Was übrig bleibt

 

Wie die Kinder sollten wir werden, hatte ein Romantiker gesagt, lange bevor dieser Begriff bekannt war. Romantiker waren frei denkende und fühlende Herzen, denen von Regeln, Gesetzen und unausgesprochenen Erwartungen ihrer Umwelt verboten war, ihr geiles Begehren und sehnsüchtiges Verlangen auszuleben. Sie flüchteten sich in Musik, Kunst, Literatur und Poesie. Sie fanden Ventile für ihre unbefriedigte Lust, und schufen Werke der sinnlichen Ekstase. Die anders als die Körper der Erschaffer, die Jahrhunderte überdauerten. In diesen Werken ging es oft um das Durchbrechen der unsichtbaren Grenzen. Sie nahmen die Widrigkeiten ihrer Welt, und schufen Utopien. So wie es Jahrhunderte zuvor ein einzelner Träumer und Rebell getan hatte. Ehe er für sein subversives und gesellschaftszersetzendes Verhalten an ein Kreuz genagelt wurde.

 

Wie die Kinder sollten wir werden. Der Ist-Zustand sah anders aus. Da waren Erwachsene, die ums Überleben kämpften. Oft mit harten Bandagen oder unfairen Methoden. Meist mit Lügen und Selbstlügen. Erwachsene hatten aufgehört, wie Kinder zu sehen. 

 

Was sahen die Kinder, was die Erwachsenen verlernt hatten? Eine Welt der Wunder. Eine Welt ohne  oder mit wenigen Worten. Vor allem, eine neue Welt. Kaum etwas war bekannt und überall wartete Neues. Unbekanntes. Fremdes. Erstaunliches.

 

Wie die Kinder sollten wir werden. Wieder staunen, wie beim ersten Regenfall, oder dem Moment, als das Fahrrad das erste Mal in Balance blieb, und man nicht damit umkippte. Die Wunder genießen, wie in dem magischen Moment, als Schnürsenkel auf unerklärliche weise einen Knoten bildeten, und die Schuhe an den kleinen Füßen hielten.

 

Wie die Kinder sollten wir werden, und oh ja, wie wahr, wie richtig, und wie süß diese Worte klangen. Wie die Worte vieler Romantiker, wärmten sie Herzen. Fühlten sich tröstlich an, in einer viel zu oft feindlichen Welt. Sie konnten als Leuchtturm in wütendem Sturm gesehen werden. Als Wegweiser im dunklen, frostigen Tal.

 

Wenn dieser Ur-Romantiker bloß etwas weniger romantisch veranlagt gewesen wäre, und eine Anleitung, eine Gebrauchsanweisung mitgeliefert hätte. Spoiler Warnung: Gebete an oder Gespräche mit Gott bringen die Kindheit nicht zurück. 

 

Auch wenn Säugetiere keine Freude am Wachstum hätten, würden sie wachsen. Mit jedem Nanometer Wachstum kamen Erfahrungen. Erfahrungen wurden zu Erinnerungen. Sofern man keinen Hirnschaden hatte, sammelte sich Erfahrung um Erfahrung. In einem Raum, der sich in dem Maß weitete, in dem er gefüllt wurde. Aus irgendeinem Grund hatte niemand eine Löschtaste oder einen Papierkorb installiert. Verdrängen und Vergessen warem vielleicht hilfreich, doch nichts, was nicht mit Hypnose oder Hilfe chemischer Substanzen aus verschlossenen Kisten in dunklen Kammern hervor gezerrt werden konnte.

 

Wie die Kinder sollten wir werden, während sich jeder lebende Zweibeiner Schritt für Schritt von der unerfahrenen Neugier des Kindes entfernte. Was das Kind weder bemerkte, noch bedauert hätte. Zeigt mir Kinder, die nicht erwachsen werden wollten. Die vermeintliche Freiheit der Erwachsenen lockte die Kinder in Räume der Sehnsucht. Wo sie so lang aufbleiben durften, wie sie wollten. Wo sie rauchen durften. Wo sie Geheimnisse ergründen durften, die Erwachsenen vorbehalten waren. Räume, in denen niemand mehr sagte, was man nicht dürfe.

 

Wie die Kinder sollten wir werden, während gleichzeitig ein großes Versprechen in der Luft lag. Von Freiheit, die Kinder nicht haben konnten, weil sie auf die Hilfe und Liebe der Erwachsenen angewiesen waren. Hatte der Romantiker die Kinder idealisiert? Natürlich. Deshalb war er Romantiker. Das war, was Romantiker taten. Sie blendeten die schmutzigen Details aus, und lenkten das Licht auf die winzigen, farbigen Blümchen, die aus dem Dreck erblühten. Wenn überhaupt, dann war da eine gewisse Form der Unbewusstheit in Kindern. Vielleicht hatte der Romantiker die gemeint. Nicht zu wissen, was man tat, weil man es nie getan hatte, es deshalb neu und aufregend war, und schön und beglückend.

 

Wie die Kinder sollten wir werden, während sich in jedem Hirn Strukturen und Formen bildeten. Die sich ähnelten, einander erinnerten und stützten. Vom gehen lernen, war es nicht weit zum Laufen. Wer begriff wie das funktionierte, begriff bald auch zu springen und andere schöne Dinge mit dem Körper anzustellen. Eins ergab das andere. Erfahrungen bauten aufeinander auf. Stützten sich. Niemand war gezwungen alles immer neu zu lernen oder zu erfinden. Es ergaben sich Rückschlüsse und Folgerungen. Die praktischer weise dabei halfen, nicht jedesmal bei Null anfangen zu müssen. Der Preis dafür war unscheinbar. Wenige Herzen begriffen, was sie zu zahlen hatten, für ihre Erwachsenen-Privilegien. Es spielte auch kaum eine Rolle, denn irgendwann war die Kindheit vergessen. Wie man sich als Kind gefühlt hatte. Wie die Wunder in kleinsten Details ausgesehen hatten.

