Spirituelle Beschäftigungstherapie

Eine der zentralen Botschaften eines alten Filmes war, dass ein paar Herzen, die aufbrachen, gemeinsam göttliche Unsterblichkeit zu erlangen, aus ihrer Reise in die mystischen Aspekte des Seins, menschlicher als zuvor heraus gingen. Immerhin menschlich. Das ist nach wie vor nichts, was all zu viele hin bekommen. Ein Film, der mir die Augen öffnete, wie lächerlich das Streben nach ewigem Leben. Göttlichkeit, Bewusstsein oder Erleuchtung ist. 

Woher kommt das Bedürfnis, irgendeine spirituelle Übung zu praktizieren? Was ist die Motivation, was das Ziel? Warum ist das so populär geworden und zum glitzernden Plastik-Schmuck verkommen?

Ein interessantes Phänomen, das mir seit der  Beschäftigung mit spirituellen Ideen immer wieder begegnete, waren äußerst aufgekratzte Herzchen, die eben etwas rausgefunden hatten, und deshalb zu denken wagten, sie würden die Welt retten. Oder sich. Was auf's gleiche rausläuft. 

Spiritualität läuft im Jahr 2024 unterm Sammelbegriff "Heilung". Wogegen nichts einzuwenden wäre, wäre das nicht längst ein riesiger Markt geworden, wo alle ihre Weisheit teuer verkaufen, die irgendwann irgendwas erkannt hatten. Womit ich nicht sagen will, dass alle Heiler, Gurus, Coaches zwangsläufig Gauner wären. Im Idealfall inspirieren sie; viel zu oft sind sie Dealer, die genau das liefern, was die zahlenden Kunden wünschen, erwarten oder fordern.

Jedes Herz kann einem anderen Herz etwas geben. Das gilt besonders für die Außenseiter und Ausgestoßenen der Gesellschaft. Inspiration ist auch z.B durch Obdachlose, oder Drogies zu erhalten. Oder durch die flüchtige Begegnung mit Fremden ohne Namen. Vorausgesetzt jemand ist spirituell genug, sich dafür zu öffnen, und zu glauben, dass guter Rat nicht teuer sein muss. Oder Inspiration. Trost. Aufmerksamkeit. Und vieles mehr. 

Der Unterschied liegt in kleinen Details. Bezahlte Lektionen kommen mit fragwürdigen Motivationen. Die Beteiligung von Geld verzerrt die Motivation, die Lektion und das mögliche Ergebnis. Bezahlung schafft die Illusion von Sicherheit, erzeugt Erwartungen und Forderungen der Zahlenden, und eine Hintertür der Ausreden, weil die Zahlenden ihre Selbstantworten in die Hände der bezahlten Animateure geben. Das ist die wahre Rolle, zu der Gurus, Lehrer und Coaches verdammt werden, und es ist die Rolle, die sie im Namen von Geld und verblendeter Eitelkeit viel zu leichtfertig einnehmen.

Ich möchte niemandes Beschäftigung mit Spiritualität oder der Vermittlung von Einsichten herab würdigen (!), wie ich auch keine Erkenntnisse und Wegweiser in Frage stellen will. Wohl stelle ich in Frage, ob die gewünschten Erfahrungen durch finanzielle Dienstleistungen erhalten oder vermittelt werden können. Seminare, Retreats und Kurse kämpfen oft mit genau diesem Dilemma. Versuchen Rahmen und Räume zu schaffen, in denen außergewöhnliche Momente und Begegnungen möglich werden. Und scheitern regelmäßig an den Verstrickungen der Gruppendynamiken, oder der Unzulänglichkeit der Räume. Wie ließe sich eine Erfahrung in das Korsett eines Termines zwängen? “Es ist 12 Uhr. Zeit für Bewusstsein!” Jede Erfahrung benötigt Offenheit, die kommt und geht. In kosmisch unerklärlichen Zyklen. Für jedes Individuum in der eigenen Zeit. Wie ließen sich unterschiedliche Zeitdimensionen durch Uhr oder Kalender zusammen pressen?

