondern weil er vor dem anderen Jungen stark wirken wollte?"
"So funktioniert die Männerwelt. Fast alle Menschen geben mehr auf das, was andere von ihnen denken, als auf das, was sie von sich selbst denken."
Tim ließ das einen Moment durch seinen Kopf wandern.
"Das würde ja bedeuten, dass ich immer vorsichtig sein muss, zu wem ich was sage", folgerte Tim.
"Ja, Timmy. So ist es. Du solltest vorsichtig sein. Gehe weiter deinen Weg. Folge deiner natürlichen Neugier. Doch pass auf das Verhalten der Menschen auf. Sie tragen Masken. Sie sagen selten was sie denken, und Vorsicht wenn mehrere Menschen zusammentreffen. Das erschwert die Sache".
"Was soll ich also machen?", fragte Tim. Teddy bemerkte, dass dies die erste Frage von Tim war, die ausdrückte, dass er die Führung und Lehre von Teddy bereit war anzunehmen.
"Beobachte. Versuche wo du kannst, dich raus zu halten. Menschen irren sich. Menschen leben Illusionen. Eltern besonders. Sie wollen ihre Kinder zu besseren Menschen machen. An ihrer Stelle. Die Eltern haben es nicht geschafft sich zu guten Menschen zu machen, als versuchen sie diese Aufgabe ihren Kindern aufzudrücken. Nur können Lehrer nur lehren, was sie sind. Wie sollen sie Liebe lehren, wenn sie sich selbst nicht lieben? Sei vorsichtig, kleiner Tim. Die Zeiten der unbeschwerten Kindheit sind vorbei. Die Welt der Schatten ist in dein Reich eingedrungen. Es gibt vorerst wenig was du tun kannst. Doch du musst  sie nicht vermehren."
"Was für Schatten? Das Böse? Wie sollte ich das vermehren können?", wollte Tim wissen.
"Es ist nicht böse. Es gibt nichts Böses. Für jede Handlung gibt es eine Ursache. Kein Wesen ist jemals Böse geboren worden. Was im Kino "Böse" genannt wird, ist eine grobe Vereinfachung. Die scheinbar „Bösen“ sind verletzte Seelen, die versuchen ihren Schmerz für andere begreifbar zu machen. Sie glauben Erlösung von ihrem Schmerz zu finden, wenn andere Schmerz wie sie erfahren: Überall wollen diese verletzten Seelen ihren Schatten an andere Menschen weitergeben. Das ist, wovon die meisten Filme wirklich handeln. Da sind verletzte Seelen, die versuchen dir ein Bild der Welt zu geben, in dem alles ungerecht und gemein sei. Eine Welt, wo niemand jemals vertrauen kann. Eine Welt wo überall Gefahren lauern. Das ist ein kleiner Schatten, der bereits in dir ist. Du hast von der dunklen Seite gekostet. Nun liegt es an dir, ob du zulässt, dass der Schatten sich in dir ausbreitet. Oder ob du darauf vertraust, dass in allen Menschen ein Licht ist."
"Meinst du das Licht, das ich sehe, wenn ich die Augen schließe? Die farbigen Muster, die ich vor dem einschlafen in eine Spirale verwandle?"
"Ja, das ist das Licht. Es ist in allen Menschen. Immerzu. Doch viele Menschen schauen nur auf ihren Schmerz. Darum können sie das Licht nicht sehen. Wenn sie die augen schließen, sehen sie Ungeheuer und Dämonen."
"Darum können sie auch die Lichtkugel um mich herum nicht sehen?"
"Diese Lichtkugel nennt sich "Aura". Es ist die Energie deines Seins, die über deine körperliche Grenze hinaus strahlt".
"Aber dann müssten doch auch andere Leute solche Aura haben..."
"Tun sie. Du kannst sie sehen, wenn du dich dafür öffnest. Vielleicht ist auch diese Aura der Grund, warum du dich zu dem Mädchen hingezogen fühltest. Auras haben verschieden Farben. Manche Farben harmonieren miteinander. Wie Musik.“
Es war komisch. Manchmal konnte er Teddy ganz leicht verstehen. Ja, das Licht dieses Mädchens passte zu seinem Licht. So wie generell das Licht der meisten Mädchen besser zu seinem Licht passte, als das Licht der Jungs.

 

Am nächsten Tag war Tim unaufmerksam, und konnte nicht folgen, was die Lehrerin über die Uhr erzählte. Monatelang hatte Tim nicht abwarten können, seine Micky Maus-Armbanduhr lesen zu können, doch jetzt als die Lehrerin davon sprach, erschien Tim das alles sonderbar ämlich. Darum hatten die Erwachsenen so ein Getue gemacht? Zeit? Zahlen? Stattdessen versuchte Tim Auras zu sehen, und bei einem Mädchen in seiner Klasse glaubte er tatsächlich ein Licht um ihren Körper zu erkennen, das die gleiche Farbe wie sein Licht hatte. Er konnte es nicht abwarten dieses Mädchen kennen zu lernen. Sie saß zwei Bänke vor ihm. Auch wenn er es noch nicht wusste, hatte Tim sich das erste Mal verliebt. Und er hatte Angst. Hatte dieses Mädchen einen Freund, der sich als Beschützer aufspielen würde?

Während Tim früher geweint hatte, wenn Stan Laurel von Oliver Hardy auf die Melone bekommen hatte, betrachtete er Streitereien in Filmen nun mit einem anderen Auge. Es verschaffte ihm ein Gefühl von Genugtuung, von Rache, wenn irgendwer verprügelt wurde. Die Opfer in Filmen waren die, die Tim wehgetan hatten, und die Rächer im Film waren er. Er bemerkte es nicht, aber es befriedigte ihn irgendwie, wenn Böse im Film bestraft oder getötet wurden.

"Pass auf, Timmy. Diese Sicht gehört ins Reich der Schatten. Du verlierst etwas, wenn du die Welt so siehst". Teddy sah, dass Tim nicht verstand. Tims kleines, sanftes Herz war bereits verletzt. Wie schnell das doch ging. Ein falscher Gedanke, ein falsches Wort, ein Ausrutscher...  Teddy wusste, dass er eine Saat gelegt hatte, und er konnte darauf vertrauen, dass diese Saat aufgehen würde. Manchmal fragte sich Teddy ob die Wahl seiner Erscheinung wirklich so gut gewählt war. Was konnte er als bewegungsloser Plüschteddy ausrichten, in einer Welt, die sich immer schneller drehte? Dafür hatte Teddy eine Kraft, die unsterblich war. Vertrauen. Er vertraute darauf, dass Tims Schwester und seine Eltern gute Verbündete waren. Es dauerte nicht lang, da kam ein weiterer Verbündeter dazu, in Gestalt eines anderen Jungen, im gleichen Alter, der Tims erster Freund werden sollte. Dieser Junge, hatte genau wie Tim, eine kreative Ader.

"Seine Aura hat die gleiche Farbe wie meine", verriet Tim Teddy. Lieber hätte er mit Mädchen gespielt. Nur waren die Hindernisse, die vor ihm aufgetürmt worden waren, unüberwindbar. Es galt als „uncool“ als Junge mit Mädchen zu spielen. Tim wurde bereits als Außenseiter behandelt, weil er im Schulsport nicht mithalten konnte. So hatte er eine Wahl getroffen, wie sie viele Außenseiter trafen. Der Außenseiter hatte sich einen anderen Außenseiter als Freund genommen.

Mit diesem Jungen verbrachte Tim endlose Nachmittage. Kinderspiele mit Playmobil und Legosteinen. Und Erwachsenenspiele mit Kinderspielzeugen aus der Prägungsfabrik. So genannte "Actionfiguren". Plastikabbilder von Männern, mit Muskeln und Waffen. Diese Figuren gaben für Tim und seinen Freund vor, wie ein richtiger Mann auszusehen hatte. Breiter Brustkorb. Muskulöse Arme und Beine. Grimmiger Blick. Genau wie richtige Männer im Kino dargestellt wurden. Teddy konnte nicht viel machen. Die Begeisterung, die Tim für Filme hatte, waren ein wichtiger Teil seiner zukünftigen Inspiration. Tims Licht sah nicht die Morde, sondern die Kreativität in den Filmen. Er sah die Kulissen, er sah die Stunts, er sah die Kameraführung. Er nahm die Geschichten auf, und ließ sich in unbekannte Welten führen. Welten, von denen Tim fühlte, dass dahinter interessante Menschen steckten. Unglücklicherweise waren diese Geschichten alle in Gewalt  gebettet. Die unmerklich und stetig den Schatten in Tim nährten.

Der andere Junge interessierte sich ebenfalls für Kino, und beide konnten stundenlang darüber reden, wie sich am Ende von "Dracula" Christopher Lee in ein Skelett verwandelte, das im Sonnenlicht zu Staub zerfiel. Während Tim sich fragte, wie sie das gemacht hatten, war es einem Teil in Tim völlig egal. Der Schatten bekam Energie, auch durch das Darstellen von Gewalt und Tod. Teddy war oft traurig, wenn er sah, dass Tim lieber vor dem Fernseher klebte, und sich dort ansah, wie in Trickfilmen Probleme mit Gewalt gelöst wurden. Das konnte an Tim nicht spurlos vorübergehen. Die erste Spur zeigte sich, als Tim eine Brille brauchte.

"Das ist Druck, lieber Tim".
"Was?" Tim verstand nicht.
"Es ist nicht wie deine Eltern und die Ärzte es dir erzählen. Deine Augen werden nicht schlecht. Sie sind nicht unheilbar von einer Krankheit befallen. Sie sind angespannt, ja, manchmal sogar verkrampft."
"Wie meinst du das?", fragte Tim, der nicht wusste, wem er nun glauben sollte. Seiner geliebten Mama, oder seinem geliebten Teddy.
"Deine Augen sind mit Muskeln verbunden. Mit denen stellst du scharf, wenn du etwas sehen willst. Wie in einem Fotoapparat. Wenn du etwas zu sehr sehen willst, oder wenn du etwas nicht sehen willst, verändert sich die Anspannung deiner Augenmuskeln."

Tim würde Optik erst in einigen Jahren in der Schule durchnehmen, und Anatomie sehr viel später. Darum blieben Teddys Worte für Tim unverständliche Metaphern. Teddy wusste, dass Tim so ein reines, unverdorbenes Herz hatte, dass er immerzu versuchte alle Menschen zu beschenken. Wie brachte man einem Kind bei, dass manche Menschen bereits verloren waren? Teddy jedenfalls, wollte diese Botschaft nicht vermitteln. Je angestrengter Tim sich bemühte, es anderen Recht zu machen, desto mehr verspannten sich seine Augenmuskeln. Tim wollte so sehr gehliebt werden, dass es sich beim Schreiben zu sehr anstrengte. Je mehr er sich anstrengte, desto schlechter sah er. Desto mehr strengte er sich an zu sehen. Teddy wusste, dass alle Menschen auf ihre Art versuchten, mit Schmerz und Ungerechtigkeit umzugehen. Wenige schafften es direkt. Noch weniger als Kind. Mache aßen sich eine schützende Fettschicht an, andere simulierten Zerbrechlichkeit und Schwäche, manche entwickelten so genannte Krankheiten, und Tim übertrug seinen Druck auf die Augen. Die liebende Mutter lieferte die bequeme Ausrede für Tims junges Ego: "Da kann man nichts machen. Schlechte Augen sind erblich." Die Ärte lieferten die bequeme Ausrede für die Mutter. „Augen werden nun mal schlechter“ - und verdienten damit viel mehr Geld, als wenn sie die Wahrheit verkauft hätten.

Also freundete sich Tim mit seiner großen, unförmigen Hornbrille an, machte sich zum Gespött der stärkeren Jungs, und schuf sich dadurch eine Technik durchs Leben zu kommen. Wer schlug schon eine Brillenschlange?

Tim verstand nicht, warum sich Jungs überhaupt prügeln mussten. Märchen hatten das nicht. Sie interessierten sich auch nicht für die gleichen Filme und Serien wie Jungs. Eigentlich waren Tim Mädchen viel lieber, doch aus einem unerklärlichen Grund, waren Mädchen sonderbar abgeschirmt. Sie waren zwar da, aber auch irgendwie nicht. Sonderbare Sache. Er hätte wahnsinnig gerne mehr über Mädchen erfahren, aber stattdessen befand sich Tim ständig ungefragt in Situationen, in denen er sich mit anderen Jungs vergleichen und messen sollte. Wettkampf.  Diese Vergleiche waren, wie in den Western und Filmen, die er sah. Die Stärkeren hatten das Recht auf ihrer Seite. Obwohl Tim genau fühlte, dass sie völlig daneben lagen.

Tim sah immer mehr Filme, und etwas in ihm suchte eine Antwort, die Teddy ihm nicht geben konnte. Warum waren Menschen so gemein zueinander? Aber da es keine Filme gab, die darstellten, wie man sich sonst verhalten könnte, blieb das ein ungelöstes Rätsel. Selbst in seiner Lieblingsserie "Pippi Langstrumpf" konnte sich Pippi manchmal nur mit ihrer beneidenswerten Körperkraft durchsetzen. Es ging letztlich darum, jemand eins auf die Mütze zu geben. Die Legitimation wurde immer mitgeliefert. Wer Böse war, musste bestraft werden.

