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Verrücktheit Und Wahnsinn

Verrücktheit war mir stets ein erstrebenswerter Zustand. Für mich drückte dieser Begriff eine gesunde Abweichung der Norm dar. Groß anstrengen musste ich mich da nicht. Egal was ich dachte, fühlte, sagte oder tat – auf regelrecht magische Weise, wich ich von den Erwartungen der Norm ab. Machte mich in den Augen anderer zum Narren, oder wurde mit Ablehnung und Aggression bedacht. Die wenigen, die mich gut fanden, hatten meist selbst die eine oder andere Affinität für Verrücktheit. 

Es existiert auch eine andere Art der Verrücktheit, die von der Psychologie mit langen, unaussprechlichen, lateinischen oder griechischen Namen behängt wird, und im Wesentlichen aus Traumata erwächst. Seit Einführung des Internets, wurden psychologische Ideen in die entlegensten Winkel der Erde und aller Gehirne getragen. Seitdem ist Psychologie ein gigantischer Markt geworden. Es gibt fast so viele Psychologen, Psychiater und Therapeuten, wie Zweibeiner mit Heilungsbedarf. Für jeden neuralen Schluckauf, gibt es wenigstens 10 Bücher und 23 Therapien. Therapie ist längst nichts mehr, weshalb sich irgendwer zu schämen hätte. Im Gegenteil. Ein wenig ist der persönliche Dachschaden auch ein Schmuck geworden. Soweit ist die Welt in Ordnung. Irgendein Hobby braucht der Zweibeiner.

Inmitten all der Versuche der Bewusstwerdung und Heilung, gibt es einen gigantischen blinden Fleck. Eine Art schwarzes Loch, das alle Anstrengungen der Zweibeiner hinfällig macht. Fast sieht es so aus, als wären die Bemühungen der Zweibeiner darauf ausgerichtet, von diesem schwarzen Loch abzulenken, und es auf diese Weise zu füttern und zu vergrößern. Es ist allgegenwärtig, durchtränkt alle Kulturen, und würde augenblicklich manche Therapeuten arbeitslos machen, würde darüber gesprochen. Was praktisch nie passiert. Es gibt Dinge, über die wird kollektiv geschwiegen. Beziehungsweise eine allgemein gültige, universelle Wahrheit ausgesprochen, die von allen Zweibeinern stillschweigend akzeptiert wird; akzeptiert werden muss. Momentan haben die Plattformereien des Internets die Aufgabe eines manipulativen Medizinmannes oder schlechten Königs übernommen. Sie geben vor, was geglaubt werden muss, welche Norm die richtige ist, und worüber man die Klappe zu halten hat. Wer die falsche Gesinnung und alternative Ansichten hat, wird durch Logarithmen zensiert und wegignoriert. Schöne neue heile Welt.

Die Liste der Tabuthemen ist nicht besonders lang, aber äußerst interessant. Der Verrückte in mir, möchte bevorzugt darüber reden, und diese Themen sind ein hervorragender Parameter dafür, ob ich es mit einem bewussten, weltoffenen Herz, oder eben doch nur mit einer fremdgeprägten Marionette zu tun habe. Bis vor kurzem glaubte ich, das Tabuthema Nummer eins wäre der Tod. Das musste ich berichtigen, als ich bemerkte, dass niemand freiwillig bereit war, über die eigene Hilflosigkeit zu sprechen. Doch sogar ich bemerkte erst spät, dass es ein Thema gab, das sogar diese Supertabus haushoch überragte. Niemand redet ernsthaft darüber, was es bedeutet, keine Zeit mehr zu haben.

„Ich habe keine Zeit“, ist eine gängige Floskel, die alles und nichts bedeutet. In einem anderen Text schrieb ich einmal, dass es eigentlich heißt: „Andere und Anderes sind mir wichtiger als du“. Was inzwischen erweitert werden musste. Das Ausmaß der „Keine Zeit“ Verstrickung ist mittlerweile jenseits des Beschreibbaren, und daher etwas, was unbedingt verschwiegen und gemieden werden muss. Anderenfalls brächen Kartenhäuser wie der Turm zu Babel in sich zusammen. 

Es war zu Anfang des Millenniums, als ich erste Vorankündigungen dessen bemerkte, was inzwischen zum Standard geworden ist. Gute Freundinnen und Freunde hatten „keine Zeit“ mehr, weil gestiegene Lebenshaltungskosten sie zwangen, mehrere Jobs anzunehmen, um halbwegs über die Runden zu kommen. Womit gemeint ist, die Basics zu erhalten. Von Luxus und Reisen nach Mallorca ist da nicht die Rede. Fast von einem Tag auf den anderen, waren Freundschaften verschwunden und durch digitale Simulationen ersetzt worden. Die bequem und zeitsparend auch von Zuhause gespielt werden konnten. Nicht mehr die Qualität einer Freundschaft zählte, sondern die Menge digitaler „Freunde“ – die man oft nicht persönlich kannte, für die man niemals Zeit hatte oder haben musste, und in einem realen Treffen wahrscheinlich sogar unerträglich dämlich gefunden hätte. Inzwischen ist diese lächerliche Beschäftigungstherapie zur gesellschaftlichen Norm geworden. Genau wie die Tatsache, dass niemand mehr Zeit hat. 