Ganz davon abgesehen, muss gefragt werden, warum irgendwer diese Räume schaffen oder betreten will. Wo doch ehrliche Beobachtung täglicher Phänomene völlig reichen könnte. 

Das Leben gibt sonderbare und wilde Lektionen. Gratis, doch nicht schmerzfrei. Großzügig wiederholt, bis die Botschaft angenommen wurde. Weshalb Erkenntnisse und Einsichten eigentlich keine große Sache sind. Sie sind wie Körner für das berühmte blinde Huhn; es wird irgendwann eines aufpicken. Da führt kein Weg daran vorbei. 

Wenn das, was in weiten Kreisen der globalen Bevölkerung so irrsinnig populär wurde, gewissermaßen unvermeidbar ist; es eigentlich keine Möglichkeit gibt, nicht spirituell zu werden oder zu sein, warum wird dann so ein irres Getue darum gemacht? Es ist diese kleine, aber auffällige Begleiterscheinung, die mir zunehmend Übelkeit bereitet. Die eitle Angeberei, wer was wo und wie, in irgendeinem Seminar erlebt habe. Früher hieß es: "Der Kavalier genießt und schweigt". Es galt als selbstverständlich, dass ein Gentleman nicht damit prahlte, wer seine Gespielin und was das Spiel war. Hochgradig Spirituell. Verglichen mit all den Sehnenden, die allen, die nicht rechtzeitig wegrennen können, auf die Nase binden müssen, welche mentalen Orgasmen sie erfahren hätten. Bevorzugt durch asoziale Hetzwerke, die jede Illusion zur neuen Religion machen. Wie viel sympathischer fühlt sich da der Mechaniker an, der täglich an Autos rumschraubt, stündlich irgendwem aus kleiner oder größer Not hilft, und daraus keine große Sache macht. Überhaupt habe ich zunehmend das Gefühl, dass es wenig gibt, das eine Erwähnung wert wäre. In Zeiten, in der einem alles nachgeworfen wird, aber niemand mehr Würde zu haben scheint.

Es ist ziemlich unsexy, wenn allerorts die gleichen Retreat-Touristen zusammenklumpen, so tun, als wären sie eine Art spiritueller Elite, eine Geheimgesellschaft, und nicht bemerken, dass sie sich in langweiliger Verstrickung gegenseitig bestätigen. Überwiegend davon getragen, dass Retreat-Touristen nicht allein sein können, und glauben, der spirituelle Zirkus wäre interessanter als Abwasch, Computerspiele oder Netflix. Obwohl spätestens auf dem Klo, jeder Körper daran erinnert wird, dass er nicht außerhalb der materiellen Welt steht. 

Heute haben alle Sehnenden ein breites Spektrum an Auswahlmöglichkeiten. Was wirkt, als wären sie Getriebene, die in einer Art spirituellem Feierabend-Verkehr stecken. Die versprochene Erleuchtung ist das Zuhause, das nach langer, anstrengender Büro- oder Fabrikarbeit erreicht werden will. Und weil alle schnell nach Hause wollen, gibt es Stau, wegen Unfällen, wegen Stress. Dabei fällt kaum jemand auf, dass das Zuhause nicht erst verlassen werden müsste. Dass die Idee irgendwo hinzukommen, auf dem Irrtum aufgebaut ist, man wäre nicht da. Im Volksmund "Mangel" genannt.

Seit jeher ist es eine geniale Marketingstrategie, dem Zweibeiner Unsichtbares zu verkaufen. Das hat nicht erst bei den Christen funktioniert. Die alten Griechen haben es lang davor getan, und bei den Urvölkern, wurde es auch gemacht. Nix heilig, heilig, weil Federn im Haar. Es gab immer Dealer, die sehnenden Herzen, Befriedigung der Sehnsucht anboten oder verkauften. Das Prinzip dahinter ist immer das Gleiche. "Wenn du das und das machst oder kaufst, dann wird das penetrante Flüstern in dir aufhören". Das Flüstern ist weit bekannt. Es ist wie ein nerviger Tinitus. Ein störendes, hochfrequentes Pfeifen, das speziell dann besonders laut wird, wenn um einen herum Stille einkehrt. Ein Tinitus ist harmlos, verglichen mit dem Flüstern. Das immerzu irgendwas aus dem Hut zaubert, was zu fehlen scheint. "Besorg' dir das. Dann geht's dir gut". "Mach dies, dann bist du glücklich." Aber vor allem: 'Wenn ich da ankomme, dann wird alles gut. Dann wird alles leicht. Dann hört der Schmerz auf."