 

Wie die Kinder sollten wir werden, wir, die Zweibeiner, obwohl es keinen Weg gab, Erfahrungen ungeschehen zu machen. Sie konnten weggedacht oder ignoriert werden. Man konnte sie mit Drogen wegrauschen, oder man konnte Illusionen auftürmen, höher als der höchste Berg. Aber weit und breit kein Reset-Knopf. Manche Herzen bretterten in Unbewusstheit, Verzweiflung oder unerträglicher Hilflosigkeit gegen Wände, andere fanden Auswege in Krankheit. Ich kann dazu nichts sagen; ich weiß nicht, ob das hilft. Ich habe es nicht erfahren, nach einem Unfall wieder gehen lernen zu müssen, oder wie man mit Amnesie Bruchstücke des vergessenen Lebens neu zusammen setzen musste. Ich bezweifle, dass der Romantiker das gemeint hatte.

 

Wieder wie die Kinder zu werden, war die unvorstellbar romantische Vorstellung, man könnte das Erfahrene unerfahren machen. Erinnertes löschen. Erlebtes unerlebt machen. Die Vorstellung treibt mir Tränen in die Augen. Hieße das doch auch, keine Verantwortung mehr für ausgesprochene Verwünschungen zu tragen. Narben erlittener Verletzungen weg zu radieren, wie missglückte Bleistiftstriche aus einer ewigen Lebensskizze. Man würde Namen auf Zeit haben. Man könnte die Dreckflecken auf der weißen Weste immer herausbekommen. Man wäre wann immer man es brauchte, nicht nur sauber, sondern porentief rein.

 

Was der Romantiker dabei vergaß, war die unumstößliche Tatsache, dass die Kindheit endete. Dass alle Lebensformen und Phänomene den Zyklus aus Geburt, Wachstum, Blüte, Reife. Welken und Tod unterworfen waren. Dass sogar prächtige Felsen von Wasserbewegung in feinsten Sand zermahlen wurden. 

 

Wie die Kinder sollten wir wieder werden, doch wie, wenn irgendwann die Vergänglichkeit aller Phänomene bewusst wurde? Schmerzen zu verlieren, war willkommen, doch Liebe und Geliebte? Das feurige Rot des Sonnenaufgangs ließ sich nicht daran hindern, die Farbe zu ändern. Egal welcher Aufwand betrieben wurde, einen Hauch Beständigkeit zu bewahren, gab es doch bislang kein Archiv, das vom Feuer der Zeit nicht in Asche verbrannt werden konnte. Wandel und Vergänglichkeit ließen die hoffnungsvollen Worte des Romantikers fragwürdig werden.

 

Was der Romantiker vergaß zu erwähnen, war das winzige, aber entscheidende Detail, dass es nicht möglich war, wieder Kind zu werden.

 

Nicht, wenn der Tod bewusst wurde, nicht wenn Schmerz das Spiel unerfreulich machte. Nicht solang es Bewegung gab. Nicht in der materiellen Welt. 

 

Wo Körper Bedürfnisse hatten. Wo Bedürfnisse zu Handlungen führten, und jede Handlung Spuren hinterließ. In den unendlichen Räumen von Geist, Seele und Herz. 

 

Wie kann Trost noch trösten, wenn klar ist, dass er der Natur des Seins widersprach?

 

Der Romantiker sprach nicht von Zeitreisen, doch genau das war die Konsequenz seiner Idee. Gehe zurück zum Start, und du wirst das Himmelreich blicken. 

 

Inzwischen gibt es Herzen, die sagen, Zeit wäre nicht linear. Schön für sie. Sie folgen damit der Tradition aller Trostspender der angehenden Menschheit. Etwas Trost brauchen die Zweibeiner. Ist die Zeit nicht auf eine Richtung beschränkt, können folgende Generationen vielleicht doch wie die Kinder werden. Weil sie in der Zeit zurück reisen können. Oder in die Zukunft blicken können, und die Privilegien der Erwachsenen so banal sind, dass sie dafür ihre kindliche Unbewusstheit nicht aufgeben wollen.

 

Ideen über Ideen. Die wie in jeden lebenden Körper, in die kosmische Suppe eingerührt werden. 

 

Es geht weiter. Vor allem, die Desillusionierung. Es wird Augenblick um Augenblick deutlicher, dass jede Erfahrung Trost nötiger macht, der gleichzeitig unmöglicher wird. Gelerntes bleibt bestehen, und der Wunsch Dumm zu werden, lässt sich sogar mit Unmengen Alkohol nicht erfüllen. Eines Tages wacht das Kind auf und ist kein Kind mehr. Träume liegen vielleicht in Trümmern, oder Wünsche wurden mit Kirsche und Sahne obendrauf erfüllt. 

 

Es geht weiter und weiter, bis das Alter den Körper über den Zenit, und einem Sonnenuntergang entgegen führt.

 

Der Zweibeiner, der weder geschafft hat zum Mensch, noch zum Kind zu werden, hat im Idealfall gute Portionen an Ekstase, Liebe, Schmerz und Scheitern gesammelt. 

 

Alles ganz anders, als es sich ein Kind hätte vorstellen können.

 

Bis der Körper zerfällt, und damit das Gefäß für all die lustigen Ideen, die ein Lebensweg mit sich bringt.

 

Was letztlich übrig bleibt, weiß niemand. Was niemand daran hindert, das Glücksrad für die nächste Runde anzukurbeln.

 

Und ist das nicht, was Kinder tun? Spielen um des Spieles Willen?