Wo das Problem liegt und was das mit Verrücktheit zu tun haben soll?

Es gibt recht hartnäckige Naturphänomene, die auch durch Philosophieren und Glauben bisher nicht geändert wurden. Zum Beispiel kann man nur eine bestimmte Anzahl von Bällen gleichzeitig jonglieren. Irgendwann ist der Moment erreicht, wo alle Übung nichts daran ändert, dass geordnetes Jonglieren ins Chaos mündet. Mir ist das so logisch, einfach und selbstverständlich, dass es in meinem Leben kein Thema ist. Ich renne nicht schneller, als meine Schutzengel fliegen können. Was den Kontrast umso mehr erhöht, weil es für so ziemlich alle anderen ein riesiges, unbeachtetes und weggeleugnetes Thema ist.

Sehe ich mich um, scheinen andere Herzen keine Gelegenheit auszulassen, sich zu den bestehenden Aufgaben, Baustellen und Verstrickungen, auf täglicher Basis, neue Verstrickungen ans Bein zu binden. Darauf angesprochen ist die häufigste Reaktion ein herzhaftes „Häh..?!“

Das „Keine Zeit“ Thema geht Hand in Hand mit dem Mythos der heiligen Leistung. Die wiederum tief verankert ist, in den verletzten Kinderherzen, die Liebessurrogate mit Leistung erkaufen mussten. Oder anders gesagt: Leistung ist gut und erstrebenswert – um jeden Preis. Auch um den Preis des Verlusts von Freundschaft, Liebe, oder Gesundheit. Der geistigen Gesundheit. 

Zeit zu haben, ist nicht zwangsläufig ein Universalheilmittel. Das Aspirin für die vergewaltigte Seele. Es würde allerdings manche Therapie hinfällig machen. Weil es oft völlig reichte, sich einmal zurück zu lehnen, und die Stürme vorbeiziehen zu lassen. Was kaum jemand wagt. Man könnte für „faul“ gehalten werden. Pfui, pfui, pfui!  Weshalb es völlig normal geworden ist, die eigene Gesundheit bis zum Herzstillstand oder unerklärlicher Krankheiten zu strapazieren und zu stressen. Das erscheint mir verrückt, doch in der Masse ist das „normal“. Wellness ist heute ein Urlaub, den sich Wohlhabende leisten, um dann und wann, zwischen zwei Terminen die Füße auszustrecken, damit auf Fakebook anzugeben, und viel schwerverdientes Geld dafür auszugeben.

Wie jedes Kartenhaus, erfordert auch die Leistungsbesessenheit ein gutes Fundament. Das kaum jemand baut, weil kaum jemand sich bewusst ist, wie ein Schritt zum nächsten führt. Niemand kann in die Zukunft sehen, egal wie clever geplant, und meist springen die Zweibeiner ohnehin gern wagemutig ins Verderben. Hauptsache Beschäftigung. 

Wer lang genug auf dieser Straße reiste, wird eines Tages den Punkt erreichen, da die unkontrollierbaren Jonglierbälle wie Geschosse einschlagen. Dann verwandelt sich das, was mir verrückt scheint, in unbeschreiblichen Wahnsinn. Der sich in unberechenbaren Aktionen meines Gegenübers ausdrückt. Einfach, weil keine Zeit mehr besteht, keine Übung darin, einen Schritt zurück zu treten, inne zu halten, nachzudenken und nachzufühlen, und erst dann eine Reaktion folgen zu lassen. Der Wahnsinn der heutigen schönen schnellen Welt besteht darin, dass sogar die schnellsten und besten Supercomputer eine Grenze haben, wo die gesammelten Daten nicht länger verarbeitet werden können. Es geht nur mehr darum, das Spiel am Laufen zu halten. Um die Bewegung als solche. In diesem Zustand verschwindet all das, was angeblich zum Mensch machen würde. Menschlichkeit verwandelt sich zunehmend in einen versteckten Schatz, für den es keine Schatzkarte mehr zu geben scheint. Wenigstens wollen die Wahnsinnigen das glauben. Anderenfalls müssten sie anhalten. Was sie direkt mit ihrer Vergänglichkeit konfrontieren würde. Und alles, bloß das nicht. 

Tatsächlich könnte mir dieses Phänomen, dass niemand mehr Zeit hat, völlig egal sein. Doch wo ich hinschaue, wo ich hingehe, sehe ich die Ausläufer, die Tentakel dieser beängstigenden Krankheit. Hatte das Internet, hatten die Computer nicht versprochen, alles würde einfacher? Die herunterhängenden Mundwinkel, die lauernden Aggressionen, die lärmige Hektik sagen etwas anderes. Es ist ein Zustand erreicht, der nicht mehr witzig ist. Vor allem, weil die große weite Welt bereit ist, all jene zu lynchen, die mit dem Finger auf die Wunde deuten. Was in diesem Fall ich bin. Weshalb ich sehr vorsichtig geworden bin, wem ich meine Adresse gebe. Viel zu gefährlich.