"Der Schmerz " ist eine grobe Verallgemeinerung für tausend kleine Auas, die täglich auf den Wegen aller lebenden Wesen liegen. Naja, nicht eigentlich liegen. Sie springen einen an, wie Zecken auf Koks, und machen das Leben mitunter ziemlich…äh…wie sag' ich's, ohne jemandes spirituelle Sensibilität anzukratzen? 

Oft ist es, als würde das Leben einen ungefragt in den Arsch ficken. Ohne Gleitgel.

Dieser konstanten aber stets überraschenden Vergewaltigung, wollen all jene entkommen, die heute besonders penetrant die Flagge der Spiritualität schwenken. Ist das eine wirklich spirituelle Motivation? Ist Flucht spirituell? Da heute alles Spirituell sein kann, oder so vermarktet wird,  ist wohl auch Flucht irgendwie spirituell. Weit verbreitet ist der Irttum, es ließe sich ein Spagat hinbekommen. Zwischen einem Leben in Wahrheit und der allgemeinen, bequemen, akzeptierten Lüge. Gerade in der spirituellen Beschäftigungstherapie wird dieser Aspekt gern ausgeblendet oder verschleiert. Es gilt Entscheidungen zu treffen. Für einen Weg oder den anderen. Freiheit oder Sicherheit. Abenteuer oder Bequemlichkeit. Liebe oder Polyamorie. Vertrauen oder Angst. Entscheidungen sind die Momente, in denen alte Türen geschlossen und neue Türen geöffnet werden. Wahrhaft spirituelle Reisende wissen und leben das. Niemand kann zwei Wege gleichzeitig gehen. Das wäre die Aufgabe wahrer Lehrer. Den Schülern zu vermitteln, dass nichts gelehrt werden kann. Dass das Leben sich selbst lehrt, sobald mutig die Tür der Ausreden hinter einem geschlossen wird.

Verwechseln die modernen Sehnenden, inspiriert zu werden, mit der Fähigkeit spirituell zu leben? Spirituell und mit Entscheidungrn zu leben, würde manche Aufgaben und viel Loslassen bedeuten. Hingabe, Demut und Schmerz. Große Pakete von Unsicherheit und Scheitern. Kurzum, Phänomene, die weder sexy klingen, noch im spirituellen Supermarkt gekauft werden können. 

Loslassen ist bekanntlich das Gegenteil von Festhalten. Es ist was anderes als Sammeln oder Jagen. Es ist genau betrachtet Nicht-Tun. Man muss nichts machen, und daher kann niemand eine Dienstleistung "Loslassen" anbieten. Auch wenn ein Preis drauf stünde. Der Preis war, ist - und bleibt, vermutlich - ein weites Spektrum an Verwirrungen, Scheitern, Hilflosigkeit, und immer wieder gern übersehen: Einsamkeit. Wirkliche Spiritualität ist eine sehr intime Sache. Soweit ich bislang erfahren durfte, wird das Leben großzügig am spirituellen Selbstbild knabbern, bis nur mehr das erbärmliche Konstrukt zurückbleibt, das alle gerne mit vielen schmucken Tarnschichten verbergen wollen. Niemand muss das kaufen. Es reicht, dann und wann ehrlich in den Spiegel zu schauen, und der inneren Stimme zu folgen, statt vor ihr zu flüchten. Hier irren Gurus, Coaches und Animateure. Sie wollen eitel von sich glauben, sie könnten mehr sein, als winzige Denkanstöße. Sie führen ihre Schäfchen in fragwürdig gefällige Illusionen von Übungen und Selbsteinsichten, obwohl das Leben in sich die Übung ist. Wie ernst lässt sich ein Führer nehmen, der diesen Aspekt übersieht?

