Süße Sehnsucht

Ich wurde sehnsüchtig geboren. Es brauchte keine Bücher, Comics, Filme, Songs, keine Eltern, keine Schule, keine Werbung, um Sehnsucht in mir zu wecken. Vermutlich ist es ein natürlicher Zustand des Zweibeiners. Der Zweibeiner strebt nach dem Gipfel, nach dem Horizont, nach dem was er nicht hat, nach dem, was ihm Träume einflüstern.

 

Interessant wird es, wenn ich zurückblicke, wo Ursprünge für Sehnsüchte waren. Lange bevor ich den ersten Film mit Audrey Hepburn gesehen hatte, und damit eins meiner intensivsten Beuteraster geprägt wurde, hatte ich in einer Jugendzeitung Fotos von halbnackten Mädchen gesehen. Wie alt mag ich da gewesen sein? Fünf? Sechs? Mädchen in einem anderen Aggregatszustand als angezogen im Kindergarten oder in der Schule zu sehen, hatte eindeutig einen Wunsch geweckt. Dieser Wunsch wurde zur Sehnsucht als deutlich wurde, dass dieser Wunsch gegen die Gesellschaftstabus rammte. Jungs und Mädchen war nicht erlaubt, einander spielerisch zu erforschen. Oder gar kindlich Zärtlicheiten auszutauchen. Weshalb meine Sehnsucht in Zeiten der Pubertät schier unerträglich wurde. Alles in mir schrie danach, dieser Sehnsucht nachzugehen. Und ich ging. Bis die Sehnsucht ein für alle mal gestillt war. Versprechen und Erfüllung waren zwei verschiedene paar Schuhe, und nur extrem masochistische Narren führen Leidenswege fort.

 

Schwer zu sagen, wie groß die Absicht meines Vaters gewesen war, in mir eine Sehnsucht zu wecken. Doch er hat sie geweckt. Den Wunsch nach Natürlichkeit, Natur und Abenteuer. Wogegen meine Mutter ihre weitgehend unerfüllten kreativen Träume in mich projiziert hatte. Meine Eltern haben Sehnsüchte in mir geweckt, die ich lange Jahre überhaupt nicht als Prägungen wahrgenommen hatte. So alt, so tief und so natürlich waren sie.

 

Früh in meinem Leben wurden Sehnsüchte durch Comics und Bücher geweckt. Es ist erschreckend, welche Rolle in diesem Spiel Walt Disney, Donald Duck und Micky Maus zukam. Sie erlebten Woche um Woche sagenhafte Abenteuer, während mein Kinderleben von erschreckender Banalität war. Ja, es hat mir nicht gereicht, Kind zu sein. Ich hatte mehr wollen. Ohne genau zu wissen, warum eigentlich. Die Abenteuer blieben aus, und die Sehnsucht wuchs.

 

Als mir als Teenager dämmerte, dass die Zeit der Pioniere und Abenteurer seit wenigstens 50 Jahren vorüber war, stürzte ich mich auf das letzte verbliebene Abenteuer. Das Abenteuer des Frau-Mann-Konflikts. Mein Anliegen war nichts Geringeres, als eine unlösbare Gleichung aufzulösen. Also, zwischen unvereinbaren Elementen eine symbiotische Harmonie herzustellen. Je öfter es scheiterte, desto größer wurde die Sehnsucht nach dem unmöglichen Wunder.

 

Genau wie meine Sehnsucht nach Freiheit in dem Maß wuchs, wie ich bevormundet und in Regelgefängnisse gepresst wurde.

 

Als all meine Träume erfüllt worden waren, ausnahmslos alle, mit dick Sahne obendrauf und einer Extraladung süßer Kirschen, war da zwar kein neuer Traum. Kein neuer Wunsch. Aber die Sehnsucht nach der Sehnsucht. Ich träumte davon, die Uhr zurück zu drehen, und ein paar Sachen völlig anders zu machen. Nicht weil ich glaubte, dass dadurch etwas besser würde. Anders hätte schon gereicht. Ich träumte davon, so wie es Oscar Wilde einmal beschrieben hatte, mich eines Abends hinzulegen, und am nächsten Morgen in einer völlig fremden Umgebung, einer neuen Welt aufzuwachen. Wo alles neu, unbekannt, fremd und abenteuerlich herausfordernd wäre. Stattdessen trieb mich die Sehnsucht woanders hin. Ich war umgeben von Lärm, Hektik, Hässlichkeit und Lügen. Meine Sehnsucht trieb mich dahin, wo es anders wäre. Wo das sein sollte, war lange unklar. Diese Sehnsucht war nicht neu. Sie war auf Planet Illusion längst von Marketingstrategen erkannt und in Formen gepresst worden. Für jede Sehnsucht gab es das passende Heilmittel. Oder besser gesagt, den passenden Placebo.