Wie viele sanfte Menschen mit Herz, musste Tim viel einstecken, und einzig seine Kreativität verhinderte, dass irgendetwas jemals schlimm geworden wäre. Vielleicht war es auch der Zauber von Teddy, doch die Spiele mit Teddy wurden seltener. Stattdessen gab es neue Interessen. Comics. Superman, Spiderman, Batman. Hobbys, die er mit vielen Jungs in der Klasse teilte. Auch sein bester Freund war Sammler von Comics. Die Freundschaft wurde einer schweren Prüfung unterzogen, als Tim herausfand, dass ein anderer Junge in der Klasse noch mehr Comics als Tim und sein Freund zusammen hatte.

"Aber magst du ihn?", fragte Teddy zweifelnd.
"Ja, ich mag ihn", sagte Tim, und konnte kaum abwarten, all die Comics von diesem Jungen zu sehen. Tim vergaß seinen besten Freund, und besuchte den neuen Jungen. Tatsächlich hatten sie viel Spaß, wenn sie sich über Comics austauschten, doch unterschiedlicher hätten zwei Jungs nicht sein können. Die Farben passten nicht zusammen. So kam es an einem Sommertag zum unvermeidbaren Zusammenstoß. Involviert war ein dritter Junge. Tim befand sich überraschend in einem Wortgefecht in herrlichster Sommersonne, mitten im Dorf. Was der Auslöser gewesen war, konnte Tim später gar nicht sagen.

"Was ist passiert?", fragte Teddy in die Dunkelheit des Zimmers. Wie immer, wenn Tims Schwester im Nebenraum schlief, redete Tim mit Teddy ohne seine Lippen zu benutzen.
"Sie haben Witze über mich gerissen. Haben mich ausgelacht."
"Warum hast du nicht mitgelacht?", fragte Teddy.
"Das hat Mama auch gefragt. Hab ich ja. Am Anfang. Aber die haben nicht aufgehört."
"Und dann?"
"Dann hab ich gesagt, sie sollen aufhören. Aber sie haben weiter gemacht. Bis ich wütend wurde und sie angeschrieen habe. Dann wollte ich sie schlagen. Da sind sie weggelaufen. Wenn ich glaubte sie vertrieben zu haben, liefen sie hinter mir her, und haben mich getriezt. Dann bin ich wieder hinter ihnen her. So ging das den ganzen Nachmittag. Ich hab die einmal fast durchs ganze Dorf gejagt, so wütend war ich. Und als ich nicht mehr konnte, hab ich so geschrieen, wie noch niemals vorher. Und da ist was in mir zerbrochen".
"Lass mich raten. Der Junge ist kein Freund mehr von dir?"
"Ich hab mir gewünscht, er wäre tot. Nur damit ich nichts mehr von ihm hören müsste. Und damit ich ihn nie wieder in der Schule sehen muss."
"Du weißt, dass das für die Jungs nur ein Spiel war. Ein bisschen Entertainment für den Nachmittag. Dass sie daran Spaß hatten, wie schön du dich aufregen kannst."
"Was? Das machte doch keinen Spaß!"
"Es machte dir keinen Spaß. Du hast die Rolle des Opfers eingenommen. Und die Jungs haben bisschen Superhelden aus dem Comic gespielt. Sie haben gar nicht bemerkt, dass sie im Unrecht waren. Es ging ihnen nur um den Kick. Den gleichen Kick, den du empfindest, wenn in dem Film "Die Wildgänse kommen", einem Soldaten die Kehle durchgeschnitten wird."

Jetzt hatte Teddy es geschafft. Tim war still und nachdenklich. Lange lag er im Dunkel seines Bereichs des Zimmers und dachte darüber nach, was so toll daran sein sollte, zu sehen, wenn andere Menschen getötet oder verletzt werden. Wenn er darüber nachdachte, kannte er wirklich nur Filme, in denen Menschen sich gegenseitig wehtaten. Die einzige Ausnahme waren Filme mit Audrey Hepburn. Und Tierfilme. Doch selbst da wurde manchmal getötet, und eine Männerstimme aus dem Off erklärte, dass das die Natur des Lebens sei. Dass es darum ging zu fressen, oder gefressen zu werden. Etwas in Tim sah das entschieden anders. Es musste da einen anderen Weg geben. Wie sonst hätte diese zarte Elfe Audrey Hepburn sonst in dieser Welt überleben können? Audrey Hepburn kämpfte in den meisten ihrer Filme nicht. Er kannte eigentlich nur zwei Filme, wo um sie herum viel gekämpft wurde. Doch sie, sie war einfach nur da. Sie sah bezaubernd und liebenswert aus, und alle Türen öffneten sich. Für Tim wurde Audrey Hepburn bald zur wichtigsten Identifikationsfigur überhaupt. Etwas war an dieser Frau, dem sich Tim nicht entziehen konnte. Die Filme waren natürlich auch toll, aber eigentlich wollte er nur Audrey Hepburn anschauen. Es hätte auch völlig gereicht, wenn sie einfach nur da gestanden und geblinzelt hätte. Tim war gerade zehn Jahre alt, doch Audrey Hepburn hatte ihm den Kopf verdreht. Es war höchste Zeit diesem Ding mit den Mädchen auf die Schliche zu kommen. Soviel hatte er begriffen: Jungs prügelten sich, waren laut, rissen dumme Witze über Mädchen, mussten sich ständig im Sport beweisen, und benahmen sich meist recht widerlich. Das übte wenig Reiz auf Tim aus. Die Mädchen in seiner Klasse, die Frauen in Filmen, seine Schwester, und Audrey Hepburn, erzählten eine unbekannte Geschichte. Bei ihnen lag ein Geheimnis, das er ergründen wollte.

Das einzige Mädchen in der Klasse, das eine gewisse Ähnlichkeit zu Audrey Hepburn hatte, war eine dünne, zierliche Schwarzhaarige. Dieses Mädchen suchte sich Tim aus, um sie mit "Liebe" zu überschütten. In einer Pause küsste er sie auf den Mund, nicht ohne vorher seinen Schulkameraden anzukündigen, was gleich passieren würde, aber ohne das Mädchen zu fragen.

"Es war fantastisch", lachte Tim. "Sie haben mich danach zwar durch die ganze Schule gejagt, aber ich fühlte mich fantastisch. Ich glaube, ich habe mich noch nie so gut gefühlt". Teddy sagte nichts. Das wertete Tim als stilles Gutheißen, und darum machte Tim jede Schulpause weiter. Egal wie sich das Mädchen darüber aufregte, egal wie sehr ihre Freundin ihn beschimpfte. Er war besessen davon, diesem Mädchen Küsse auf die Backen und den Mund zu drücken. Es war ein köstliches Spiel. Es war ihm egal, was irgendwer davon hielt, denn es fühlte sich köstlich an. Es war das köstlichste Spiel, das er jemals erfahren hatte. Und dabei so einfach! Er musste nur einen Moment abpassen, in dem die beiden Freundinnen ihn nicht erwarteten, dann sprang er sie an, und küsste die Schwarzhaarige. Als Tim herausfand, dass die Schwarzhaarige Tiere liebte, und besonders Robbenbabys, begann auch Tim seine Liebe für Tiere auf Robbenbabys auszuweiten. Er warf dem süßen Mädchen Kusshände über die Schulbänke zu, und selbst wenn er von Lehrern dabei erwischt wurde, konnte ihn das nicht erschüttern. Dieses neue Spiel machte ihm mehr Mut, und machte ihn Stärker. Er wurde besser in der Schule, und am Ende des Jahres war er beinahe Klassenbester. Nicht dass ihm das etwas bedeutet hätte. Er wollte nur noch dieses Mädchen küssen. Für ein kostbares Jahr war Tim von Liebe zu einem Mädchen erfüllt, und er verschwendete keinen Gedanken daran, dass dieses Mädchen ihn nicht lieben würde. Nicht einen Gedanken, dass er viel zu jung wäre, um dieses Spiel zu begreifen. Tim war so fasziniert von dem Spiel selbst, dass ihm keine Sekunde in den Sinn kam, dass er die Sache auch anders hätte angehen können. Teddy sagte dazu kein Wort. Teddy sagte überhaupt sehr wenig in diesem Jahr. Wieso auch. Alles lief hervorragend. Nicht eine Sekunde dachte Tim daran, dass er auf dem Holzweg sein könnte, und dieses Holz morsch und brüchig, und dass unter dem Weg Fallen und Abgründe warteten.  Auf ihn warteten. Am letzten Schultag der fünften Klasse, hatte er sich vorgenommen, dem Mädchen einen richtigen Kuss abzuringen, um glücklich in die Sommerferien zu schweben. Anders als im ganzen Jahr zuvor, kündigte er sein Vorhaben dem Mädchen und ihrer Freundin an. Die lachten ihn aus.

"Das werden wir ja sehen", lachten sie.
Als die Schulglocke den beginn der Sommerferien einläutete, rannten die Mädchen aus der Schule - und Tim hinter ihnen her. Er hatte es nicht eilig. Er musste nicht nach Hause. Er verfolgte sie, bis zu der Bushaltestelle. Dort stellte er sich vor den Beiden auf, ganz wie er es aus den Filmen kannte, und forderte einen Kuss. Die Mädchen fanden das entschieden albern, und drohten, dass sie schreien würden.
"Dann schreit doch. Mir doch egal. Ich will einen Kuss. Und wenn ich keinen kriege, dann warte ich eben bis zum nächsten Schuljahr."
"Da kannste lange warten", sagte die kurzhaarige Blonde. "Nächstes Jahr ist sie nicht mehr da. Ätsch."
Damit hatte Tim nicht gerechnet. Das war die einzige Sache, die ihn überraschen hatte können.
"Du...du ... du bist nächstes Jahr nicht mehr hier?", fragte Tim. Die Mädchen sahen das Entsetzen in seinem Gesicht, und die Geschichte geriet in ein anderes Fahrwasser. "Wie? Nicht mehr da? Was heißt das?"
"Meine Eltern ziehen um", sagte das Mädchen, und es waren die ersten sanften, freundlichen Worte, die Tim von ihr gehört hat. Sonst hatte sie ihn meistens beschimpft. Aber vor allem, weil er sich über ihren Willen hinweggesetzt hatte. Nicht wegen den Küssen.
"Wohin ziehst du"?
"Ins Nachbardorf. Da ist ne andere Schule. Da bin ich nächstes Jahr".
"Das heißt, ich sehe dich nicht wieder?"
"Vermutlich nicht".
Es war seltsam, wie das Leben spielte. Nicht eine Sekunde kam Tim in den Sinn, dem Mädchen zu folgen. Sie im Nachbardorf zu besuchen. Stattdessen überfiel ihn eine sonderbare Traurigkeit.
"Dann möchte ich, dass wir uns jetzt einen Abschiedkuss geben. nur einen ganz kleinen", versuchte Tim die Tiefe dieses Moments etwas herunter zu spielen. Die Belohnung für diesen schlauen Trick kam in Form von weichen, warmen Lippen, die für einen kostbaren Moment seine berührten.
So wie der Moment begonnen hatte, verschwand er wieder. Der Bus kam.
Zu der Blonden gewandt fragte Tim.
"Aber du bleibst da, oder?"
"Ja", sagte sie nichts ahnend.
"Dann wirst du nächstes Jahr meine Freundin."
"Du spinnst ja wohl!", rief sie empört, und stieg mit ihrer Freundin in den Bus.

Tatsächlich wurde das blonde Mädchen Tims Freundin. Er verfolgte sie von der Schule nach Hause, fand dadurch heraus, wo sie wohnte, und ging mit ihr die Sache schlauer an. Er wollte sie tatsächlich als Freundin. Also lernten sie sich besser kennen. und begingen gemeinsam Abenteuer. Die bekennende Pferdenärrin nahm Tim auf Pferdhöfe mit, und was sie gut fand, fand er auch gut. Sie lasen Tierbücher, sahen Tierfilm, sie setzten ihre Meerschweinchen zusammen, um zu sehen, wie die Tiere aufeinander reagierten, lachten sich kaputt, wenn die Männchen ihr brummendes Paarungsverhalten starteten, und in grenzenloser Grausamkeit nahm das Mädchen das Meerschweinchenmännchen immer dann vom Weibchen weg, wenn es  bereit war, seinen winzigen Pimmel in ein winziges Löchlein zu stecken. Weder das Mädchen noch Tim wussten was sie da taten. Und Teddy war weit weg. Tim konnte nicht sagen, wann er das letzte Mal mit Teddy geredet hatte. Das Leben mit dem Mädchen war spannender als Gespräche mit einem Plüschfreund.

Als eines Tages die Mutter des Mädchens sie zu einem Ausflug an einen See eingeladen hatte, saß Tim auf der Rückbank des Autos. Dort hörte er einen Satz, der ihn mit einem Baseballschläger aus seinem Kinderleben katapultierte.

