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Freundmoment

Einer der Geniestreiche von Facebook und anderen asozialen Hetzwerken, vielleicht sogar der entscheidende Geniestreich, der den Erfolg dieser Krankheit ausmachte, ist in dem kleinen Wort „Freund“ zu finden. Vor Facebook und Co, war ein Freund eine seltene und fast heilige Angelegenheit. Auch vor Internet wurde fälschlicherweise manches Abhängigkeitsverhältnis als Freundschaft tituliert. Doch war vielen Herzen noch bewusst, dass es ein großes Geschenk darstellte, wenn man ein, zwei Freunde im Leben hatte. 

Die asozialen Hetzwerke haben das massiv verändert, und eine Inflation, und damit Abwertung von Freundschaft bewirkt. Zumindest auf den ersten Blick. Wer nur genug Zeit vor einem Monitor und einer Tastatur verbrachte, wer die richtigen, gefälligen Ansichten zum schnellen Scroll-Konsum anbot, konnte in kurzer Zeit viele, viele Freunde sammeln. Was in etwa die gleiche Bedeutung hat, wie Zahlen auf einem Konto zu sammeln. Zufall dass die asozialen Hetzwerke von „Konten“ sprechen? Als könnte man Freunde auf ein Bankkonto oder in einen Tresor legen. Wo sie als Idee und Illusion vor sich hingammeln. 

Wie real sind diese Freunde? Wie viele Freunde kann ein Herz wirklich haben? Findet mit diesen virtuell illusionären Freunden irgendetwas statt, was wahre Freundschaft ausmachte? Wie kommt es, dass sich sogar relativ kluge Köpfe nicht scheuen, dieses Wort zu akzeptieren? Müssten Herzen mit einem letzten Rest Würde diese asozialen Hetzwerke nicht boykottieren? Einfach, weil es ihnen zuwider ist, einen wertvollen Begriff zu entwerten und zu besudeln?

Eine der schmerzhaften Wahrheiten meines Lebens ist, dass Freunde kommen und gehen. Dass es in der Natur des Lebens liegt, dass Herzen, die sich einmal kannten, respektierten und vielleicht sogar liebten, unterschiedliche Erfahrungen machen. Diese Erfahrungen und daraus resultierende Entscheidungen führten und führen dazu, dass sich Freunde auseinander leben. Manchmal hatte ich mich auch einfach geirrt, mich täuschen lassen, oder mich aufgrund romantischer Ideen selbst getäuscht. Das kann vorkommen. Weil Freundschaft hochgradig idealisiert wurde, und man nur zu gerne all zu schnell und leichtfertig bereit ist, jemand als Freund sehen zu wollen, nur weil man einmal nicht angegriffen, verurteilt oder missverstanden wird. Irren ist menschlich. Das Leben schreitet voran, und wird jedem Herz früher oder später den wahren Platz zuweisen. Weshalb Freundschaften zerbrechen, sich auseinanderleben, einschlafen oder sterben. Nicht im Internet. Da werden selbst flüchtige Begegnungen für Ewigkeiten konserviert. Wie aus Interviews der Programmierer zu erfahren ist, wollen sie genau das. Alles soll für alle Zeiten archiviert werden. Was einen großen Bestandteil der Internetkrankheit darstellt. Sogar alte, große Wälder fallen auch ohne Hilfe von Zweibeinern Waldbränden zum Opfer. Was als Tragödie verkauft wird, in einer kranken Gesellschaft, die von der Idee der Unsterblichkeit besessen zu sein scheint, ist tatsächlich ein natürlicher Erneuerungsprozess. Wenn Freunde aus meinem Leben verschwinden, ist auch das ein natürlicher Erneuerungsprozess. Manchmal tut es weh, manchmal sogar sehr, weil mit wahren Freunden oft tiefe, wertvolle Erfahrungen verbunden sind. Was ist mit illusionären Freunden im Internet verbunden? Außer der eitlen Illusion der eigenen Wichtigkeit. Genau wie im richtigen Leben, sind Freundschaften temporär. Auch wenn ich und viele sich das anders wünschen.

Vor Zeiten des Internets hatten die Herzen Adressbücher. Und jedes Jahr oder alle fünf Jahre wurde aussortiert. Namen und Telefonnummern ohne Bedeutung wurden ausgestrichen. Es gab vielleicht noch einen kurzen Schauder nostalgischen Bedauerns, aber dann waren sie weg. Oft nicht nur aus dem Adressbuch gelöscht, sondern auch aus der Erinnerung. Was nicht mal eine bewusste Handlung erforderte. Freundschaft wird erhalten durch gemeinsame Erfahrungen, Erlebnisse, Kommunikation und gegenseitige Geschenke. Findet das nicht statt, ist da auch keine Grundlage für irgendwas. Weshalb das Internet auch zur menschlichkeitmordenden Seuche geworden ist. Weil viele einsame Herzen glauben, es reiche ein paar Tasten zu drücken, Kommentare zu posten und Namen zu archivieren, hat sich die Einstellung breit gemacht, so ließe sich das auch mit Herzen im wirklichen Leben machen. "He, morgen ist auch noch ein Tag. Warum heute Interesse oder Liebe bekunden?" Oh, arme, traurige Welt!

Hier in der Abgeschiedenheit der Natur lerne ich, dass Freundschaft ein Ausdruck des Jetzt ist. Ist da ein Herz, das mich berührt und das ich erfahren darf, gilt es den Moment zu zelebrieren. Mit aller Aufmerksamkeit, Kraft, Konzentration, Hingabe und Liebe.  Weil es ein Morgen nicht gibt. Und weil das Jetzt zum Gestern wird, und damit alle Schönheit und Wunder in die Kammern der Erinnerung verbannt werden. Es liegt in beiden Herzen begründet, ob das Jetzt eine Fortsetzung erfährt, oder nur ein Geschenk für einen wertvollen Augenblick war. Kein Foto, kein Film, keine Aufnahme kann daran etwas ändern. Im Gegenteil. Jeder Versuch den Moment zu archivieren, führt zu einer Verzerrung des Jetzt und der Erinnerung. Wirkliche Nostalgie ist gespeichert im Herz. Alle anderen Speicher sind gefährlich, weil süchtig machender Masochismus. Weshalb mein Leben in der Natur das größte Geschenk überhaupt ist. Ich werde nicht abgelenkt von Lockungen der Technokraten und ihrer Spielzeuge. Schenkt mir das Leben ein Herz für Austausch, kann ich in den Moment fallen. Ihn aufsaugen. Genießen. Bis er vorüber gezogen ist. Keine Konservierung nötig. Weil Moment folgt Moment. Freundschaft ist dadurch um so wertvoller geworden. Weil es nur wenige kostbare Herzen gibt, die bereit sind, einem Geschenk weitere Geschenke folgen zu lassen. Keine Internetillusion kann das simulieren oder ersetzen. Wodurch sich eine einfache Frage stellt. Was treiben die Herzen vor den Monitoren eigentlich? Außer in trauriger Verblendung und Einsamkeit qualvoll zu onanieren?