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Legenden der Liebe

 

Viele große Ideale der Menschheit sind auf Legenden aufgebaut. Da sind die Legenden der Erleuchteten und Heiligen. Die Legenden großer Pioniere. Legenden von Selbstlosigkeit. Legenden von Heldenmut und Aufopferung. Legenden der Mutterschaft. Legenden von Heldenmut.

 

All diese Legenden sind weit, weit verbreitet. Jede Kultur hat eigene, spezifische Legenden. Und wie es so schön heißt: „In jedem Märchen steckt ein Fünkchen Wahrheit“. Warum also nicht auch in den weit verbreiteten Legenden?

 

Nur sind die Legenden, an denen wir unser Verhalten ausrichten, selten vereinbar mit unserer wahren Natur. Diese wahre Natur, ist nach vielen tausend Jahren des Scheiterns, immer noch die eines Affen. Ja, dieser Affe hat großartiges Erreicht, doch die Legende der Freiheit (z.B.) ist bis heute eine Legende geblieben. Früher oder später stoßen wir an eine Grenze. Wie sollte jemals Freiheit, im wahren Sinne des Wortes, erreichbar sein, solange ein äffischer Säugetierkörper Zwängen unterliegt? Was nützen uns da tausendseitige, vielbändige Philosophiebücher, wenn wir doch früher oder später trinken, schlafen, fressen oder kacken müssen? „Normal“, denkt da vielleicht manches Lesewesen. Ja, Absolut normal. Und auch im Widerspruch zu so vielen noblen Ideen. Zum Beispiel der Idee der Liebe. Wie sollte jemals Liebe erreichbar sein, solang wir den Zwängen unserer Säugetierkörper unterworfen sind? Und nein, Geld ändert daran nichts. Geld verlagert nur die Aufgabenstellungen.

 

Liebe ist das große, hehre Ideal der Menschheit. Es wird fast augenblicklich benutzt, wenn irgendwo eine Gefühlswallung auftaucht. Fühlt es sich gut und angenehm an, muss es wohl Liebe sein. Wer hört gern, dass es vielleicht eine eitel-selbstgefällige Masche ist, sich in ein rechtes Licht zu stellen, oder trickreich Aufmerksamkeit abzugreifen?

 

Es ist nichts falsch daran Liebe zu wünschen oder geben zu wollen. Nur wie das geschieht, ist oft sehr fragwürdig. Oder meistens sogar. Das klingt vielleicht düster, ist es auch, aber vielleicht anders als gedacht. Wenn Zweibeiner für alles Prüfungen absolvieren müssen – wie kommt es da, dass alle, die sich aus einer Laune heraus zur Liebe berufen fühlen, damit um sich schlagen dürfen? Ohne Prüfung. Ohne ihre psychologischen, emotionalen, oder auch nur praktischen Fähigkeiten zu testen?

 

Ist da, wo Liebe drauf steht, auch Liebe drin?

 

Als kleiner Hinweis:

Schmerzt etwas, besteht eine vage Möglichkeit, dass irgendwo ein Hauch von Liebe steckt.

 

Es sind viele Gründe zu finden, warum Herzen Liebe und Lieben wollen. Mitunter sind darin sogar edelste Intentionen zu finden. Wer genauer hinschaut, kann auch andere Beweggründe entdecken. Keine dieser Absichten ist böswillig. Die Absicht als solche ist der Haken in sich. Soll Liebe nicht selbstlos sein? Also absichtslos? Klar. Wissen wir alle. Und wer ist dazu wirklich fähig? Bei welchem Herz auf Erden, schleicht sich nicht irgendwo durch den Hintereingang, manchmal durch eine Ritze im Mauerwerk, doch eine kleine, eitle Absicht ein..?

 

Die Legenden von Liebe, sind wie Märchen von Superhelden. Wer liebt, ist unverwundbar, unbesiegbar, trägt ein schillerndes Gewand, das den Heldenmut unterstreicht, bevorzugt mit im Wind wehendem Umhang, kennt alle Antworten, und hat für alles eine Lösung. Und hier der Selbsttest:

Wer hat jemals Superhelden im realen Leben getroffen? Heilige? Erleuchtete? Oder eben wahrhaft Liebende?