"Nein, zieh das andere Kleid an. Du kannst dich hier umziehen. Du hast ja ein Höschen an."
Das Mädchen zog ein anderes Kleid über, und für einen Moment sah Tim sie in ihrem Höschen neben sich sitzen. Doch eine Frage ließ ihn nicht mehr los: Trug sie manchmal kein Höschen? Und was war darunter?
Tim war gerade Elf Jahre alt, als ein Ereingis diese verwirrenden Fragen  wegschmetterte.

Zunächst war da dieser Moment, als Tim mit dem Mädchen im Kino saß. Sie sahen "Der elektrische Reiter" mit Robert Redford. Er spielte darin einen deprimierten Rodeostar, der seinen Stolz wieder fand, weil er ein wunderschönes Pferd aus den Fängen von skrupellosen Geschäftemachern befreien wollte. Gewissermaßen ein Film über einen Tierschützer. Das Mädchen und Tim waren begeistert. Bis zu dem Moment, wo das Pferd von Polizeiautos und Motorrädern verfolgt wurde. Das Mädchen fand das weder witzig, noch unterhaltsam. Ein Film über Tierschutz, der Tierquälerei beinhaltete?
"Aber das ist ein Stuntpferd", wusste Tim. "Das ist dafür ausgebildet".
"Aber es wurde nicht gefragt", sagte das Mädchen, und damit war der Film für sie gestorben. Tim musste zugeben, dass er sie nicht ganz verstand.
Am Abend versuchte er mit Teddy zu reden, doch er schwieg. Er war nur noch ein normaler Plüschteddy. Reglos und leblos. Tim wunderte sich, dass er so viele Jahre mit einem Plüschspielzeug geredet hatte.
In der Nacht, setzte sich Audrey Hepburn auf die Kante seines Bettes, so wie das früher seine Mutter gemacht hatte.
"Du willst wissen, warum sich deine Freundin so aufgeregt hat?"
"Ja. Das war doch nur ein Film".
"Ja, Tim, Es war nur ein Film. Menschen haben Spaß daran, Filme zu machen oder Theater zu spielen. Sie machen auch gerne Kunststücke im Zirkus. Ich fürchte, es gibt sogar Menschen, die gerne Krieg führen. Das ist eine Sache. Doch es ist nicht in Ordnung Tiere ungefragt da mit rein zu ziehen. Es ist nicht in Ordnung so zu tun, als hätten alle Tiere genau so viel Spaß wie die Menschen. Oder glaubst du, Elefanten und Löwen, die würdevollsten Tiere in der Natur, würden sich aus freiem Willen vor den Menschen zum Affen machen?"
Audrey lächelte, genau wie in ihren Filmen, und ihre Anwesenheit machte Tim glücklich. Auch im Traum fand Tim, dass Audrey nichts weiter tun musste, als einfach da zu sein, und zu lächeln, und alle Sorgen fielen von ihm ab. Es hatte ihn betrübt, wie Tim und seine Freundin an diesem Abend auseinander gegangen waren. Distanziert. Als hätte es ein wirkliches, ernstes Missverständnis gegeben.
"Nein Tim, da ist nichts passiert. Mädchen werden dazu angehalten, genauer hinzuschauen.  Das gefällt dir, stimmt's?"
"Ja. Das ist schön. Das würde ich auch gerne können".
"Du wirst es lernen. Doch es ist ein langer Weg. Ein langer, verschlungener, und verwirrender Weg. Voller Schmerzen."
"Schmerzen?", fragte Tim, und wollte nicht glauben, dass Audrey das wirklich gesagt hatte. Insgheim dachte er: „Nicht schon wieder..!"
Sofort bemerkte sie, dass Tim zu sensibel für direkte Wahrheiten war. Darum ergänzte sie:
"Du wirst auch viele schöne Dinge erleben. Du wirst nie mehr Schmerz erfahren, als du verkraften kannst. Du wirst lernen, dich auf die guten Dinge zu konzentrieren."
Am nächsten Morgen wachte Tim verwirrt auf, und sah Teddy an, der in der Ecke des Bettes saß, und schwieg.

Kurz darauf verließ Tims Schwester das Haus und Land. Sie war alt genug, um ihr eigenes Leben zu beginnen, und Tim wurde bitter bewusst, dass er nicht frei war, einfach mit seiner Schwester zu ziehen. Er weinte bitterlich, und der Abschiedschmerz riss ein Loch in sein Herz. Ein Loch, das Tim stopfte, indem er noch mehr Zeit und noch längere Ausflüge mit seiner Freundin machte. Weil er so viel Zeit mit seiner Freundin verbrachte, kam es ihm gerade Recht, dass sein Vater immer seltener Zuhause anzutreffen war. Tim hatte dadurch Gelegenheit bis spät abends Filme zu sehen, die ihm sonst verboten gewesen waren. Coole Filme, in denen es um wahre Helden ging. Agenten, Soldaten, Abenteurer, Ganoven, Cowboys, und Detektive. Endlich musste er sich keinen Kopf mehr machen, wann sein Vater nach Hause käme. Er konnte sehen, was er wollte, und was er sehen wollte, waren Filme, in denen Männer spannende Abenteuer erlebten. Abenteuer. Das war das Zauberwort dieser Tage. Hauptsache etwas flog in die Luft. Hauptsache es gab eine Verfolgungsjagd. Hauptsache das Gute gewann am Ende. Diese Sache mit den Filmen begeisterte Tim grenzenlos. Das war, wovon er nicht genug bekommen konnte. Als die Sommerferien vor der siebten Klasse anbrachen, vermisste Tim seinen Vater kein bisschen. Er war ständig auf Erkundungstour mit seiner Freundin. Durch Wälder. Auf fremde Bauernhöfe. Es gab viel zu entdecken. Mit diesem Mädchen herum zu ziehen, war spannender, als er sich irgendein Spiel mit einem Jungen vorstellen konnte. Bis er eines Tages von seiner Mutter hörte, dass "Papa nicht mehr wieder käme".

Tim hörte die Worte, begriff aber nicht was gemeint war.
"Dein Vater und ich lassen uns scheiden. Er hat eine andere Frau". sagte sie, und es klang nicht, als ob es ihr Leid täte. Tim fand es auch nicht traurig. Sofort erkannte er, dass damit einiges an Freiheit gewonnen wäre.
"Du meinst, wir sind jetzt allein?"
"Ja", sagte Tims Mutter.
Tim freute sich. Jetzt konnte er Filme schauen, so viel und lang er wollte.

Das neue Schuljahr änderte Tims Leben. Er kam auf eine neue Schule. Ohne Mädchen. Ohne seine Freundin. Von einem Tag auf den anderen war ein süßer Traum beendet, und Tim wurde mit einer Welt konfrontiert, die er bislang nur aus Filmen kannte. Eine harte, ungerechte Welt, in der kleine Jungs sich übler aufführten, als Gangster in Filmen. In nur einem halben Jahr, war das Selbstwertgefühl von Tim zerstört. Die Schule war eine Art vorgezogenes Militärcamp, in dem Männlichkeits-Wahnideen als Tugenden glorifiziert wurden. Erfolg, Leistung, Stärke. Die heilige Einfältigkeit der Männer. Verkauft als Ideal, das es zu erreichen galt, und das benotet und bewertet wurde. Schon am ersten Schultag hatte er es gemerkt, doch nach einem halben Jahr war es sicher: Dies war eine Hölle.

"Und wie komme ich da raus?"
"Du könntest fliehen", sagte Audrey Hepburn. "Wie ich, als Prinzessin in „Ein Herz und eine Krone". Doch du weißt, wie der Film ausging. Es hat einen Grund, warum dir das begegnet. Alles hat seine Richtigkeit. Und wenn du heute noch nicht begreifst, irgendwann wirst du begreifen".
"Aber die Jungs sind so dämlich. Sie denken nur daran, einander weh zu tun".
"Das ist, was sie aus den Filmen haben. Die gleichen Filme, die du siehst. Das ist, was sie von älteren Brüdern und ihren Vätern abschauen. Die du nicht hast. Du gehst deinen Weg. Der ist nicht vorgeschrieben."
"Aber was soll ich machen?", fragte Tim.
"Das kann ich dir nicht sagen. Du musst es selbst herausfinden. Ich kann dir nur versichern, dass alles richtig und gut ist, auch wenn es weh tut".

"Jungs sind so doof. Sie merken einfach nicht, was sie da machen. Und sie interessieren sich nur für Sachen, die mir total egal sind. Ich hab das Gefühl, dass niemand mich versteht".

"Ja, Tim. Das ist gut. Manche Leute erkennen das ihr ganzes Leben nicht. Dass niemand einander jemals verstehen kann. Es geht um Gefühle. Es geht um die Zustände jenseits von Zahlen, Worten, und Bewertungen."
"Was soll ich tun?"
"Beobachte!", sagte Audrey Hepburn, und Tim hätte schwören wollen, dass ihre Stimme ein wenig wie die von Teddy geklungen hat.

Gleich am nächsten Tag begann Tim zu beobachten. Er beobachtete, dass die Jungs ständig damit beschäftigt waren, sich gegenseitig zu übertrumpfen. Das sie niemals miteinander redeten, sondern versuchten, stärker, schlauer, witziger, Hauptsache „besser“ sein. Prahlerei war ständiger Begleiter aller Jungs. Wettkampf das Einzige, was Jungs erlaubt war. Nie über wahre Gefühle sprechen. Cool sein. Masken tragen. Stärler alns die anderen sein. Sogar der Jungs, die ständig verprügelt, ja, manchmal sogar gefoltert wurden, funktionierten so. Tim sah, dass er unter ständiger Gefahr stand, doch dass die Jungs ihn weitgehend in Ruhe ließen, weil er gut zeichnen konnte. Er sah die Zusammenhänge nicht deutlich, doch er fühlte, dass die schlimmen Quälereien an ihm vorbeizogen, und einen anderen Jungen trafen, der kleiner als Tim war, und nicht das Glück hatte, gut zeichnen zu können. Es gab in der Klasse nur einige Jungs, die nicht das Spiel der Gewalt mitspielen wollten. Was sie in den Augen der Gewalttäter zu Opfern machte. In der beschränkten Sicht der Jungs gab es nur Täter oder Opfer. Gewinner oder Verlierer.Und wer wollte schon Opfer und Verlierer sein? Opfer waren in Filmen die Witzfiguren. Die, die am Ende legen blieben. Die, die von der Kamera ignoriert wurden, wenn sie ihre Abreibung, ihre Demütigung, oder ihre tödliche Wunde erhalten hatten. Tim konnte es gar nicht fassen, wie kalt und gefühllos sich manche Jungs verhielten. Teil der ständigen Prahlerei war das Angeben damit, Filme gesehen zu haben, in den Köpfe abgeschlagen wurden, oder schlimmer Verbrachen begangen wurden. Tim kam nicht an diese Filme ran. Er wusste nur, dass es solche Filme gab. In einem Buch über Filmtricks sah er, wie Zombies geschminkt wurden, und dass es wenigstens einen Film geben musste, in dem ein Zombie mit einem Schraubenzieher getötet wurde. Sehen durfte er diesen Film nicht. Er kannte niemand, der ihm solche Filme hätte zugänglich machen können. Videos waren eben erst erfunden worden, und auch wenn Tim bei seiner Mutter alle Wünsche erfüllt bekam - ein Videorekorder war nicht drin. Das war eine Sache für Großverdiener, zu denen Tims Mutter nicht gehörte. Tim konnte nicht mitreden, wenn es um die blutigsten Fiesheiten in Horrorfilmen ging. Es reichte ihm auch völlig, die verrohten, dummen Jungs in seiner Klasse zu sehen. Es hätte ein Gesetz gegen soviel Dummheit geben müssen. Doch woher sollte das kommen? Auch die Lehrer waren nicht besser. Sie ließen keine Gelegenheit aus, ihre Frustrationen an den Schülern abzulassen, und mit Zynismus und Kälte ihre Autorität aufrecht zu erhalten. Oder geneuer gesagt, ihre Macht zu missbrauchen, wie es ihre Tagesform gerade erlaubte. Hätten sie das nicht getan, wäre es ihnen ergangen, wie einer Aushilfslehrerin, die am Anfang ihrer Schullaufbahn stand, und von den Jungs gemeinschaftlich fertig gemacht wurden. Kein Witz war zu platt. keine Unverschämtheit zu dreist, als dass sie die Frau nicht damit konfrontiert hätten. In einer Physikstunde wurde er Zeuge, wie die Lehrerin nach Strich und Faden von den Jungs zertrümmert wurde. Von pubertierenden Hohlköpfen, die in der jungen Lehrerin nur eine Projektionsfläche für ihre sexuellen Frustrationen sahen. Sie vergewaltigten sie gemeinschaftlich. Nur mit Worten und totaler Gefühllosigkeit. Sie rannte weinend aus dem Zimmer und eine Horde mieser Jungs triumphierte. Tim beobachtete. Er tendierte dazu, auf der Seite der Lehrerin zu stehen. Nicht weil sie keine Fehler gemocht hätte. Nicht weil sie so besonders Liebenswert gewesen wäre. Nicht weil sie das Opfer geworden war. Einfach, weil Tim nicht zu der Meute gehören wollte. Aber Tim schwieg. Es war zu riskant, die wilde meute gegen sich aufzubringen.

