Naturromantik 

 

Als ich in Thailand war, wollte ich noch kotzen, als ich sah, mit welcher Konsequenz dort der Natur der Krieg erklärt worden war. Ich war auf der Suche nach dem „unberührten Thailand“. Eindeutig die romantische Fantasie eines verwöhnten Europäers. Eine unrealistische Vorstellung eines Deutschen, der vor allem die gezähmte und begradigte Natur kannte, wie sie in Deutschland, Österreich und der Schweiz überwiegend vorzufinden ist. Eben vor dieser domestizierten Natur hatte ich auch flüchten wollen. Das „Ursprüngliche“ erleben wollen. Und so beklagte ich mich einerseits, dass es in Thailand kaum einen Flecken gab, der nicht von Zweibeinern beansprucht wurde, sogar Wege in die Natur umzäunt waren, und andererseits, dass es keine Straßen in den Dschungel zu geben schien. Als es mir dann endlich mal gelang, einen solchen Platz ursprünglicher Natürlichkeit bei einem Flussbett durch den Dschungel zu finden, wusste ich eindeutig nicht, was ich tat. Ich war in der Mitte von nirgendwo, mit meinen europäisch verkitschten Bildern von Natur im Kopf, und wagte ein Bad in der Wildnis.

Als ich dann das erste Mal in meinem Leben eine Affenhorde durch die Bäume jagen hörte, klang das alles andere als freundlich, oder als würden sie mich auf eine Banane einladen, wenn sie mich träfen.

 

Nur ein paar Jahre später, und nur zwei Monate wahrer Natur in Zypern hinter mir, hat sich mein ganzes Verständnis aller Zusammenhänge komplett gewandelt. Nicht nur, dass ich mir heute bewusst darüber bin, dass ich im Thailändischen Dschungel russisches Roulette gespielt hatte. Vor allem kommt mir meine Naturromantik abhanden. Naturromantik, die im Namen von „Ökologie“ schon in der Schule an mich heran getragen wurde. Gebaut auf der Basis von maximalem Nachkriegsluxus. Ja, Deutschland ist so reich, dass es sich keine Gedanken mehr darüber machen musste, wie die Natur gezähmt werden könnte, sondern wie man ein paar Stellen wieder in einen pseudo-ursprünglichen Zustand zurück versetzen könnte. Thailand ist davon noch weit entfernt, und Zypern ebenfalls. Hier gibt es eine Durchsetzungskraft der Natur, die man sich in einem deutschen Vorgarten nicht vorstellen kann. Der Schrei der wilden Natur ist so laut, dass die Erde bebt. Man muss nur 5 Kilometer ins Landesinnere, und augenblicklich sind die Touristenattraktionen der Strandgänger vergessen.

 

Es geschieht mir hier öfter, dass sich mir ökologisches Gedankengut aufdrängt, und ich mich vor Lachen schütteln möchte. Weil sich bei den ökologischen Ideen ein grundsätzlicher Fehler eingeschlichen hatte. Die Grundidee, dass die Zweibeiner Feinde und Zerstörer der Natur seien, und wir die Natur vor uns retten müssten. Dass ist insofern putzig, weil ich im Umkreis von mehreren Kilometern nicht ein Lebewesen finden kann, das sich nur einen einzigen Gedanken über uns Zweibeiner macht. Ich bin mir nicht mal sicher, ob sie uns wahrnehmen. Wenn es um verzerrte Wahrnehmungen geht, sind die Philosophien von Luxusländern ziemlich gut. Ob die Leute, die am lautesten nach der Rettung der Natur rufen, jemals etwas anderes als domestizierte Natur erfahren haben? Und falls ja – behielten sie dann ihre Walt Disney Tierromantik Brille auf?

 

Mir ist sie abgefallen, diese Brille, und ich habe langsam eine Idee, wie Tiere uns wahrnehmen dürften. Als vage Schemen, unscharfe Phantome, die durch die Landschaft huschen, und nichts, aber auch absolut überhaupt nichts, mit ihren Leben zu tun haben. Und ohne die verklärende Kitschbrille der Kinder-Tiercomics, bemerke ich, wie sich bei mir eine ähnliche Sicht einstellt. Tiere sind nur bewegte Objekte in der Landschaft, mal mehr, mal weniger laut, mal mehr, mal weniger aggressiv oder gefährlich, und haben absolut nichts mit meinem Leben zu tun. Ja, liebes Lesewesen, das passiert, wenn man den Eigennutz aus der Gleichung raus nimmt. Ich will nicht meine Liebesfantasien auf Wesen projizieren, die sich nicht wehren können, oder darin eine Chance sehen, sich einen vollen Futternapf zu erschleichen. Auch wenn Feuerlibellen extrem cool und schön anzusehen sind.

 

Ich hatte seit langem die Tendenz entweder alle Tiere gleich schön und liebenswert, oder gleich abscheulich zu sehen. Kakerlake ist gleich Plüschkätzchen. Inzwischen sind beide Sichtweisen einer gewissen Neutralität gewichen. Solang sie sich nicht in mein Leben einmischen, sind mir alle Wesen, und wie viele Beine sie haben, einigermaßen egal. Manchmal nehme ich ihr lärmendes Spektakel wahr, wenn sie sich streiten, oder sonst wie ihre Wut oder Freude, was weiß ich, ausdrücken wollen. Eindringen in meinen Lebensraum, mein Haus, meinen Garten, wird mit rausschmiss oder Tod bestraft. Je nachdem, wie aufdringlich das Wesen ist.