Zurück zur Motivation. Wenn etwas zu einem Massenphänomen wird, schleichen sich Irrtümer ein. Niemand ist Spirituell, weil er oder sie von vielen umgeben ist, die sich ebenfalls für Spirituell halten. Oder weil auf einen Raum oder ein Ereignis ein Schild geklebt wird. Es besteht die hohe Wahrscheinlichkeit, dass gerade in den Hochöfen der Spiritualität, wo das Feuer besonders groß und heiß lodert, Spirutalität nur mehr mit dem Mikroskop gefunden werden kann.

Nicht zwangsläufig, weil alle gemeinschaftlich in die Eitelkeitsfalle stürzen. Nichtmal, weil zuviel Absicht und angespanntes Wollen anwesend ist; man hat ja viel Geld bezahlt, also will man auch was bekommen oder erreichen.

Der eigentliche Punkt ist, dass Raum und Zeit für Übung überall und immer ist. Das Leben ist ein Nonstop-Retreat. In immer neuen Versuchsanordnungen bekommt jedes suchende oder sehnende Herz täglich, stündlich, in jeder Minute, die Möglichkeit zu üben, zu lernen, und nach Strich und Faden zu scheitern. 

Wer sind die putzigen Verkäufer, die ein Ende des Scheiterns anbieten? Verkäufer, die versprechen wollen, das Sehnen fände ein Ende, eines Tages, wenn genug Mantren gesungen und sexuelle Spielpartner verbraucht wurden. Wäre es so schlimm, loszulassen von den spirituellen Gewürzmischungen, und das Leben herb und nur mit 'ner Brise Salz zu verzehren?  

Wer Spiritualität als Werkzeug der Hoffnung versteht, wird trotz aller Lehren vom Leben durchgeschüttelt. Wenn all die Angebote der Spiri-Dealer maximal kurze Augenblicke von Ablenkung bieten können, wenn überhaupt, wäre es dann nicht hoch spirituell, sich dem Leben hinzugeben? Sich vom Leben überwältigen und plattwalzen zu lassen?

Wäre es nicht bedeutend cooler, ein Loser zu sein? In Zeiten, in denen alle Superstars und Erleuchtete sind, und die Gesellschaft von Optimierungswahn befallen ist? Wäre es nicht hochgradig würdevoll, nicht länger Idealen von Gesundheit und edlen Gesinnungen hinterher zu rennen? Ein wenig mehr Bukowski Bewusstsein stünde den langweiligen Wischi-Waschi-Moralisten sehr gut; und niemand muss deshalb Alkoholiker werden.

Ja, es ist schön, etwas zu erreichen. Also der Illusion zu verfallen, und sich die Schulter klopfen oder Eier schaukeln zu lassen. Ich sehe nicht, dass da etwas zu erreichen wäre oder jemals erreicht wurde. Ich bin im Leben. Es ist schräg. Es ist schön. Es ist hässlich. Kein spirituelles Konzept, kein Wissen, kein Verstehen, macht es weniger schmerzhaft und weniger mysteriös. Im Gegenteil. Je mehr Theorien zu mir kamen, desto mysteriöser wurde alles. 

Was nicht bedeutet, dass irgendwer spirituelle Beschäftigun sein lassen sollte oder müsste. Es wäre ein Anflug von Würde oder Weisheit, aufzuhören, sobald eine Botschaft angekommen ist. Peinlich wird es spätestens dann, wenn die spirituelle Beschäftigung oder Gemeinschaft eine Art Betäubungsmittel wird. Wo sich alle Beteiligten sicher fühlen, und in dieser Sicherheit das abliefern, was in der jeweiligen Gruppe erwartet wird, oder das konsumieren, was die Animateure anbieten, ohne deren Authentizität und Integrität zu prüfen.

Manchmal reicht es völlig, nicht mit der Herde zu blöken, und einen eigenen Weg einzuschlagen. Auch wenn man diesen Weg vielleicht lang alleine gehen muss.



Vigor Calma, 2023/24