Die Lehrerin kündigte nach diesem Tag ihren Dienst, und der Direktor der Schule rügte die Klasse. Tim beruhigte sich damit, nicht mitgemacht zu haben, doch hatte schlechtes Gewissen, dass er sich nicht eingemischt hatte. Er war zu feige gewesen. Die Risiken waren unüberschaubar. Tim hatte nicht das Vertrauen von Teddy. Er sah täglich, zu was die dummen Jungs fähig waren. Es war nicht ratsam an dieser Stelle davon auszugehen, dass die Jungs Einsicht oder Mitgefühl zeigen würden. Wahrscheinlicher war Häme. Schläge waren auch vorstellbar.

"Warum sind die so roh?", fragte Tim seine nächtliche Besucherin Audrey Hepburn. Die lachte ihr Hepburn-Lachen, und sagte:
"Warum schaust du Filme, in denen Männer nichts anderes tun? Warum liest du Bücher, in denen es um Mord und Ungerechtigkeit geht?"

Audrey spielte auf das Buch "Flussfahrt" an. Tim hatte es sich gekauft, weil er den Film verpasst hatte. Als der Film, der im Kino unter dem reißerischen Titel "Beim Sterben ist jeder der Erste" angekündigt worden war, im Fernsehen gezeigt wurde, hatte sich Tim extra den Wecker gestellt. Und war gerade rechtzeitig zum Abspann wach geworden. Unverzeihlich. Alle in der Schule sprachen am Montag darauf über den Film. Tim hatte das Plakat im Kino schon packend gefunden. Ein muskulöser, markiger Burt Reynolds, mit Pfeil und Bogen. Tim hatte sich kurzerhand das Buch gekauft. Genau, wie er das beim weißen Hai getan hatte. Genau wie beim weißen Hai, gab es in dem Buch eindringlich geschilderte Sexszenen, die etwas in Tim auslösten, was er zu dem Zeitpunkt nicht recht einordnen konnte. Die beschriebene Gewalt konnte Tim besser einordnen. Sie war ihm vertrauter. In "Flussfahrt" wurde getötet, und getötet, und getötet, und niemand hatte daran Spaß. Es war ein nackter Kampf ums Überleben. Der üblichen Männerlogik folgend. Fressen oder gefressen werden. Der Autor hatte ein Szenario erfunden, indem ein paar Männer keine andere Wahl hatten, als sich mit Gewalt gegen Gewalt zu wehren. Keine Sekunde dachte Tim darüber nach, dass an dem Bild etwas nicht stimmte. Dass die Geschichte viele Möglichkeiten beinhaltet hatte. Doch dass der Autor ausgerechnet die ausgesucht hatte, bei der besonders viele Menschen besonders grausig sterben mussten. Tim hatte das Buch an einem Nachmittag verschlungen.

Tim sah Audrey Hepburn an. In ihren Augen war kein Vorwurf. Keine Anklage. Sie schaute ihn voller Mitgefühl an, als wusste sie nur zu gut, wie schwer es war, in eine gewalttätigen Männer-Welt zu bestehen.

"Wärst du gerne ein Täter?", fragte Audrey. Tim scheute sich zu antworten. Die Antwort lautete eindeutig "Ja". Es gab da einige Jungs, die er gerne etwas gefoltert hätte. Vor ihrem Tod.

"Ich verstehe dich", sagte Audrey, die Tims Gedanken gesehen hatte. "Bedenke, auch sie sind Opfer. Es gibt keine Täter. Es ist eine Illusion. Auch der schlimmste Verbrecher hat einen Herrn, der ihn quält. Und wenn es die Täter selbst sind, die sich quälen. Niemand kann Schmerz umgehen, und niemand kann Schmerz auflösen, indem er mehr Schmerz verursacht."

„Das verstehe ich nicht. Ich verstehe echt allmählich nichts mehr. Wenn auch die Täter Opfer sind - warum haben sie dann kein Mitgefühl?“

„Weil Mitgefühl der schwerere Weg ist. Weil man sich damit verletzlich zeigt, und höchst warhscheinlich verletzt wird. Liebe lässt keine Ausreden zu. Entweder du liebst, oder du lügst. Dazwischen gibt es nichts.“

Tim glaubte zu ahnen was sie meinte. Das war, wie mit der Lehrerin, der er nicht beigestanden hatte, obwohl er den Ruf seines Herzens so deutlich gehört hatte.

„Ja, Tim. Liebe und Mitgefühl ergreifen Partei für die Schwachen. Nicht weil du es müsstest. Sondern weil du nicht anders kannst.“

Tim wurde fast schlecht, als er erkannte, wie jämmerlich er sich verhalten hatte. Er hatte sich nicht wie ein Filmheld zwischen die Lehrerin und die wilde Meute gestellt.

„Die hätten mich verprügelt. Oder noch schlimmer. Den Rest des Jahres ausgelacht, weil ich für eine Lehrerin Partei ergriffen hätte.“

„Das, lieber Tim, ist die Angst, die aus dir spricht. Du hast wenigstens einmal zu oft gesehen, wie jemand Opfer wurde. Nun hast du solche Angst davor, dass du weder deinem Herz, noch deiner Liebe vertraust.“

Tim wäre vor Scham am Liebsten in einem tiefen, schwarzen Loch versunken. Plötzlich war deutlich, dass einzig sein Eingreifen den Unterschied hätte erzeugen können. Dass er allein die Macht gehabt hatte, die Meute zu bremsen. Das von Audrey Hepburn zu hören, machte ihn ganz krank. Wenn er aber in ihre Augen schaute, war da nur Mitgefühl. Kein Vorwurf. Kein Urteil. Wie wunderschön sie doch war. Tim hätte sich von Audrey Hepburn alles sagen lassen. Er hätte auch alles für sie gemacht. Wenn sie nur etwas länger geblieben wäre. Aber weder erwartete sie von Tim, dass er irgendetwas machen müsse, noch hielt sie sich jemals länger als einige Traumminuten bei ihm auf.



Scheinbar waren die Actionfilme und Gewaltorgien in den Medien eine gute Kompensation für den Druck, den Tim im Schultrainingscamp aushalten musste. Die Augen wurden dennoch schlechter, der Schmerz weitete sich aus, der Schatten machte sich breiter. Teddy war längst vergessen, und stand zwischen anderen Plüschtieren, und niemand hatte einen Rat zur Hand, wie Tim mit dieser Welt der Schrecken klarkommen sollte. Also vermehrte Tim den Schrecken, indem er ihn in seine Spiele einfließen ließ.

Seine Freundin ging inzwischen auf eine katholische Mädchenschule, und seine Haustiere waren stumme Leidensgefährten im Leben eines Jungen, der sich in einer ihm völlig fremden Welt zurecht finden sollte. Immer öfter spiegelten sich die Szenarios und Handlungen aus Filmen in den Spielen von Tim. Niemals hätte Tim Tiere gequält, niemals wie andere Schuljungs Kaulquappen angezündet. Tim träumte davon Special FX Man zu erden. Darum begann er seine Actionfiguren zu verstümmeln. Er fand Techniken, die Plastikfiguren wie Opfer einer üblen Metzelei aussehen zu lassen. Er war dabei kreativ - und stellte sich vor, welcher seiner Feinde in der Klasse vor ihm verblutete und starb. Ja, Rache, war eine Option, und alle Filme, die Tim sah, untermauerten diese Sicht. Rache. Rache. Rache.

Die Freundschaft zu einem Jungen, der auch gelegentlich zum Opfer gemacht wurde, brachte Tim in Kontakt mit einer neuen Form der Lektüre. Groschen-Horror-Hefte. Es wurde ein Hobby zwischen diesem Jungen und Tim, diese scheinbaren Erwachsenengeschichten auszutauschen und an den Nachmittagen zu lesen. Nach schätzungsweise hundert Heften, wusste Tim wie der Hase lief. Es gab in diesen Heften einen Helden. Meist hatte er gegen Vampire, Zombies, Dämonen, oder Geister zu kämpfen. Oft gegen böse Hexen. Und fast immer, um eine blonde, großbrüstige Frau zu retten. Für Tim waren diese Hefte ein Witz. Obwohl darin plakativ Blut verspritzt wurde und Köpfe rollten, hatten sie nicht ansatzweise den Effekt, den Tim beim Lesen von Romanen von Jack London gehabt hatte. Aber wer in der Schule hatte im Alter von zwölf Jahren Jack London, Jules Vernes, Dumas, Poe, oder Hemingway gelesen? Tim war in einer Dorfschule. Eingesperrt in einem Zimmer mit Bauern, Stoffeln, oder Sportskanonen. So richtig verstand Tim nicht, warum er seine Freundin, die er zuletzt in den Sommerferien gesehen hatte, nicht mehr traf. Sie war unerreichbar geworden. Stattdessen las er die Horrorheftchen, bis er sich erinnerte, dass in einer Vitrine seines Vaters noch stapelweise diese Dinger lagen, und er sie super an seinen Freund verkaufen konnte. Alle diese Hefte hatten wildeste Cover. Selten hatten die Cover mit dem Inhalt zu tun - aber sie faszinierten Tim. Tim war ein visueller Mensch. Er verbrachte einen ganzen Nachmittag mit dem Betrachten der Titelbilder. Einige Hefte las er, um vor seinem Freund prahlen zu können. Aber eigentlich war der Freund kein wirklicher Freund, und ob er die Hefte wirklich verkaufen konnte, bezweifelte er. Er hatte seinen Vater seit Monaten nicht mehr gesehen, und keine Gelegenheit ihn zu fragen. Die Hefte einfach klauen? Hätter er das wirklich gewagt? Aber vielleicht gab es in seinem Zuhause weitere Hefte?



Tim fand keine weiteren Hefte. Stattdessen einige Pornos. Ein sonderbares Vermächtnis, mit dem er seinen Sohn einen Schubs in die richtige Richtung geben wollte. Der Deal mit den Horrorheften platzte, wie die unechte Freundschaft zu dem Jungen. Dafür gab es nun nachmittagelanges blättern in Sexheftchen. Bis sich eines Nachts Audrey Hepburn von einer anderen Seite zeigte. Tim nahm zum ersten Mal ihre kleine, spitzen Mädchenbrüste wahr, und ihren küssenswerten Hals, und er fragte sich, ob auch Audrey Hepburn das zwischen den Beinen hatte, was die Mädchen in den Pornoheften zeigten. Es war eine sonderbare Nacht. Audrey war weniger deutlich zu sehen als sonst. Sie war irgendwann nackt, doch nicht richtig. Sie war da, und irgendwie nicht. Sie war eine Art bleiches Phantom, das durch einen Nebel auftauchte und verschwand, auftauchte und verschwand, und währenddessen wurde das Ziehen zwischen seinen Beinen immer faszinierender. Er beobachtete was mit ihm vor sich ging. Wie sich sein steifer Schwanz anfühlte. Dass dieser Schwanz in Audrey Hepburn rein und raus glitt. Tim hatte einen Orgasmus. Ein Moment seliger Erfüllung.

"War das schön?", fragte Audrey Hepburn.

"Ja, sehr."

"Wie hat es sich angefühlt?"

"Als wäre mein Körper aus Lichtfäden, und alle waren in meiner Hand, und dann gab es eine Explosion aus Licht. Es war wunderbar."

"Das, lieber Tim, kannst du wiederholen. Auch hierbei bist du gut beraten vorsichtig zu sein. Wenige verstehen, was Sex wirklich ist. Die meisten Menschen wollen nur den schnellen Kick. Doch für dich Tim, ist es Balance, und ein Werkzeug zur Heilung."

"Balance?"

"Das ist ein Geschenk für dich. Es ist Lust. Sie hilft dir beim Leben. Zelebriere sie, und hab Geduld. Dein Tag wird kommen, an dem du deine Frau triffst. Ich bin nur eine Projektion. Du glaubst nur, mich zu lieben. Mich zu sehen und zu fühlen. Tatsächlich liebst du eine Idee von mir. Ein Abbild, das millionenfach unter die Menschen gestreut wurde. Ich bin nicht real. Weder hier, noch in den Filmen. So wenig, wie deine Angst oder Wut. Alles was real ist, ist Liebe."

Mit diesen unverständlichen Worten löste sich Audrey auf, und ließ Tim verschwitzt im Bett zurück. Tim hatte stark geschwitzt. Seine Hände waren nass. Zwischen seinen Beinen tropfte der Schweiß aufs Bettlaken. Und er fühlte sich fantastisch. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sich jemals so fantastisch gefühlt hatte.