 

Ich war nie ein Freund des Reisens. Es war nicht auf meiner Wunschliste gewesen. Weshalb es mir lange Zeit nur zu Recht gewesen ist, dass man in einen Flieger wie in eine U-Bahn einsteigen, und gleich darauf an einem fremden Ort ausgespuckt wurde. Fast wie Oscar Wilde es erträumt hatte. Mit einem kleinen Haken. Die fremden Orte waren selten mit meinen Prägungen kompatibel. Meine Sehnsucht blieb solange unerfüllt, solange ich nicht wusste, wonach ich eigentlich sehnte, wenn ich mich nach fremden Orten teleportieren ließ.

 

Wenig ist bohrender, als eine unbekannte Sehnsucht. Weshalb ich vermutlich soviel reisen musste. Nicht um besonders schöne Orte zu sehen. Ich reiste, um meine Sehnsucht besser kennenzulernen. Um herauszufinden, wonach genau mich dürstete, und welcher Trunk meine Seele nähren konnte. Der Weg sei das Ziel, hieß es, aber für mich stimmte das nur manchmal. Die Reise war so wenig interessant, wie die Erlebnisse und Begegnungen. Die Reisen waren ein Mittel zum Zweck. Um zu lernen, wie ich mit meiner Sehnsucht in Deckung kommen konnte. Weil es sich schwer vertrug, als verwöhntes Stadtkind in der Natur klarkommen zu wollen. Ohne es zu wissen, war jeder Schritt, jede Lektion, ein weiteres Puzzleteil meines Gesamtbildes. Bis das Bild zusammengefügt und daraus ein neuer Wunsch geboren wurde. Ein Bild, das niemand mehr geprägt hatte. Das mir keine Träume mehr eingeflüstert haben. Ein Bild das mir nicht verkauft worden war. Ein Bild, das nach Abzug aller Prägungsillusionen durch Film und Buch, einzig aus der Summe meiner Erfahrungen gemalt worden war. Die Sehnsucht nach Stille war durch die Abwesenheit von Stille geweckt worden. Der Wunsch nach Natur, war durch die Abwesenheit von Natur geweckt worden. Der Wunsch nach Einfachheit, war durch die billigen Tricks der geldgierigen Zweibeiner geweckt worden.

 

Wie die Wünsche zuvor, wurde auch dieser Wunsch erfüllt, und ich schreibe diese Worte auf einer Tastatur auf meine Schenkel gelegt in mein Handy. Der Wind weht. Über mir blauer Himmel, vor mir ein unfertiges Schilfrohr-Hüttchen, umgeben von Bäumen und Sträuchern. Hinter mir rauscht der Bach, den ich mir seit Jahren gewünscht hatte. Ich hatte mir nicht vorstellen können, wie grandios und erfüllend dieses Leben würde, als ich meine Wünsche ins Unisum gesandt hatte. Wie mit meinen früheren Wünschen ist es auch diesmal so, dass es um ein vielfaches grandioser und befriedigender ist. Ich spüre, dass die Sehnsüchte still geworden sind. Andere Herzen kommen in die Nähe meines Platzes oder besuchen mich hier, und gehen wieder, weil sie getrieben sind. Von Sehnsüchten, die ich hinter mir habe. Sie sind getrieben von Wünchen nach Party, Drogen und Sex. Was mich nicht mehr ruft. So richtig ruft mich nichts mehr. Es ist erstaunlich still geworden in mir. Die Natur erfüllt mich. So sehr, dass ich Frieden gefunden habe.

 

Das heißt, fast. Die Begegnungen mit anderen Herzen lassen eine voraussichtlich letzte Sehnsucht in mir wachsen. Zwei Sehnsüchte.

 

Die eine stammt aus mehreren Träumen, in denen ich von Frauen umgeben war, und mit ihnen und bei ihnen Rituale leben darf, die so bislang nirgendwo vorzufinden gewesen waren. Das totale Gegenteil der langweiligen Banalität herkömmlicher Zusammenkünfte zwischen Zweibeinern.

 

Die andere Sehnsucht ist tiefer. Die Sehnsucht, dass all das aufhören möge, um in den Urgrund zurückzukehren.