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Für eine handvoll Likes

 Die digitale Illusion hat eine seltsame Verschiebung von Bedeutungen erzeugt. Als Ex-Künstler bemerke ich zum Beispiel, dass weniger wichtig geworden ist, sich mit einem Kunstwerk zu beschäftigen, als dass es sich innerhalb eines Sekundenbruchteils erschließen und beim Scrollen aus Milliarden anderer Informationen herausstechen soll.

 Was zu einer Art von Staunen-Konsumgesellschaft geführt hat.

 Musik, Filme, Kunst, Poesie, Fotos – staunen soll es machen.

 Staunen ist gut.

Dann wird schnell ein „Like“ gesetzt und weiter gescrollt.

Vielleicht ist da ja noch irgendwas, was staunen macht.

Internetnutzer als Staunen-Jäger.

 

Kennen wir dieses Phänomen nicht irgendwoher?

Von Pornobesessenheit, zum Beispiel?

Wo nichts mehr wirklich geil und erregend ist, weil die schier unendliche Auswahl an Möglichkeiten ständig ruft: „Vielleicht ist da noch was geileres...“

Konzentration?

Fokussierung?

Irgendwie scheint das in Vergessenheit geraten zu sein.

 

Die Jagd nach dem schnellen Kick, hat aus so ziemlich allem eine Art Jahrmarkts-Sensation im Taschenformat gemacht. Besonders schön daran zu sehen, dass Texte heute mit Zeitschätzungen ins Netz gestellt werden. Damit alle, die keine Konzentrationsfähigkeit über 1 ½ Minuten mehr haben, gleich wissen, dass sie nicht weiterlesen brauchen.

Zeit ist Geld.

 

Wie prophetisch Michael Endes „Momo“ tatsächlich war, zeigt sich täglich mehr.

 

Wenn Konsumierbarkeit nicht mehr an Genuss gemessen wird, sondern daran, wie viel in wie kurzer Zeit konsumiert werden muss. Von Inspiration kann da schon lang nicht mehr die Rede sein.

 

So wie sich die Wahrnehmung ändert, ändert sich auch das Verhalten der Mitspieler. George Orwells Schreckensvisionen sind längst überrollt worden. Es braucht keinen Big Brother, der in die intimsten Winkel persönlichen Lebens eindringt. Die Zweibeiner lassen die Welt freiwillig herein. Nicht nur unbezahlt. Sie zahlen dafür.

Es ist einige Jahre her, dass ich begann, die Qualität von Geheimnissen neu einzuschätzen.

Es gab da mal eine Zeit, in der geistiger, seelischer und emotionaler Exhibitionismus aufregend war. Weil es Mut erforderte. Weil ich mich damit von der Masse all jener unterscheiden konnte, die zum Beispiel aus ihrer Sexualität ein Geheimnis machten.

Heute kann ich überhaupt nicht so schnell wegschauen, wie ich mich ungewarnt in den Harnröhren und Därmen von Bekannten und Unbekannten wiederfinde.

 

Es gab da mal eine Zeit, in der ich das interessant gefunden habe, tiefstmögliche Einblicke zu bekommen. Heute ist nicht mehr ersichtlich, was ein Herz zum Exhibitionis-Muss treibt.

 

Ich bin kein Freund von Zensur.

Ich will zeigen und sagen können, mich ausdrücken dürfen, wie ich will. Was ich auch allen anderen zustehen will. Egal wie schräg oder sogar gewalttätig das Glaubenssystem dahinter sein mag. Doch will ich davon nicht ungewarnt überrannt werden.

Stehe ich vor einer Tür, klopfe ich an.

Ich breche nicht mit der Tür ins Haus. Das ist, was das Internet macht. Mit erschreckender Selbstverständlichkeit.

 

Einst habe ich TV abgeschafft, weil zu viel von dem, was da zwischen meinen Interessen in mich gesteckt wurde, aufdringlich und makaber banal gewesen ist. Heute geht es mir mit Internet kaum anders. Während ich für mich relevante Informationen finden will, werde ich mit Wahnsinn bombardiert, der alles in den Schatten stellt, was TV jemals gewesen war.

 

Was ich – gewissermaßen – am Wegesrand aufschnappe, ist Datenmüll, in einem Ausmaß, dass es eigentlich unter Gesundheitsschädigung läuft. Damit nicht genug.

 

Manchmal möchte ich die Freiheit haben, vorher an einer Tür anzuklopfen, und fragen zu dürfen. „Was treibt ihr gerade da, hinter dieser Tür?“ Nicht weil ich Prüde wäre, und mich daran stoßen könnte, wie ein Paar gerade damit beschäftigt ist, gegenseitig Exkremente zu essen. Ich möchte die Freiheit haben, anfragen zu können, um herauszufinden, ob ich gerade Lust habe, bestimmte Aktivitäten in mich zu lassen. Ich möchte nicht mit aller Herzen Befindlichkeiten überschüttet werden, durchtränkt mit Werbung für Viagra und Sonnenbrillen, wenn ich gerade in einer ganz anderen Schwingung bin. Vermutlich vor allem deshalb, weil nicht mehr ersichtlich ist, was Herzen veranlasst, sich zu exhibitionieren.

 

Haben sie etwas mitzuteilen? Sind sie Teil einer imaginären Revolution einer imaginären Gesellschaft?

Oder doch einfach nur getrieben von Geltungssucht, Eitelkeit und müssen unbedingt etwas ausdrücken, womit sie staunen machen wollen?

So oder so – viel Spielraum bleibt da nicht mehr.

Außer dem Netz fern zu bleiben, ehe es es einen fängt.