Dass diese Liebe seltsame Wege ging, wurde Tim klar, als er im Freibad seine Freundin wieder traf, doch die sich seltsam zurück hielt. Fast als wollte sie mit Tim nichts mehr zu tun haben. Tim war mit seinem besten Freund da. Sie liebten Schnorcheln, und träumten davon, mit Delfinen zu tauchen. Aber diesen Nachmittag im Freibad versank Tim. In einem Meer aus Enttäuschung. Als er sah, dass seine ehemalige Freundin die Sportskanone aus der Nebenklasse anhimmelte. Tim sah dem athletischen Jungen zu, wie er beim Basketball Körbe warf, und sein freier Oberkörper braungebrannte, muskulöse Haut zeigte. Ja, das war, worauf Mädchen standen. Tolle, sportliche Jungs. Nicht kleine, pummelige, pickelige Brillenträger wie Tim. So sah er sich inzwischen. Der Druck in der Schulhölle hatte weitere böse Einschnitte in seinem sensiblen Selbstwertgefühl hinterlassen. Als seine ehemalige Freundin mit dem Jungen sprach und ihn kurz küsste, war das wieder ein Trennungsschmerz. Er wusste, dass seine Freundin nicht länger seine Freundin war. Doch wenigstens konnte er nun Trost beim Sex mit Audrey finden.

Sein Leben ließ sich in etwa so zusammenfassen: Essen, Zwei Stunden am Tag. Schule. Sechs Stunden am Tag. Hausaufgaben. Weitere zwei Stunden. Schlafen. Sechs bis sieben Stunden pro Tag. Der Rest wurde relativ gerecht auf Gewalt und Sex aufgeteilt. Gefühle fanden in all dem selten statt. Außer, wenn etwas wirklich Außergewöhnliches geschah. Wenn die Englischlehrerin unter ihrer Bluse keinen BH trug. Wen ein Audrey Hepburn Film im TV lief, und Tim sich auf sie einen abschütteln konnte. Wenn im Nachtprogramm ein Sexfilm kam. Oder ein besonders übler Horrorfilm.



Eigentlich waren in den 80ern selbst Horrorfilme ziemlich harmlos. Doch sie hatten ihre Wirkung auf Tim. Um im Wettkampf um die "Cool"-Trophäe unter den Jungs mithalten zu können, hatte Tim einen neuen Maßstab gefunden. Je Gewalttätiger, desto besser. Und wie leicht war es, im TV jede erdenkliche Gewalttat zu sehen, die ihm im Kino wegen Alterbegrenzungen verwehrt blieben. Oft musste Tim Häme über sich ergehen lassen, wenne er gar zu begeistert war. Wenn er in einem Film etwas "Cooles" entdeckt zu haben glaubte. Da Tim das lächerliche Spiel der Jungs nicht wirklich begriff, war er auch im Prahlen nur mäßig gut. Es gab immer irgendwen, der etwas gesehen hatte, was noch viel brutaler gewesen war, als in dem Film den Tim gesehen hatte. Es war eine Art Wettkampf, wie alles bei Jungs ein Wettkampf war.

"Was glaubst du, worum geht es den Jungs, wenn sie Sex mit sich haben", fragte Audrey Hepburn, nachdem Tim wieder einen Orgasmus mit ihr gehabt hatte.

"Ich glaube, sie wollen angeben".

"Und worum geht es dir?"

"Es fühlt sich schön an. Es ist toll einen Orgasmus zu haben".

"Du vermisst die Pornos nicht?"

Tims Vater hatte sie bei seinem Auszug mitgenommen. Nein, Tim vermisste weder die Pornos, noch die Möbel seines Vaters, noch seinen Vater. Genau genommen hatte Tim seinen Vater ein Jahr davor verloren. Als Tim eines Tages lieber seine Freundin besuchen wollte, als mit seinem Vater eine Wanderung zu machen. Er vermisste die Pornos nicht, weil es mehr als genug Gelegenheiten gab, Blicke auf Frauen zu erhaschen.

"Du weißt aber, dass diese Abbildungen von Frauen, die Schauspielerinnen, die Nachrichtensprecherinnen, die Aerobic-trainerinnen im TV, alle auf die du dir einen runterholst, sogar ich, dass wir nur Fantasie sind. Du solltest Mädchen treffen. Außerhalb deiner Jungenschule".

"Ich weiß Audrey. Aber das ist nicht so leicht..."

"Warum nicht?"

"Na, schau mich doch an."

"Wieso? Was ist mit dir? Du hast zwei Beine zwei Arme, einen Kopf einen Schwanz. Alles da."

Audrey lächelte vergnügt, und noch immer hatte Tim keine Idee wie die Brüste von Audrey aussähen, obwohl er sich versuchte vorzustellen, wie kleine Mädchenbrüste aussähen.

"Na, ich hab Pickel. Siehst du das nicht?"

"Tim, ich bitte dich. Es ist Nacht und kein Licht an. Wie sollte ich da deine Pickel sehen? Außerdem bin ich nur ein Phantom in deinem Kopf. Also, was ist daran schlimm, dass du Pickel hast? Ess einfach etwas weniger Süßigkeiten, und weniger Milchprodukte. Das ist nicht gut für deine Haut und Gesundheit."

"Aber es schmeckt mir".

"Du meinst, du hast das Gefühl zu verhungern, wenn du nicht die Tonnen an Junkfood in dich reinschaufelst?"

"Nein. Ich esse, damit es mir besser geht".

"Also ist ein passiv aggressiver Akt?"

"Ein was?"

"Ein passiv aggressiver Akt. Du isst nicht um deinen Körper zu ernähren, sondern um deine Feinde zwischen deinen Zähnen zu zermahlen. Darum nimmst du mehr Essen zu dir, als du brauchst, weil du mehr imaginäre Feinde hast, als du verkraften zu glauben scheinst?"

"Sie sind nicht imaginär. Sie sind real. Ich sehe sie jeden Tag in der Schule".

"Dann müssen wir wohl dafür sorgen, dass etwas passiert", sagte Audrey Hepburn.



Wenige Tage darauf wurde ein langhaariger, ungepflegt wirkender Junge in die Klasse geführt. Der einzige freie Platz war neben Tim, und obwohl dieser Junge viel größer und älter als Tim schien, war etwas Ungewöhnliches an ihm. Der Junge strahlte eine sonderbare Gelassenheit aus, als wäre ihm so ziemlich alles egal, und er stellte sich Tim als "Nob" vor. "Nob, die Abkürzung von Nobody". Das war der Name, den der Junge bei Telespielautomaten in die Scoreliste eintrug. Und "Nob", weil es Telespiele gab, wo nur drei Buchstaben eingegeben werden konnten. Das war "cool". Nob hatte in nur wenigen Sekunden geschafft, alle die sich in der Klasse für Cool hielten, alt aussehen zu lassen. Nob war cool. Tim war entschlossen herauszufinden warum.



Wäre Tim nicht so mit seinem Leid und mit Wichsen beschäftigt gewesen, hätte er vielleicht bemerkt, dass er in eine neue Zeit schlidderte. Hätte irgendwer ihm irgendetwas zu dem gesagt, was gerade stattfand, dann hätte Tim die Zeichen erkennen können. Aber  da waren so viele Ablenkungen. So viele, viele Verlockungen.

Eben hatte es nur drei Fernsehsender und sieben Stunden Programm gegeben. Inzwischen waren da sieben Fernsehkanäle und sechzehn Stunden Programm. Es gab nicht nur unglaublich viele Filme und Serien, es gab auch jede Menge Musikvideos. Nob erklärte Tim, was er für Musik hören müsste, um sich von den Dorfdeppen zu unterscheiden. Klar, Volksmusik war wirklich nur für die Bauern. Aber Hardrock gaben alle Jungs vor gut zu finden. Vermutlich wegen dem Wort "Hard" vor dem Rock. Dass die vermeintlich harten Kerle nur zehn Jahre später wie tuntige Transvestiten erscheinen würden, die in albernen Kostümen versuchten die coolen Macker zu spielen, und dass ein paar der größten Rockidole, wie zum Beispiel Freddy Mercury schwul waren, drückte aus, wie albern der Männlichkeitswahn der Jungs war. Sie wussten gar nicht was Männlichkeit ausmachte. Sie suchten nach Vorbildern, und die Medienindustrie war gewitzt wenn es darum ging, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Wenigstens scheinbar. In einer Zeit, in der richtige, coole Jungs Hardrocker mit Dauerlocken anhimmelten, entdeckten Nob und Tim eine völlig neue Art von Coolness. Da waren Depeche Mode, The Cure, Dead Can Dance, And Also The Trees, Anne Clark, Bauhaus, und natürlich Joy Division, die dem Männlichkeitswahn den Stinkefinger zeigten, und einen anderen Weg einschlugen. Diese Bands, Musiker und Musikerinnen, passten nicht in irgendwelche Klischees. Ihre Platten waren nicht leicht zu bekommen, nicht aufm Dorf, und sie sangen nicht darüber Mädchen aufzureißen, und  da wurde nicht gerockt. Da wurden neue Klänge erforscht, und versucht eine Alternative zu bestehenden Systemen aufzubauen. Tim und Nob konnten sich stundenlang über diese Musik unterhalten, und es gab Tim Mut, dass da jemand mindestens so merkwürdig war, wie er selbst. Nob und Tim wurden fast unzertrennliche Freunde. Nur Sex hatte Tim weiter allein, und die meisten Filme sah er mit seiner Mutter - außer sie schlief gerade auf dem Sofa ein.

Worin sich Nob nicht von anderen Jungs oder Tim unterschied: er sah auch gerne Gewaltfilme. Und er hatte Zugang zu anderem Stoff. Und er schien das, was er mit Musik versuchte, auch auf Filme zu übertragen: Je brutaler, desto besser.

"Aha", sagte Audrey. "Dann hat er wohl viel Schmerz in sich, wenn er es mit Gewalt an anderen kompensieren will?"

"Ich weiß nicht. Ich glaube er ist sehr allein. Wie ich. Unverstanden."

"Ich war auch unverstanden", sagte Audrey. "Aber ich habe nichts mit Gewalt kompensieren müssen. Ich habe Gewalt erlebt. Als Kind. Im Krieg. Ich habe Hunger gelitten. Ich habe Menschen leiden sehen. Ich habe selbst durch viele Schmerzen gehen müssen. Ich bin krank geworden. Ich hatte so wenig zu essen, dass sich mein Körper davon nie erholt hat".

"Das wusste ich nicht", sagte Tim.

"Das wissen Wenige, obwohl es kein Geheimnis ist. In Hollywood geht es um Illusionen, lieber Tim. Da macht es sich nicht besonders gut, wenn man mich als Schönheit verkaufen will, und dann herauskäme, dass meine Figur eine Spätfolge von Hungersnot und Todeskämpfen ist."

Tim starrte Audrey Hepburn fassungslos an. Audrey lächelte auf ihre geheimnisvolle, unergründliche Art. Dieses Lächeln, das bei allen das Gefühl von Reife und Weisheit entstehen ließ.

"Wie hast du überlebt?", fragte Tim.

"Durch die Liebe meiner Familie", antwortete sie Tim, ehe sie sich auflöste.

Tims neue Familie wurde Nobody. Mit ihm konnte er sich austauschen. Auch wenn Nobody ihn manchmal belächelte, wegen musikalischer Geschmacksentgleisungen, so gab es doch ein Band zwischen ihnen. Tiefes Verständnis der Außenseiter. Was zur Folge hatte, dass Tims Noten besser wurden, und Tim die Schule weniger wichtig nahm. Von dem Augenblick, da Nobody in die Schule gekommen war, hatte sich Tims Leben massiv zum besseren gewandelt. Doch von "gut" war es weit entfernt. Dafür fehlte Tim das Gefühl geliebt zu werden. Offenbar hatten alle in der Klasse bereits Sex gehabt - außer Nobody und Tim. Wie nie anders gelernt, verglich sich Tim, mit dem Ergebnis, dass er sich minderwertig fühlte. Nobody wusste auch nicht, wie das mit den Mädchen eigentlich funktionierte, und die Gewaltorgien im TV gaben keine Antwort auf diese Fragen. Nob wusste jedoch etwas, das Tim noch nicht verstanden hatte. Dass Frauen im Film anders dargestellt wurden, als Frauen und Mädchen im wahren Leben waren. 

In diesem Jahr kam eine englische Fernsehserie ins deutsche Fernsehen. Eine Geschichte über zwei Spezialagenten für einen britischen Geheimdienst. Diese Serie löste in Zeitungen hitzige Leserbriefproteste aus, denn selten zuvor war Gewalt so schamlos verherrlicht, idealisiert, und explizit gezeigt worden. Manche Dinge, die in dieser Serie gezeigt wurden, waren von nie gesehener Grausamkeit. Wie zum Beispiel ein Profikiller, der sein Langstreckengewehr einstellte, indem er an echten Menschen übte. Das war der Stoff auf den alle in der Jungenschule gewartet hatten. Diese Sendung war für alle Jungs ein Muss. Einmal in der Woche war diese Serie Pflichttermin, und der Fernsehsender brach mit diesen Metzeleien alle Quoten-Rekorde. Brian Clemens, der Autor dieser Serie, kannte die Psyche der Menschen. Er wusste, wie weit man die Würde des Menschen treten konnte, und dass nichts zu geschmacklos war, als das es nicht doch irgendwer gut fände. Es ließ sich damit viel, viel Geld verdienen. Viele fanden das gut. Vor allem pubertierende Teenager, die nach Vorbildern Ausschau hielten. Lehrer versagten da, ebenso wie Pfarrer und religiöse Gemeinschaften. Das interessierte keinen Jungen. Die Jungs wollten, das Blut spritzt. Tim, der inzwischen einiges Wissen über Filmtrick besaß, wusste genau, wie Einschusswunden und Durchschüsse simuliert wurden. Er wusste, dass all das gekonnt gefälscht war.

