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Der Kalender

 

Haben Sie einen vollen Kalender? Schick modern mit allerhand cleveren Gimmicks als digitales Spielzeug, oder altmodisch auf Papier, das Sie als Buch komprimiert mit sich herum tragen? Sicher hatten Sie eine Zeit, in der Sie lernten, wie Sie die Ereignisse und Termine eintragen und organisieren. Sicher gab es auch bei Ihnen einen gewissen Stolz, wenn Sie Ihre Zeit geschickt einteilten, und möglichst viele Termine in einen Tag pressten. Schließlich ist das ein dokumentierter Beweis für Ihre Wichtigkeit und dass Sie gebraucht werden. Gebraucht werden, heißt nicht geliebt werden, aber es ist ein wunderbarer Ersatz; es hält Sie beschäftigt.

 

Eben diese Beschäftigung wird mit Lebendigkeit gleichgesetzt. Etwas zu bewegen. Dazu sind die Zweibeiner schließlich auf der Erde. Aktivität ist Leben, Aktivität ist darum gut. Weshalb Sie Ihre Schlafenszeiten höchstwahrscheinlich nicht extra eintragen. Schlaf, ist die lästige Begleiterscheinung nach einem ereignisreichen Tag. Idealerweise fallen Sie erschöpft und glücklich ins Bett, um am nächsten Tag Ihre bevorstehenden Termine abzuarbeiten. Können Sie nicht einschlafen, haben Sie vermutlich nicht genug getan.

 

Es sind ausgerechnet diese Momente des Stillstands, wenn das Gehirn anfängt lustige Kapriolen zu drehen. Im Verständnis der modernen Welt der Geschäftigkeit, gilt es eben diesen Zustand zu vermeiden. Es könnten unerwünschte Fragen, oder sogar unbequeme Antworten aufkommen. Diese Vermeidungsstrategie ist überall anzutreffen und allgemein akzeptiert. Wer den Tag nicht ausgefüllt hat, greift zu Alkohol oder Downern, und auch das ist allgemein akzeptiert. Was selten mit in den Bereich der Ereignisse gedacht wird, sind die kleinen, üblichen Alltäglichkeiten der Routine. Ihr Morgenritual aus Körperpflege, Frühstück, Anziehen, oder Fahrten zu ihren Terminen. Oder Einkäufe, Wartung, Fahrten nach Hause, Essen oder Abwasch machen. Das wird selten Platz im Kalender finden, obwohl es ebenso, wie jeder andere Termin, Zeit und Energie beansprucht.

 

Doch wen kennen Sie, mit der Fähigkeit Ruhepausen als Termin und Ereignis in den Kalender einzutragen? Mit der gleichen Ernsthaftigkeit und Wichtigkeit, wie ein Termin, an dessen Ende Geld, Aufmerksamkeit, Erfolg oder Macht herausspringen?

 

Hier ist das generelle Problem mit den stillen Phänomenen des Lebens. Sie entziehen sich Beweisen und offensichtlichen Materialisationen, auf die Sie wie auf Holz klopfen können. Die stillen Phänomene des Lebens funktionieren auf einer anderen Ebene. Wenn Sie eine Begründung suchen, wozu sowas gut sein soll, möchte ich Ihnen versichern, dass es Gesundheitspflege ist. Unerlässlich für die tägliche Portion Frieden, in der die Ereignisse an ihren Platz fallen dürfen. Sogar der schnellste Computer benötigt Zeit, um Daten zu verarbeiten und auf die Festplatte zu speichern. Stellen Sie sich vor, Ihr Hirn wäre ein Biocomputer, und vielleicht können Sie dann akzeptieren, dass auch der etwas Zeit braucht, um die vielen, oft versteckten Botschaften des Lebens auszuwerten. Das geht beim Computer am besten, wenn man in diese Verarbeitungszeiten nicht eingreift. Auch das Säugetier-Hirn verlangt nach solchen Zeiten. Wie beim Computer sind alle Verarbeitungszeiten Schätzungen. Wie lang es wirklich braucht, lernen Zweibeiner meist über viele Jahre der Beobachtung. Sofern sie sich die Zeit zum Beobachten nehmen.

 

Sich Zeit für die Prozesse der Verarbeitung, fürs Verdauen der Erlebnisse zu nehmen, kommt fast grundsätzlich zu kurz. Zumal diesen meist als Faul diskreditierten Zeiten, in der Gesellschaft wenig Beachtung beigemessen wird. Versuchen Sie einmal in einer Gruppe aktiver Geschäftiger, eine Position der Ruhe einzunehmen, und sich nicht von der Geschäftigkeit infizieren zu lassen. Versuchen Sie einmal, die neidischen, missgünstigen Blicke und Sprüche an sich abperlen zu lassen, wenn Sie können. Ziehen Sie in Betracht, dass es eine globale Hypnose gibt, die alle Geschäftigkeit schamlos idealisiert, und aller Ruhe mit bestenfalls Misstrauen gegenüber steht. Wenn nicht offene Verurteilung, mit anschließender Lynchjustiz ohne Gnade.

