Das Große Missverständnis

Man muss nicht besonders schlau sein, auch nicht erleuchtet, um zu erkennen, dass es ein gewagtes Manöver ist, von sich auf andere zu schließen. Weise Herzen werden sogar dringend davon abraten, und empfehlen reichlich Fragen zu stellen, um andere Herzen besser zu begreifen und kennenzulernen. Mit einem winzigen, aber entscheidenden Haken. Auch Fragen und aufrechtes Interesse ändern nichts daran, dass man nur erkennen kann, was man kennt. Der eigene Erfahrungsschatz bestimmt, wie viel oder wie wenig vom Gegenüber erkannt werden kann. Anders gesagt: jedes Herz wird grundsätzlich von sich auf das Gegenüber schließen.


Hier liegt einer der größeren Lacher meines Lebens. Weil ich grundsätzlich vertrauensvoll, ehrlich, radikal und kompromisslos war, sind mir diese Aspekte in anderen Herzen positiv aufgefallen. Oft unter Ausblendung vieler anderer Aspekte. Zum Beispiel, dass mein Gegenüber aus seinem oder ihrem Realitätstunnel genauso nur das sah, was er oder sie erkennen konnte.


So begab es sich zum Beispiel, dass ich eine Frau traf, die in ihrem Hippie-Auftreten alle meine Aspekte der Rebellion und Unangepasstheit zu spiegeln schien. Was ich nicht sah und begriff, war, dass sie ein Kind reicher Eltern war. Ihr rebellisches Auftreten kaum mehr, als ein Flirt mit einer anderen Welt, als der, in der sie aufgewachsen war. Sie wiederum konnte nicht sehen und begreifen, dass ich wirklich durchgeknallt war, und mein Verhalten aus dem aufrechten Wunsch nach Freiheit erwuchs. In ihrer Welt gab es immer eine Hintertür. Die Sicherheit ihrer Eltern. Ein Erbe, das ihr eines Tages das Leben versüßen würde; ich dagegen, tanzte auf einem Drahtseil, und hatte nichts zu erwarten. Ich spielte und spiele ein alles oder nichts Spiel.


Dieses Missverständnis, ich wäre wie die anderen, oder die anderen wären wie ich, wiederholte sich oft. Fast immer. Zum Einen, weil ich in meinem Vertrauen glauben wollte, welche Rollen mein Gegenüber spielte. Zum Anderen weil sich niemand wirklich vorstellen konnte, wie jemand ein Leben lebte, wie ich es tat.


Zum Beispiel ist allgemein völlig normal, dass jemand, der sich "Künstler" nennt, entweder von Sozialhilfe lebt, oder ein bis drei Jobs nebenher macht. Für mich war der Begriff "Künstler" mit Freiheit verbunden, und damit mit dem Aufbegehren gegen alle Formen gesellschaftlicher Zwänge und Abhängigkeiten. Womit ich mir mein Leben freiwillig kompliziert und druckvoll machte. Was sich manchmal dadurch ausdrückte, dass ich anderen Herzen gegenüber strenger war, als die verstehen konnten. Sie begriffen meinen Hintergrund nicht, und um ehrlich zu sein, begriff ich ihre Hintergründe auch nicht. Ich hatte paarmal probiert Kompromisse einzugehen - und war dabei eingegangen.


Robert Smith sang in einem seiner Lieder, dass niemand jemals einen anderen kennt oder liebt. Das kann als Statement eines depressiven Pessimisten ausgelegt werden. Tatsächlich ist es eine traurige Tatsache. Weil niemand ein anderes Herz vollens begreifen kann. Mit allen Vorgeschichten und daraus erwachsenen Konsequenzen. Wenn sich Herzen verlieben, picken sie sich die paar Aspekte aus dem gegenüberliegenden Universum heraus, die ein Spiegel des eigenen seins sind. Oder die Sehnsucht nach dem, was man nicht ist, aber gerne wäre. Das geht genau so lang gut, solang die ausgeblendeten Aspekte nicht an die Tür klopfen.


Soweit ich erleben und beobachten musste, kommt dieser Moment immer. Dann taucht die Frage auf, wo genau der Irrtum gelegen hat. 


Da war bloß kein Irrtum. Es ist, wie Herzen funktionieren. Es ist, wie Sehen funktioniert. Das Leben ist wie ein Besuch bei einem Zauberkünstler. Es werden eine Reihe Tricks vorgeführt, die nur funktionieren, weil die Besucher nicht gelernt haben, worauf sie schauen müssen. Und ganz ehrlich, wer will sich schon um das ungläubige Staunen bei einem Zaubertrick bringen? 


Herzen nehmen unbewusst viel Leid auf sich, weil sie die Illusion so lieben, wie Kinder einen Zaubertrick. 

Denn was wäre die Alternative? 

Kein Zaubertrick? 

Kein Staunen? 

Nur die nackten Fakten? 

Die gleich vor dem ersten Orgasmus verraten, dass es nicht passt..?