"Ja? Weißt du das?", fragte Audrey mit ihrem sanften Lächeln.

"Natürlich. Das sind Specialeffects."

"Woher willst du wissen, dass nicht irgendwer mit einem Filmteam in ein armes Land fährt, das für ein paar Dollar ein paar arme Bauern zusammentreiben lässt, und sie vor laufender Kamera abschlachtet?".

Da war etwas in Audreys Blick, was Tim noch nie gesehen hatte.

"Wirklich, Tim. Es wird Zeit, dass du anfängst nachzudenken. Du sagst du liebst mich. Aber wäre ich wirklich deine Geliebte, hätte ich Angst vor dir. Weil da soviel Wut in dir ist. Soviel Unbearbeitetes. Soviel Ungeklärtes. Du weißt nicht wer du bist. Du ziehst dir kritiklos rein, was irgendwelche alten Männer dir vorsetzen. Sei nicht naiv, Tim. Du bist kein kleiner Junge mehr. Du bist erwachsen genug, um dir Situationen mit Frauen vorzustellen. Dir vorzustellen, wie du in mich eindringst.  Also sei erwachsen genug, wie ein Mann zu denken. Nicht wie einer der Machos aus den Filmen, die du siehst. Schau genauer hin. Was wird in diesen Filmen transportiert? Was zeigen sie für ein Leben? Was haben sie für dich erdacht? Inspiriert dich, was du siehst? Hilft es dir beim Leben?"

Tim konnte die Fragen nicht beantworten. Ehe er Audrey noch etwas fragen konnte, hatte sie sich aufgelöst, und Tim in unruhigem Schlaf zurück gelassen.



Es war was dran, an Audreys Fragen. Wie kam es, dass Tim keine Freundin hatte? Was machte er? Lebte er eine Illusion? Tauchte er immer tiefer in eine Traumwelt aus der Traumfabrik?

Rechtzeitig, ehe Tim hätte vollens verrohen können, strahlte das Nachprogramm der Privatsender Softsexfilme aus. Erotische Filme unterschiedlicher Qualität. Die aus Deutschland waren meist unerträglich albern, und beschränkten sich darauf, ein paar nackte Brüste zu zeigen. Meist bevor der Bauer rein kam, und einen entstehenden Fick in der Kuhscheune unterbrach. Tim fragte sich, ob es wirklich erwachsene Männer gegeben haben konnte, die für diesen Mist im Kino Geld abgedrückt hattben. Selbst wenn seine Mutter schlief, und selbst wenn er ungestört allein vor der Glotze hing, konnten solche Film bei ihm keine Erregung erzeugen. Meist reichte es völlig, auf das Ende des Filmes zu warten, wo mit etwas Glück ein angedeuteter Koitus von zwei Minuten die Kinogänger mit einem guten Gefühl nach Hause gehen lassen sollten. Absurd.

Dann gab es italienische Filme. Sie waren meist mit übertrieben ausladenden Gesten überfrachtet. Frauen waren dort total passive Sexobjekte, und die Männer komisch zappelnde Clowns.

Amerikanische Softsexfilme waren meist sehr stylish, und der Sex fand meist am Pool einer Villa, oder im Luxusbett eines Luxushotels mit einem Luxusmodell statt. Auch hier wurde mehr simuliert als den Aufwand gelohnt hätte.

Doch französische Filme waren erstaunlich geil. Da trugen die Frauen Strapse und Dessous, und entsprachen genau Tims Vorstellungen, wie seine zukünftige Frau auszusehen hätte. Schlank. Kleine, runde Brüste, schmales, markantes Gesicht. Lange Beine, langer Hals. Und lüstern. Ja, die Lüsternheit war den Frauen ins Gesicht gemeißelt. Mancher dieser Filme brachte Tim auf neue Einfälle, doch vor allem waren französische Filme mit genug Sex voll gepackt, dass er nicht nur einmal abspritzen konnte.

"Nun, dann hast du ja jetzt ein paar alternative Bilder, was du machen kannst", freute sich Audrey, mit der Tim über alles sprechen konnte. Speziell über sexuelle Themen. Mit seiner Mutter konnte er über nichts dergleichen reden.

"Nunja... Ich weiß noch nicht. Ich weiß nur, dass es mir gefällt, was da gezeigt wird. Ich möchte ein Liebhaber von Frauen werden. Das erscheint mir viel versprechender, als Leute umzubringen".

"Aus meiner Sicht eine gute Wahl. Gratuliere dir dazu. Aber es gibt weiterhin viel zu lernen, und einige Schmerzen, durch die du gehen musst", sagte Audrey trocken. "Lass dich von Leben führen. vertraue darauf, dass alles genau so passiert, wie du es brauchst. Alles wird sich zusammenfügen."

Tim sah keinen Grund, weshalb er Audrey misstrauen sollte.



Von diesem Jahr an, überkam Tim ein sonderbares Gefühl, wenn er in Filmen Frauen als Opfer dargestellt sah. Er wusste, dass Mädchen nicht auf Stühle sprangen und kreischten, wenn sie ein Maus sahen. Er wusste auch, dass Frauen gerne in Horrorfilmen ermordet wurden, weil sie so schön kreischen konnten. Waren die Schreie von Frauen in Horrorfilmen tatsächlich ein verstecktes sexuelles Element?

Im wirklichen Leben hätte er eine ängstliche und wehrlose Frau eher bemitleidenswert gefunden. War es nicht so, dass Frauen Kinder gebaren? Das sie Schmerzen aushalten konnten, wie es die wenigsten Männer konnten? Oder war auch das nur ein Mythos? Was war eigentlich wahr? Wenn Männer nicht waren, wie in Filmen, warum sollte dann irgendwo eine Frau sein, wie in Filmen? Es beschlichen Tim sonderbare Gefühle, wenn in Filmen von Sergio Leone Frauen vergewaltigt wurden, und tags darauf in der Schule darüber Witze gerissen wurden. Ja, es war erregend, wenn nackte Haut gezeigt wurde. Doch Vergewaltigung hatte nichts mit Sex zu tun. Es war ein Machtübergriff. Tim begriff das. Und wie es schien, war er der Einzige in der Klasse. Nicht mal Nobody sah, dass es merkwürdig war, welche Rollen Sergio Leone seinen Schauspielerinnen zugedacht hatte. Mütter, Huren, Geliebte. Allesamt Opfer. Opfer einer eiskalten Männerwelt. Die Filme wurden von Zeitungskritikern ebenso gefeiert, wie von den Teenagern in Tims Schule. Sergio Leone war ein Garant für Gewalt.  Genau wie Clint Eastwood.



Mit vierzehn Jahren hatte Tim das Spiel so weit verinnerlicht, dass er bevorzugt in Filme ging, in denen Schauspieler waren, die für Actionrollen bekannt waren. Steve McQueen, Charles Bronson, und  Clint Eastwood. Der einsame Reiter.

Etwas war in der Traurigkeit des einsamen Reiters, mit dem sich Tim vorbehaltlos identifizierte. Er war ein Fan von Clint Eastwood. Während sich Tim durch die Spaghetti-Western hangelte, änderte sich unmerklich die Welt. Es machte sich bemerkbar in der Wohnung seiner Mutter. Da war ein neuer Fernseher. In Farbe. Mit Stereo Ton. Es gab mehr Sender. Tim hatte ein Telespiel, und verbrachte Nachmittage damit Donkey Kong zu spielen. Es gab neue Musik. Es gab den Walkman. Es gab noch modernere Digitaluhren, mit Alarm, und Taschenrechner, und allen erdenklichen und unmöglichen Schnickschnack. Das Ende der Schulzeit rückte in greifbare Nähe. Die Berater vom Arbeitsamt sagten Tim, er würde ein guter Gärtner.

"Bäh, Gärtner", dachte Tim. Das ist doch kein Beruf für einen richtigen Mann.  Tim wusste nicht was ein Beruf für einen richtigen Mann ausmachte. Er kannte nur Detektive, Agenten, Cowboys, gesetzlose, Kriminelle aus Filmen und Büchern. Davon abgesehen, hatte er die glücklichsten Momente, wenn er kreativ war. Egal wie. Mit Pinsel, Stift, oder Kamera. Hauptsache etwas ausdrücken. Das war alles, worum es Tim ging.



Nach vier Jahren Zwangseinweisung ins Trainingscamp für angehende Soldaten, gab es nichts, was er vermisste. Seine Mutter verließ mit Tim das Dorf, und zog zurück dahin, woher sie einst gekommen war. Hamburg. Sie hatte da ihre Brüder und Schwestern, und die halfen ihr dabei, ein neues Leben abseits von der trügerischen Alpendorfidylle aufzubauen.

Tim freute sich. Endlich in der großen Stadt, glaubte er, endlich das Leben führen zu dürfen, das er sich erträumte. Nie hätte er damit gerechnet, dass er dort, in der großen Stadt, der kleine Dorfdepp sein könnte. Er brauchte eine Weile, um sich zu akklimatisieren, und zu begreifen, dass auch die coolen Städter nicht so cool waren, wie sie vorgaben zu sein. Aber wenigstens war er nun in einer gemischten Schule. Endlich gab es Austausch mit Mädchen. Die ihn dummerweise nicht wahrnahmen, weil er in vier Jahren Jungen-Horroroshow verlernt hatte, wie ein normaler Mensch zu agieren. Die Mechanismen, die er sich angewöhnt hatte, um in der Jungenschule zu überleben, waren in der Stadtschule, unter Mädchen vollkommen unangemessen.

Wie gerne hätte er weiterhin Besuch von Audrey Hepburn bekommen,  doch Audrey kam nicht mehr. Tim hatte noch Teddy, doch der sagte weiterhin kein Wort. Was Tim verstehen konnte.

Tim verliebte sich in ein Mädchen mit Sommersprossen, und dieses Mädchen war eine reale Quelle der Inspiration. Eine wirkliche Freundin. Aber leider auch eine weitere Illusion. Tim wusste nicht worauf er zu achten hatte. Tim war verknallt. Er „wollte“ dieses Mädchen. Und er verbockte es in jeder Beziehung. Doch bis dahin bekam er von dem Mädchen jede Menge Geschenke. Er las Bücher, auf die er nie gekommen wäre, er sah Filme, die er sonst nie beachtet hätte, und er hörte Musik, die nur sie cool fand. Oder Nobody. Wegen ihr begann Tim sogar zu rauchen. Einfach damit der Gestank von Zigaretten Tim an sie erinnern konnte. In jenen Tagen hätte Tim die beratende weise Stimme von Teddy gut gebrauchen können. Oder das tiefe Mitgefühl und Verständnis von Audrey Hepburn. Wie wenig wusste Tim vom wahren Leben... Wie wenig wusste er über Frauen... Wie wenig über die Welt... Wie wenig über das Machtspiel der Männer... Wie wenig über sein wahres Wesen. Hätte. Wäre. Wenn.

Dieses Mädchen hatte ein Geschenk der besonderen Art für Tim. Einen Irrtum. In Form eines Buches. Eine dramatische, moderne Liebesgeschichte. Ein Buch, das Tim aus der Seele sprach. Doch tat es das, weil es so war, oder weil er es von Anja empfohlen bekommen hatte? Dieser Unerreichbaren. Dieser Unterkühlten. Dieser besonderen Frau..

In diesem Buch ging es aus Tims Sicht um die Liebe eines Schriftstellers zu seiner Muse. Und die Muse knallte durch und wurde dann in der Irrenanstalt von ihrem Freund ermordet. Mord aus Liebe. Was für ein Drama. Anja und Tim waren begeistert. Dass das Buch jedoch auf viele Arten zu lesen war, wäre Tim nie in den Sinn gekommen. Stattdessen packte er noch eine Ladung Stephen King oben drauf. Niemand sonst verstand es so gut wie King, Psychologie, Mystik, Gewalt und Erzählkunst zu vereinen. Wenngleich Tim sich vor allem für die mystischen Aspekte begeisterte, waren sie in Gewalt und Schrecken eingebettet. Nur wo Stephen King drauf stand, war garantiert Horror drin. Dieser Horror wurde weiterhin von Tim aufgesaugt, wie von einem Schwamm. Obwohl es dafür keinen Grund gab.