 

Worauf auch immer die Idee der selbstlos Liebenden begründet liegen mag – hinter jedem schönen Schein ist auch irgendein Schatten. Wir könnten unseren großen Vorbilder liebevoller anschauen, wenn wir sie nicht über uns, sondern auf eine Stufe mit uns stellen würden. Wenn wir nicht, die eine, überragende Fähigkeit über unsere eine, überragende Fähigkeit stellen würden. Wenn wir anfangen könnten, die Vorbilder nicht als idealisierte Prototypen einer zukünftigen Rasse von Superhumanoiden sehen zu wollen. Sondern als verletzte, verletzliche Herzen, die von Liebe getrieben, allerhand Unfug und Ungesundes treiben. Wenn unsere Idole und Helden an Drogen, Krankheiten oder in Unfällen sterben, ist das anders tragisch, als gemeinhin angenommen. Es sterben nicht Vorbilder, die uns vorleben, wie großartig Herzen sein können, sondern Vorbilder, die uns daran erinnern, dass unsere Legenden Legenden geblieben sind. Auch nach Jahrtausenden.

 

Hilfreich in unser aller Leben wäre, wenn wir annehmen könnten, dass die Ideale, die bewundert und bestaunt werden, nicht die ganze Wahrheit sind. Dass überall Makel, Fehler und Scheitern lauern. Und dass das gut so ist. Dass wir gerade dadurch eine Annäherung an die Liebesideen erfahren. Tatsächlich herrscht in dieser Welt ein krankes, gestörtes Wertesystem, mit dem sich Herzen krank machen und unter Druck setzen, Weil sie Liebe erfahren wollen, aktiv, wie passiv, haben sie fast alle unerreichbare Konstrukte aufgetürmt, was sie tun müssten, um Liebe erhalten zu dürfen, und wie es auszusehen habe, Liebe zu geben. Das hat nur gerade soviel mit Liebe zu tun, dass da ein Gedanke und ein Wort herum jongliert wird.

 

Liebe beginnt, wo Masken fallen. Wo Verletzlichkeit und Hilflosigkeit sein darf. Mitunter auch, wenn Trennung entsteht. Es ist eine Legende, dass Liebe ewige Verbindung wäre. Liebe kann vieles sein. Mitunter sagt Liebe auch, dass Räume verschlossen bleiben. Nicht alle, die das Wort Liebe kennen, oder von Liebe träumen, aktiv oder passiv, werden auch Liebe erfahren. Und nicht alle Liebe äußert sich gleich.

 

Einer der weiseren Sätze der Menschheit, ist die Aufforderung, die Nächsten so zu lieben, wie sich selbst. Was im Umkehrschluß heißt, dass Liebe bei sich selbst anfängt, weil, man nur das geben und erhalten kann, was man selbst in sich gefunden hat. Wo das eigentliche Dilemma der Herzen steckt. Noch seltener als Herzen, die wirklich lieben können, sind Herzen, die sich lieben können.

 

Ehrlich wären Herzen, die offen gestehen würden, dass alles auf der Ebene von Versuchsanordnungen und Experimenten abläuft. Dass wir lebenslang auf Messers Schneide balancieren. Dass wir einen Drahtseilakt in stürmischem Wetter absolvieren. Und dass wir nichts haben, als diese schönen Ideale aus Legenden, um den Mut für unsere Kunststückchen aufzubringen. Und dass wir unser Scheitern feiern dürfen, wie unsere Erfolge. Weil allein es versucht zu haben, zählt. Vielleicht nicht für die Welt der Zweibeiner – aber für jedes einzelne Herz. Und dass niemand erwarte, dass ein anderes Herz erkennen kann, was jemand leistet, und welche eigenen Dämonen besiegt werden. Je größer der Kampf, desto stiller ist manchmal das Herz nach außen hin. Je größer das Scheitern nach außen, desto größer ist mitunter der Sieg für die eigene Liebe. Es ist manchmal schwierig, inmitten all der hübschen Legenden, die eine, essentielle, eigene Wahrheit ausfindig zu machen. Die mitunter nicht den großen, imposanten Schlachtengemälden in schicken Museen ähnelt.

 

Vielleicht reicht es, sich daran zu erinnern, dass es Schönheit auch im Scheitern gibt, und dass das niemand verstehen braucht. Dass es einfach reicht, sich auch lieb zu haben, wenn alle Welt einen bewertet und verurteilt. Vielleicht werden Herzen niemals mehr erfahren, als gute Augenblicke, die von schlechten Augenblicken, die von guten Augenblicken, die von schlechten Augenblicken abgelöst werden. Zum Teufel mit den Legenden. Es lebe das Leben!

 

Vigor Calma,2019, Italien