 

Die heutige Zeit macht es unvorstellbar leicht, eine unendliche Abfolge von Ereignissen aneinander zu reihen. Bis hin zum Entertainment aus elektronischen Spielzeugen, das Ausdruck eben dieser ständigen Verfügbarkeit von Aktivitäten darstellt. Konsum ist eine Art passiver Aktivität. Nur weil Sie Ihren Körper nicht bewegen, heißt das nicht, dass er nicht bewegt würde. Mental, Emotional, und auf Ebenen, die von der Wissenschaft einhellig weggeleugnet werden, weil sie nicht mit Geräten gemessen werden können.

 

Sie müssen kein Zen-Mönch sein oder werden, um die Bedeutung von Ruhe und Stille zu erkennen. Das sind die Räume, aus denen das ganze Sein die Kraft schöpft. Es ist ein großer Irrtum zu glauben, lesen, Filme sehen, kulturelle Beschäftigungen, Treffen mit Freunden und Geliebten, Sex, Sport, und sogar der schwer verdiente Urlaub, wären Ruhezeiten. Es sind Ereignisse, die Bewegung erzeugen, auch wenn Ihr Körper keinen Muskel rührt. Wer in den Urlaub fährt, glaubt gerne, dass allein das Etikett für Entspannung sorgen würde, ohne zu bedenken, dass Strecken zurückgelegt werden, und viele praktisch materielle Aufgaben bewältigt werden wollen, ehe man das erste Mal die Zehen in den warmen Strandsand bohrt.

 

Seil vielen Jahren beobachte ich völlige Blindheit gegenüber der wahren Zeit. Nicht der Zeit, die mit Uhren und Kalendern gemessen wird, sondern der Zeit, die vom Rhythmus und den Bedürfnissen des Herzens angegeben wird. Stille und Ruhe sind die ungeliebten Kinder, die am ausgestreckten Arm verhungern.

 

Dabei ist es ganz einfach. Spätestens seit Buddha werden Weise nicht Müde, auf Endlos-Loop geschaltet, zu wiederholen und zu wiederholen, dass Meditation der Ausgleich für alle Geschäftigkeit ist. Wäre es da nicht angemessen, eine Balance anzustreben? Ein Leben, das in den Wachzeiten zu 50% aus Aktivität und zu 50% Stille bestünde? Sie lachen? Sie meinen, das ginge nicht? Und außerdem sei genau dafür der Schlaf gedacht?

 

Schlaf ist auf der unbewussten, unterbewussten Ebene wunderbar. Manche Aufgaben werden tatsächlich im Schlaf gelöst und durch Träume werden Hinweise und Antworten geliefert. Vorausgesetzt man kann Träume lesen. In die Stille tauchen ist anders als Schlaf und Träume. Das Bewusstsein bleibt eingeschaltet und führt in ein Reich, jenseits von Worten und Erklärungen. Stille erklärt nichts, beweist nicht, und hat nicht mal die Absicht irgendwohin zu führen. Der bewusste Eintritt in dieses Reich ist der freiwillige Austritt aus dem Rad des Lebens. Vermutlich ist es eben diese Nähe zum Tod, die so viele Zweibeiner abschreckt. Stille zieht einen sanft aus den Zwängen der Zeit, und in diesem zeitlosen Raum, werden Verstrickungen und Illusionen deutlich. Was natürlich Auswirkungen auf Ihr Leben nach den Vorgaben eines Kalenders hat. Sie werden zwangsläufig auf die Sinnfrage hinter all Ihrem Handeln gestoßen. Und dann werden Sie vor die Wahl gestellt. Ob Sie so weitermachen, oder etwas ändern. Ob Sie Ihr Leben leben, oder Funktionieren, wie es unsichtbare Phantome von Ihnen erwarten.

 

Das heißt nicht, dass Sie Ihren praktischen Kalender aufgeben sollen. Es ist ebenso ein Werkzeug, wie Uhr, Computer und Telefon. Sollten Sie jedoch aufgehört oder niemals angefangen zu haben, Räume der Stille zu betreten, haben all diese Werkzeuge den Charakter von Fesseln und Gefängnissen angenommen. Fragen Sie sich in einem Moment der Stille, wie viel Ihnen Freiheit, Glück und Liebe wirklich bedeuten. Und ob Sie darauf wirklich verzichten können.