Es gab keine reale Gewalt in Tims Leben. Nachrichten waren von Tim längst als Propaganda erkannt worden, und in seinem wirklichen Leben gab es keine Gewalt. Gewalt war ein harmloser Flirt mit dem Abgrund. Sie spiegelte nichts. Weder sein Leben, noch das Leben seiner wenigen Bekannten und Freunde. Gewalt war für Tim reine Fiktion, und so sehr er sich wünschte, dass mal etwas Spannendes in seinem Leben geschähe, so lieb, sanft, und harmlos blieben alle Ereignisse. Sogar die Explosion des Atomkraftwerks Tschernobyl  blieb sonderbar fern und unwirklich. Obwohl dieses Unglück aus Menschenhand gruselig genug war, Tim und allen anderen Menschen das Fürchten zu lehren, blieb es entfernt. Unwirklich. Eine unsichtbare Gefahr, von der niemand wusste, wie sie sich auswirken würde. Durch den Regen wollte Tim dennoch nicht ohne Schirm gehen. Er glaubte zwar nicht, dass ihm die Haut verätzt würde - doch was wusste man schon? Es war der erste Super GAU. Es gab keine Erfahrungswerte. Der wichtigste Erfahrungswert für Tim war, dass er erkannte, dass die Menschen sich an alles gewöhnen konnten, und auch die größte Katastrophe vom Alltag weggefegt wurde. Nur wenige Wochen nach dem Unglück, während in Tschernobyl Soldaten verheizt wurden um eine globale Katastrophe zu verhindern, ging Tim mit Anja ins Kino, spielte Federball, oder machte Fotosessions mit ihr. Wie gerne hätte Tim mit Anja eine Liebesgeschichte begonnen.

Bald musste er einsehen, dass Anja unerreichbar war. Dass Tim in vier Jahren Jungenschule einiges verlernt hatte, was für ein Abenteuer mit Mädchen unerlässlich gewesen wäre. Tim war einfach der, der er war. Ein klein getretener, zurückhaltender, unsicherer Junge. Er hatte keine Vorstellung, wie ihn andere Mitschüler sahen. Er hatte keine Vorstellung was sie über ihn dachten. Er merkte nur, dass er selten die Reaktionen bekam, die er sich wünschte. Irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Es war so deutlich wie nie zuvor. Er konnte es jedoch nicht lokalisieren. Eine Art unsichtbarer Fluch.

Als Anja in den Sommerferien in den Urlaub fuhr, fühlte sich Tim allein und zurückgelassen. Er stürzte sich in Beschäftigung, wie er das von den Erwachsenen gelernt hatte. Er malte, denn er wollte ein berühmter Künstler werden. Er wichste, denn er wollte ein großer Liebhaber werden. Er hörte schräge Musik, denn er wollte ein großer Musikkenner sein. Er lass Horrorgeschichten, denn er wollte... Ja...Was eigentlich? Wieso übten die Geschichten von Stephen King so eine Anziehungskraft auf ihn aus? Waren sie so reizvoll, weil sie ein fremdes Leben, jenseits von Bürgerlichkeit und Spießertum beschrieben? Weil sie Hinweise auf Zwischenwelten enthielten, die Tim gut kannte? Tim träumte regelmäßig und erinnerte sich an alles. Bis ins letzte Detail. In seinen Träumen fand er Wunderwelten. In Hamburg fand er Regeln, Ordnungswahn, Angepasstheit, und immer wieder dreist-doofes Spießbürgertum. Nein, so hatte sich Tim die "große Stadt" nicht vorgestellt. Hamburg war keine Stadt. Hamburg war ein groß geratenes Dorf, und in den Bewohnern der Stadt steckte feige Verlogenheit. Es gab wenige Menschen, die aussprachen, was sie dachten. In Hamburg herrschte der schöne Schein. In Hamburg war es wichtig, dass man die richtige Kleidung trug, dass sie dunkelblau war, dass man nie seine Stimme erhob, und auch sonst nie auf fiel. Damit hatte Tim nicht gerechnet. Dieses Hamburg war schlimmer als das Dorf, dem er entflohen war. Zwei Jahre musste er dort noch zur Schule gehen, und schon wieder fühlte er sich eingesperrt und gefangen in einem Spiel, das nicht seines war. Anja war die einzige Person, zu der Tim Vertrauen aufbaute. Sie war in seinen Augen verrückt und nicht so angepasst wie alle in Hamburg. Anja war ein wunderbares Symbol für Tims Naivität. Für seine Fähigkeit an etwas zu glauben, und alles auszublenden, was diesen Glauben gestört hätte. Wieso hätte Anja weniger verlogen sein sollen? Sie war in Hamburg aufgewachsen? Wieso hätte sie sich nicht, genau wie Tim, eine Schutzmaske und einen Tarnmantel anlegen sollen? Tim hatte keine Ahnung mit wem er es zu tun hatte, und er wünschte sich so sehr geliebt zu werden, berührt zu werden, wahrgenommen zu werden, dass er alle Signale ignorierte.

In Hamburg gab es wenig, was Tim interessierte. Das waren vor allem Plattenläden, in denen er Musik kaufen konnte, die es auf dem Dorf nie gegeben hatte. Es gab riesige Buchläden, in denen er alles bekommen konnte, was er sich wünschte. Sogar noch etwas mehr. Eines Tages entdeckte er einen großen Bildband, der etwas darstellte, was er selbst bei Dali und den Surrealisten nie gesehen hatte. Einblicke in die Hölle. Die Hölle, wie Tim sie kannte. Der Maler hieß H.R.Giger, und er kannte diesen Künstler bereits. Er hatte das "Alien" erfunden. Tim kaufte das Buch, obwohl es damals seine Finanzen sprengte, und fand darin weitere Inspirationen. Allmählich fügte sich das Bild zusammen. Alle Teile fielen an ihren Platz. Die Musik, die Filme, die Bücher, seine Umwelt, all das wurde zu einer Herausforderung seine Andersartigkeit auszudrücken. Zuerst weigerte sich Tim länger das gut zu finden, was seine Mutter gut fand. Wenn seine Mutter etwas im TV ansah, vergrößerte Tim den Graben. Er fand das langweilig. Dass seine Mutter sich nicht für Sex interessierte, ihren Körper nachlässig behandelte, und nicht mal einen Freund hatte, machte seine Mutter verdächtig. In der Schule hörten die Teens andere Musik als er. Interessierten sich für andere Filme und andere Dinge. Tim fand das gut. Er vergrößerte den Graben, indem er anfing seine Kleidung zu ändern. Es kamen mehr schwarze Kleidungsstücke dazu. Er trug Doc Martens, Bowiehosen, Jacken aus Secondhand Läden, und irgendwann wurde es Zeit für einen richtigen Gruftimantel. Er gab seiner Mutter den Auftrag dafür, und einen Monat später hatte er seine eigene "Kutte". Er ließ sich einen Pferdeschwanz wachsen, und gelte seine widerspenstigen Haare streng nach hinten. Und sein braves Brillengestell wechselte er gegen runde Gläser ein, wie sie Hermann Hesse getragen hatte. Langsam nahm der Tim gestalt an, der er wirklich sein wollte. Alles was noch fehlte, war das richtige Umfeld.

Eines Tages kam Nobody zu Besuch nach Hamburg. Aus gegebenen Anlass. Ein Independentkonzert der besonderen Art. Nick Cave und ein dutzend anderer schräger Bands sollten an einem Abend in Hamburg spielen. Das ließen sie sich nicht entgehen Das Event wurde umso besser, als zu viel verkaufte Tickets und ausgesperrte Kartenbesitzer zu einem Großeinsatz der Polizei, in der großen Freiheit auf St. Pauli, führten. Nobody und Tim waren entzückt. Als sie aus dem Saal kamen, nach einer stundenlangen Lärmdusche, waren überall die Spuren von Krawall, Randale, und Zerstörung.

"Cool", sagte Nobody. "Ja", sagte Tim. Er freute sich, endlich an etwas teil gehabt zu haben, was nicht der bürgerlichen Eintönigkeit entsprach. Der Graben zwischen ihm und allem Normalen wurde größer und größer.



Als die Schulzeit zu Ende ging, sollte Tim, wie Mutter und Gesellschaft von ihm erwarteten, einen Beruf wählen. Also quälte er sich jeden Tag durch Zeitungen und Stellenanzeigen. Diese Zeitungen wogen Tonnen. Sie waren schwer wie Blei. Wenn Tim sonst ein Buch an einem Tag lesen konnte, fiel es ihm schwer zwei Anzeigen hintereinander zu lesen. Er wusste nicht wieso. Er wusste nur, dass es keinen Spaß machte. Es war auch nicht ganz einfach. Was sollte ein junger Mann in einer Welt machen, wenn er sich nicht für diese Welt interessierte? Zumindest nicht für die Welt, für die er sich interessieren sollte? Er hatte ein Lieblingslied in diesen Tagen. Das Lied hatte einen einprägsamen Refrain: "Birth, school, work, death". Er hatte nicht die Absicht sein Leben auf vier Worte reduzieren zu lassen. Je länger er sich durch Anzeigen quälte, desto frustrierter wurde er. Je frustrierter er wurde, desto mehr begann die Wut in Tim zu kochen. Er fühlte sich gezwungen ein Leben zu führen, dass er nicht führen wollte. Außer Nobody war da niemand, der das verstand und ähnlich fühlte. Selbst Anja war erschreckend angepasst, und starb für Tim, als er raus fand, dass sie einen Freund hatte. Einen Rechtsanwalt, mit einem dicken Mercedes. Wie langweilig war das denn? Ein Weibchen, das sich den Kerl mit dem Bankkonto angelte, aus Sicherheitsdenken? Aus Angst? Weil sie den Prägungen von Mami entsprechen wollte? "Verdammt, die Schnalle hat sie ja nicht alle", fluchte Tim, hakte sie ab, und tauchte tiefer in die Einsamkeit.

Als die Schule vorbei war, nahm Tim den einzigen Job an, zu dem er sich durchringen konnte. Verkäufer in einem neu eröffneten, riesigen Plattenladen. Er wollte in der Wave-Abteilung die kleinen Gruftigirls bedienen und mit Hintergrundinformationen über die unbekanntesten Band versorgen. Da zeigte sich wieder, wie wenig Tim von der wahren Welt wusste. Er konnte bei Depeche Mode und Stephen King in tiefste Traumwelten tauchen, doch war das keine Qualität, die in der Welt der angepassten Arbeitsbürger verlangt wurde. Das Einzige, was Tim in diesen Tagen mitnahm, war die Begegnung zu einem Pärchen, in seinem Alter, das auf die gleiche Musik stand. Mit ihnen besuchte er Gruftikonzerte und tauschte sich mit ihnen über Sisters of Mercy oder die Legendary Pink Dots aus.

Als im Plattenladen der erste Konflikt auftauchte, weil ein alter Sack, der auch nur Verkäufer war, ihn maßregelte, warf Tim den Job kurzerhand hin. Er setzte auf seinem Cure-Kalender ein Datum fest, und beschloss an genau diesem Tag nach Wien zu gehen, um dort an der Universität fantastischen Realismus zu lernen.

Erst am Tag des Abschieds bemerkte Tim, dass seine Mutter ihn immer tief geliebt hatte. Sie wünschte ihm alles Gute für den Weg, und in ihrem Gesicht zeigte sich fast so etwas wie eine Emotion. Tim reichte das allemal. Nach 18 Jahren, die seine Mutter ihre Gefühle zurück gehalten hatte, war das fast schon ein Gefühlsausbruch gewesen.

Von diesem Tag an, begann Tims Odyssee. Natürlich hatte er nicht genug Informationen gehabt, um einfach in Wien Kunst studieren zu können. Natürlich hatte Wien nicht auf Tim gewartet. Nein. Wien nahm Tim nicht zur Kenntnis. Sein Aussehen, seine düsteren Bilder, seine direkte Wut. All das passte nicht recht nach Wien. Wien war nicht wie Hamburg. Es war eine wunderschöne Stadt. Eine alte Stadt. Voller Kunst und Geschichte. Die Wiener waren aber ein sonderbares Volk. Sie waren nach oberflächlich freundlich und höflich, aber hinter dem Rücken wurde getratscht. Das missfiel Tim so sehr, wie der Wiener Dialekt. Nach nur zwei Tagen wusste er, dass er in Wien niemals Studieren würde, und da er noch genug Geld hatte, beschloss er kurzerhand weiter zu reisen.

Verknüpfungen von Überraschungen und Situationen und Reaktionen, führen ihn nach Griechenland, zurück nach Hamburg, und wieder zurück nach Griechenland, wo Tim mit 18 seine erste Frau traf. Eine Frau mit der sein sehnlichster Wunsch in Erfüllung ging. Sex. Mit 18 erfuhr Tim seine feierliche Entjungferung. Er hielt sich für den größten Liebhaber seit Don Juan, ohne eine Sekunde zu bedenken, dass die Frau zehn Jahre älter als er war, erfahrener, und Tim als ihren Urlaubsfick betrachtete. Diese Frau sollte Tims erste Lehrerin in Liebesdingen werden. Sie machte ihre Sache gut, denn zu keinem Zeitpunkt ließ sie Tim wissen, wie wenig er wusste. Sie ließ Tim entdecken, und Tim konnte den coolen Typ spielen, der eine Frau richtig behandelte.

Die Probleme, die sich recht schnell einstellten, hatten nichts mit seinen Fähigkeiten als Liebhaber zu tun. Sie waren von einer ganz anderen Natur, und alles was Tim anfangs bemerkte, waren sonderbare Missverständnisse. Es waren relativ harmlose Differenzen. Anfangs. Sie waren unscheinbar, wie kleine, haarfeine Risse in einer Wand. Mit zehn Jahren Zeitvorsprung und mehr Erfahrungen, war Judith klar, dass diese feinen Risse in der Wand, bald das ganze Haus zum Einstürzen bringen würden. Tim reichte es, dass seine Freundin attraktiv war, und er seine fantastischen Ideen von Liebe auf sie projizieren zu können glaubte.

