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Bedürfnis

Wer lebt, hat Bedürfnisse.

Das Wort hat in den letzten Jahren, gerade in spirituellen und esoterischen Kreisen, einen schlechten Beigeschmack erhalten. Es wird schamlos mit dem Begriff „Bedürftigkeit“ gleichgesetzt. Und das bevorzugt, um Unterschiede hervorzuheben oder zu erzeugen.

 

Wer ein Bedürfnis mitteilt, befindet sich schnell in der Verurteilung, „bedürftig“ zu sein. Was ebenso schnell als Grund vorgehalten wird, Distanz zu erzeugen oder Verurteilungen zu untermauern.

 

Häufig geschieht das, damit Ankläger und Verurteiler sich nicht ihre eigenen Bedürfnisse eingestehen müssen. Für die Angeklagten und Verurteilten ist das ein direkter Einblick, das im Gegenüber Ablehnung und Verurteilung in sich selbst stattfindet.

 

Dahinter steckt meist ein gewaltiger Minderwertigkeitskomplex, künstlich gezüchtet von einer Gesellschaft, die den Herzen einredet, sie wären nicht genug. Nicht gut genug. Nicht stark genug. Nicht liebevoll genug. Nicht erhaben, weise oder erleuchtet genug. „Du hast ein Bedürfnis? Dann musst du wohl noch ein bisschen an dir arbeiten...“

 

Der feine aber gewichtige Unterschied zwischen Bedürfnis und Bedürftigkeit ist leicht beschrieben.

 

Unser grobstofflicher und oft leidenschaftlich abgelehnter Körper, das Gefäß, mit und in dem wir unsere Lebenserfahrungen machen, hat natürliche Bedürfnisse. Neben Licht, Wasser, Nahrung, Wärme, Geborgenheit (Schutz), Bewegung und Ruhe, eben auch das Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden. Wer das leugnen will, darf gerne überprüfen, warum eigentlich.

 

All diese Bedürfnisse sind Teil unserer körperlichen, geistigen und emotionalen Gesundheit. Zur Bedürftigkeit werden natürliche Bedürfnisse, wenn angefangen wird, Verstrickungen zu erzeugen.

 

Wenn die Bedürfnisse missbraucht werden, um eigentliche Aufgaben und Herausforderungen zu meiden oder trickreich zu umgehen. Unser Körper signalisiert uns täglich, wann wir Nahrung oder Flüssigkeit zuführen sollen. Zu viel oder zu wenig erzeugt Ungleichgewicht. Wer liebe wünscht, egal ob aktiv oder passiv, hat die Aufgabe, sich den Liebesphänomenen hinzugeben. So weit wie möglich verzerrende Phänomene (Gier, Neid, Lust, Macht, etc.) zu vermeiden, und genau wie bei Nahrungsaufnahme, auf Reinheit zu achten

 

Was sind die Intentionen? Will Liebe gegeben werden, aus Freude an der Liebe, oder um persönliche Interessen zu füttern? Will Liebe erfahren werden, aus Freude an der Erfahrung, oder weil da ein Gefühl von Leere oder „nicht genug“ kompensiert werden muss? Ist da irgendwo ein „Muss“, darf das als Alarmsignal betrachtet werden, dass da ein großes, offenes Tor für Bedürftigkeit ist. Offen über Bedürfnisse zu reden, ist ein großes, offenes Tor für Herzenskommunikation. Wer das kann, wer sich das traut, wischt der Bedürftigkeit eins aus. Bedürfnisse, direkt ausgesprochen und mitgeteilt, schaffen Raum für Geschenke.

 

Wer also das nächste Mal der Bedürftigkeit angeklagt wird oder anklagen will, sei herzlich dazu eingeladen, genau zu überprüfen, ob da nicht ein aufrichtiges, menschliches Bedürfnis besteht.

 

 

 (Vigor Calma, 2020)