 

Nach nur zwei Monaten in der wahren Natur, ist in mir ein Mörderinstinkt erwacht. Bereit meine eigenen Interessen über die irgendwelcher ökologischer Schönspülerei zu stellen. Und warum? Weil die Natur sich eben nicht um uns tolle „Menschen“ kümmert. Ich möchte aufschreien, vor Lachen, wenn ich an Naturmärchen á la „Anastasia“ denke, wo Ideen vermittelt werden, die Natur würde nur auf uns warten. Ja, klar, ein einsames Girl in der Taiga, im Miniröckchen... Sicher doch... Ich muss nicht schreiben, dass ich das gerne sehen würde, weil eindeutig eine Lüge. Wer auch immer in der Taiga leben will, wird alles daran setzen, die Haut vor Stechgetier zu schützen. Esoterische Soft-Ideen stoßen dort wie auch hier ganz, ganz schnell an eine Grenze, wenn Frau oder Herr Eso überrascht feststellen, dass Moskitos sich nicht um die Farbe einer Aura kümmern.

 

Irgendein Freund hatte mir einmal gesagt, wir lebten auf einem Raubtierplaneten. Das hatte ich damals nicht glauben wollen. Doch heute sehe ich, dass die schönen, moralischen Ansätze des Gebens und Mitgefühls, keine Zustände der wahren Natur sind. Dass es einen Unterschied gibt, zwischen dem, was man auf Bildern, in Filmen, oder Büchern sehen kann, und wie es sich anfühlt, mitten drin zu stecken. An dieser Stelle möchte ich Berufsschwarzseher Stephen King anführen, der mit seinem Roman „Das Mädchen“, eine halbwegs akzeptable Version dessen geschrieben hat, was passiert, wenn man die sichere, domestizierte Natur verlässt. Welche Schrecken nur ein paar Kilometer abseits der domestizierten Natur auf einen warten, und dass kein singender Bär antanzen und dir die Hand reichen wird.

 

Wenn ich heute an Natur denke, dann stellt sich mir die Frage, wie es überhaupt möglich sein kann, mit unserer verweichlichten Bequemlichkeit, das richtige Maß an Balance hin zu bekommen. Natur zähmen, ohne sie zu zerstören? Hübsch gedacht, doch was in manchen Ländern funktionieren mag, ist in anderen Ländern völlige Utopie. Die Natur vertreiben? Auslöschen? Auch nicht gerade eine schöne Vorstellung. Es gibt da ein Comic von Jodorowsky, in dem ein Szenario entwickelt wurde, dass auf diesem Planeten nur noch ein Wald und ein größerer Ozean erhalten geblieben sind. Alles sonst, war komplett zubetoniert und begradigt worden. Inklusive des menschlichen Lebens, das nur noch mit Drogenmixturen geführt werden konnte. Ein mindestens so unschönes Bild, wie in der Natur von Insekten „aufgefressen“ zu werden. Denn das ist eine Realität, die kaum jemand mehr wahrnehmen möchte, weil „Natur“ nur noch das ist, wo man mal Urlaub macht, oder man spricht von Natur, meint aber domestizierte Natur. Es macht tatsächlich einen unterschied, ob man sich einem Umfeld aussetzt, das sich nicht für dich ändern wird, nur weil du edle (romantische) Gedanken in dir hast.

 

Eine der Tatsachen, die wirklich schwer zu verdauen ist, ist die, dass die Natur nicht nach unserer Ökologie gefragt hat. Es ist ein typisches Zweibeinerkonstrukt. Beschäftigungstherapie für Leute, die irgendwas bezwecken wollen, was der Natur völlig egal ist. Hier in der wahren Natur, wird mir die lächerliche Anmaßung der Zweibeiner wieder deutlich. „Wir“ und die „Welt retten“? Nie war mir deutlicher, dass die Welt keine Rettung braucht, und dass sie sich nicht mal an die Zweibeiner erinnern wird, sollten sie eines Tages von der Erdoberfläche verschwunden sein. Die Erde wird immer Wege finden, neue abstruse Auswüchse des Lebens auf die Erde zu spucken. Mit oder ohne uns. Egal was wir dazu denken oder sagen. Und kann es vielleicht sein, dass gerade diese Gleichgültigkeit der Natur uns dazu anstiftet, allerhand Bedeutungen zu erfinden, wo keine sind? Weil wir es nicht schaffen, mit unserer Hirnmaße und der regen Aktivität darin, zu ertragen, dass da kein Sinn ist?

 

Wenn es eine übergeordnete Botschaft der Natur an mich gibt, dann die, von allen, auch meinen liebsten eigenen Konstrukten, loszulassen, und zu leben, so lang ich lebe. Kein Karma. Kein Schicksal. Keine Hoffnung. Keine Moral. Keine Liebe. Kein Leben danach. Nur ein Mysterium, das sich komplett allem entzieht, was ich mir zurecht lege. Und wehe, wehe, ich lege mir doch was zurecht. Nenne ich etwas schön, gut, angenehm, kommt die Keule des Lebens garantiert im Anschluss. Und will ich alles Scheiße finden, und überlege, wie viele Schlaftabletten es bräuchte, um dieses Sein in Dauerschlaf zu versetzen, fährt das Leben garantiert ein Riesenpaket Schönheit an.

 

 

So gesehen sind die kitschigsten Fantasy-Märchen dann paradoxer weise näher an der Wahrheit, als alle Wissenschaften zusammen. Aber darauf kann man auch kein Süppchen kochen...