Der Riss vergrößerte sich massiv, als Tim Judith ins Kino einlud, um mit ihr den Kultfilm aus Teenagertagen zu sehen. Den Film, den er mit seiner Freundin aus Hamburg gesehen hatte. Den Film, den er als Buch mehrere Male gelesen hatte. Die Liebesgeschichte zwischen einem verkannten Schriftsteller und einer manisch-depressiven Frau. Das Kino wurde dunkel, die Eröffnungsszene begann, das Paar liebte sich leidenschaftlich auf einem klapprigen Bett, die Kamera zoomte näher und näher - und der Filmvorführer hatte vergessen den Ton anzuschalten. Was mit Ton eine leidenschaftliche, feurige Szene war, ergab ohne Ton nicht den geringsten Sinn. Wenn überhaupt bot es Raum für allerhand unfreiwillig komische Gedankengänge. Das Kino füllte sich mit Gelächter, doch Tim fand es kein bisschen lustig. Wie konnte dieser Trottel von Filmvorführer die Anfangssequenz ruinieren. Der ganze Film war dadurch verhunzt. Damit das einzigartige Kinoerlebnis, das Tim Judith hatte schenken wollen. Er nahm das sehr persönlich, und als Judith  ins allgemeine Gelächter aller einstimmte, empfand er das fast als persönliche Kränkung seines außergewöhnlichen, exquisiten Geschmacks. Oder als Beschmutzung einer heiligen Erinnerung. Seine Stimmung ging auf steilen Sturzflug. Er regte sich über die Unfähigkeit des Vorführers auf, und hätte gerne Judith klar gemacht, warum es ihm soviel bedeutete, diesen Film "richtig" zu sehen. Allerdings hatte er da schon zugelassen, dass sein Ego einmal wild um sich schlagen hatte können. Judith hörte auf zu lachen, und schaute Tim in der Dunkelheit des Kinos ernst an: "Warum bist du so humorlos?", fragt sie. Humorlos? Er..? Tim..? Er war doch der Mister Humor persönlich. Jetzt fühlte er sich außerdem von Judith verkannt, und die Stimmung war im Minus-Bereich.

Als der Film von vorne begann, dieses mal mit Ton, war Tim frustriert, und konnte den Film nicht mehr genießen. Er fragte sich, was er falsch gemacht hatte, und bekam keine rechte Verbindung mehr zu Judith. Zum ersten Mal in seinem Leben, saß er neben der Frau seiner Träume und fühlte sich klein, lächerlich, und verletzt. Ein Zustand, verwirrender, als alles, was er bis dahin jemals erlebt hatte. Nicht eine Sekunde dachte Tim daran, dass er einen Fehler gemacht haben könnte. Nicht eine Sekunde, dass er nicht so gewesen ist, wie er sich in seinem Selbstbild vorstellte. Alles was da war, waren Schutzprogramme, die Schuld außerhalb von sich fanden. Zuerst beim Filmvorführer. Dann bei Judith.

Diese Nacht schliefen sie ohne Sex ein.



Judith war eine besondere Frau. Für Tim war sie außergewöhnlich, obwohl sie einen gewöhnlichen fünf Tage Job hatte, und ihre Wohnung klein und in Neukölln war. Sie war nicht die Künstlerin, die sich Tim erträumt hatte, doch sie war erfahren, reifer als er, sah gut aus, und sexuell gab es mit ihr viel zu entdecken. Sie hatten den gleichen Musikgeschmack, und sie konnten viel Zeit im Bett miteinander verbringen. Tim hielt sie für seine große Liebe, und bereitete sich darauf vor, "den Rest seines Lebens" mit dieser Frau zu verbringen. Während Judith sich fragte, ob es klug gewesen war, sich auf einen zehn Jahre jüngeren Mann, eigentlich einen Jungen, einzulassen. Sie mochte seine Verrücktheiten, seine unbedachten, spontanen Eingebungen. Doch hatte Tim wenig von einem „richtigen Mann“.

Am meisten mochte Judith Tim, wenn er sehr, sehr müde war. Wenn er erschöpft vom Plattenladen kam, kaum in der Lage einen Satz zu sprechen. Dann strahlte er für Judith etwas aus, wo sie ihre Vorstellungen einem coolen Typen rein projizieren konnte. Tim verstand nicht. Er fand sich am männlichsten, wenn er seinen Standpunkt vertrat. Notfalls laut. Wogegen Judith es nur peinlich fand, wenn Tim laut wurde. Tim wurde oft laut. Was ihm gegen den Strich ging, ließ ihn seine Fassung verlieren. Wenn er merkte, dass Judith das mäßig attraktiv fand, verwandelte er sich in einen kleinen, bockigen Jungen. Der bockige Junge fühlte sich zu unrecht gemaßregelt und kritisiert. Weil Judith dabei meist ruhig und sachlich blieb, war die Sache noch viel schlimmer für ihn. Da fühlte er sich bemuttert. Er wollte nicht bemuttert werden, und er wollte sich nicht so fühlen. Tim hätte besser damit umgehen können, wenn Judith ihm eine Szene gemacht hätte. So wie in den Filmen, die er kannte. Eine hysterische, um sich schlagende Frau, und anschließender Versöhnungs-Sex im heimischen Bett. Nur steig sie nie auf seine Provokationen ein. Sie ließ ihn auflaufen. Sie wies Tim nur darauf hin, dass er sich kindisch verhielte, oder unreif, und damit machte sie die Sache für Tim bald unerträglich. Er war ja der große Liebhaber. Der große, coole Typ. Der eine Mann unter Millionen, der ganz anders war. Ihm kam nicht in den Sinn, dass da noch viel mehr möglich war. In all seiner Größe verkannte Tim die Möglichkeit, dass es noch größer ginge. Viel größer. Viel stärker. Viel weiser. Tim verkannte auch, dass es manchmal nur Kleinigkeiten waren, die ein geregeltes Leben aus der Bahn werfen konnten. Manchmal hatte diese Kleinigkeit die Größe und Form eines Zigarillos. Manchmal roch so eine Kleinigkeit wie ein Zigarillo.

Tim befand sich gerade mit Judith auf dem Rückweg von einem weiteren Missverständnis. Sie saßen in einem Bus, es war Nacht, und die Stimmung mäßig bis schlecht. Tim fühlte sich wieder einmal gemaßregelt, und er war so sauer, dass er sich gar nicht erinnern konnte, worum es eigentlich gegangen war. Er saß  mit Judith in einem Berliner Doppeldeckerbus, und schaute nach draußen, als tatsächlich hinter ihm ein Typ einen Zigarillo anmachte und ihn seelenruhig im Bus paffte. Dies war für Tim die Gelegenheit zu zeigen, dass er ein richtiger Mann war.

Er sprang auf, drehte sich um, und machte den jungen Typ hinter sich wütend an, und forderte ihn auf:

"Mach sofort das stinkende Ding aus".

Der Typ würdigte Tim keines Blickes, aber viel schlimmer war, als Judith sagte:

"Setz dich. Das ist ja voll peinlich", und den Rest der Fahrt kein Wort mehr mit ihm sprach. In diesem Moment stürzte das schöne Liebesgebäude ein, und Tim verstand die Welt nicht mehr.

Der Mann, als der sich Tim sah, hätte cool reagiert, und überlegt, wo sein Fehler gelegen hatte. Tim war nicht der Mann für den er sich hielt. Die Liebesgeschichte, die ein Leben dauern sollte, endete nach wenigen Monaten, und machte Tim schwer zu schaffen.



Gerade einige Monate dem Heim seiner Mutter entkommen, war er bereits das erste Mal in der Liebe gescheitert. Er schwor sich, die Sache das nächste Mal klüger anzugehen, und ließ darum keine Gelegenheit aus, weiter Dummheiten zu begehen. Tim wurde ein wahrer Experte im Dummheiten anstellen. Frauen kamen und gingen, Liebe kam und ging, Jobs kamen und gingen, Geld kam und ging, und Tim glaubte weiterhin, er hätte Einfluss auf die Ereignisse seines Lebens. In einem Moment totaler Leere und Einsamkeit, befanden sich fünf Frauen in Tims näherem Umfeld, und er beschloss eine von ihnen zu seiner Freundin zu machen. Er war der festen Überzeugung, dass es genügen würde, Lieben zu wollen, um alle Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen.



Er suchte sich von den fünf Frauen die aus, die ihm passend erschien - und ohne es zu ahnen, hatte er die, mit dem tiefsten Abgrund ausgewählt. Nach drei Tagen und dem ersten Sex mit ihr, wusste er hundert Prozent sicher, dass diese Frau nicht zu ihm passte. Monatelang versuchte er seine Gewissheit zu widerlegen. Die blonde, polnische Frau war zweifellos das schönste Mädchen, dass sich ein junger Mann wünschen konnte, doch leider stimmte etwas nicht. Tim konnte es sich über ein Jahr nicht erklären. Bis er die Symptome seinem Freund beichtete. Peinliche Details aus einem unerfüllten Sexleben.

"Das klingt, als wäre sie vergewaltigt worden", sagte sein Freund. Tim war sicher, dass da was dran war. Augenblicklich ergab ihr ganzes Verhalten Sinn. Ihre Distanz. Ihre Unsicherheit. Ihre Lustlosigkeit. Ihr Widerwillen Tim anzufassen.

Tim begann vorsichtig diese Idee in Gespräche einfließen zu lassen.

"Kann es sein, dass dir mal was Schlimmes passiert ist?", fragte er.

"Nein", antwortete sie. Damit war das Thema erledigt - doch die Symptome blieben.

Bis sich das Mädchen eines Nachts erinnerte. An ihre Vergewaltigung in einer Mädchenpension auf einem Schulausflug. Plötzlich lag ein Opfer neben ihm im Bett. Tim konnte sich nicht erinnern, sowas mal in Filmen gesehen zu haben. Wie ging man damit um?

Wie er es von der Moralindustrie gelernt hatte, versuchte er fortan besonders liebevoll und einfühlsam zu ihr zu sein. Unlinear wie das Leben nun mal war, begann nun keine großartige Liebesgeschichte. Das Mädchen war Tim nicht dankbar bis ans Ende aller Tage. Tim verstand weder die menschliche, noch die frauliche Psyche. Er hatte ihr gespiegelt, was sie jahrelang erfolgreich verdrängt hatte. Tim glaubte, sie würde sich erleichtert fühlen. Sie würde Tim vertrauen. Sie würde über das Opfergefühl und ihre Scham hinauswachsen. Bis sie eine Beziehung mit seinem besten Freund und Arbeitgeber begann. Das Ende war bereits da, doch es benötigte noch eine filmgerechte Pointe.

In einer Nacht wie jeder Anderen, beschloss Tim wieder einmal LSD zu nehmen. Er hatte über die Jahre viel Erfahrung damit gesammelt, und konnte die Substanz ziemlich gut einschätzen. Bevorzugt hörte er auf LSD Musik und zeichnete. Seine Freundin war nicht da, also konnte er ruhig auch etwas lauter Musik hören. Bevor der Trip zu voller Farbenpracht hochfahren konnte, kam seine Freundin von seinem besten Freund zurück, und ging in ihr Zimmer.

"Verflucht", dachte Tim, und fühlte sich in seiner Freiheit eingeschränkt. Es war auch kein Wunder, dass er das Gefühl hatte, dass das LSD nicht recht wirkte. Es plätscherte so vor sich hin. Es benahm sich wie ein lauer Wind, der an einer losen Tür rüttelte. Tim versuchte in der Musik die unerwarteten, psychedelischen Überraschungen zu entdecken, die er sonst von Trips kannte, doch sie blieben aus. Stattdessen kam seine Freundin ins Zimmer, und bat Tim, die Musik leiser zu drehen. Nunja. Sie bat ihn nicht direkt. Sie forderte es von ihm. Was Tim nicht gefiel. Er sagte "Nein".

Seine Freundin beugte sich runter, und drehte die Musik leise. Dann ging sie wieder aus dem Zimmer. Tim lag auf dem Boden, und staunte, wie frech seine Freundin war. Dann griff er nach dem Lautstärkeregler und drehte ihn in seine ursprüngliche Position.

Gleich darauf stand seine Freundin wider im Zimmer.

"Mach sofort leiser", sagte sie.

"Nein", sagte Tim.

Sie beugte sich runter um die Lautstärke runter zu drehen.

"Fass das nicht an", sagte Tim, und war ganz cool. So cool, wie vielleicht noch nie in seinem Leben. Es gab keine Wut in ihm. Keinen Ärger. Keine Frustration. Da war vollkommene Entspannung. Es war ganz wie in den Filmen, die er jahrelang gesehen hatte. Er überließ es ihr, eine Entscheidung zu treffen. Er wollte nur Musik hören. Sie wollte sich einmischen. Würde sie den Regler auch nur anfassen, dann wäre das nur ihr Problem.

 

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