The never ending scrolling

 

Liebe Kinderchen, es war einmal, lang, lang, lang ist's her, ein Land, das nicht viel anders aussah, als das in dem ihr heute lebt. Es gab, weniger Autos. Weniger Zweibeiner. Eigentlich gab es von allem weniger. Nein, das war nicht schlimm. Denn dafür gab es auch mehr. Mehr Zeit sich mit Freunden zu treffen und Unfug zu treiben. Das wurde nicht für Digicams gefaked. Damals waren die Herzen wirklich mitunter total bescheuert und hatten viel Spaß damit. Das machte das Leben oft sehr spannend und dramatisch. Weil herauszufinden war, was noch niemand herausgefunden hatte. Der Name dafür war „Pionier“. Ein fast ausgestorbener Name, weil da nicht mehr viel ist, was auf Erden ungetan geblieben ist. Auch wenn irgendwer noch etwas entdeckt, was niemand zuvor getan hat – die Beweggründe sind banal. Es wird für Likes und Kommentare auf digitalen Profilen getan. Es ist eine Art Wettkampf geworden, wer sich in der Öffentlichkeit am krassesten zur Schau stellt. So gesehen, ist fast das ganze Auftreten im Internet zu Pornographie im eigentlichen Sinne des Wortes geworden. Aber ich weiche ab. Dies ist ja ein Märchen.

 

In diesem Märchen, saß ein kleines, junges, ungeformtes Herz, in lang vergangenen Tagen, mit Elternherzen im Wohnzimmer vor einer klobigen Kiste und glotzte Cartoons, Western, oder Komödien. Die Kiste nannte sich Fernseher, und das Programm begann um 17 Uhr und endete um Mitternacht. Dann erschien ein Testbild auf dem Fernseher. Dieses Testbild sollte das junge Herz erst viele Jahre später sehen. Weil die Elternherzen das junge Herz stets um 19 Uhr ins Bett schickten.

 

Mit den Jahren durfte das junge Herz länger aufbleiben. Es durfte endlich sehen, womit die so genannten Erwachsenen sich beschäftigten und so ein Getue drum gemacht haben. Heute wissen die ehemals jungen Herzen, dass es alles Quatsch war, und nur als Legitimation diente, dass sich Erwachsene erwachsen fühlen und gegen Kinder abheben konnten. Aber die Inhalte waren überwiegend gleich. Cartoons, Western, und Komödien. Es gab die Auswahl aus 5 Kanälen, und die Anfangszeiten und Sendeschluss verschoben sich. Irgendwann waren da 10 Kanäle und kein Sendeschluss mehr.

 

Das war lange vor der Erfindung des Internets. Die Herzen unterlagen einer technischen Begrenzung. Viele träumten davon, Musik zu bekommen, die vergriffen war. Bücher zu lesen, die in der Bibliothek ständig ausgeliehen waren. Oder Filme zu sehen, die weder im Kino noch Fernsehen zu bekommen waren.

 

Erste naiv und putzig anmutende Vorstöße wurden mit Aufnahmemedien gemacht. VHS Videokassetten. Walkmen, damit man überall Musikhören konnte. Doch all diese Spielzeuge waren teuer und oft zeitintensiv. Manchmal dauerte das Finden der passenden Abendunterhaltung in der Videothek länger als ein Film. Ja, liebe Kinderchen, damals bewegten sich die Zweibeiner noch auf ihren zwei Beinen. Es gab kein Amazon, kein Youtube, kein Netflix, keine Handys... Es ist jenseits heutiger Vorstellungskräfte, wie langsam alles war, vor 2000.

 

Das junge Herz jedenfalls sammelte viele, viele Lebenserfahrungen, in der realen Welt, getrieben von keinem anderen Wunsch, als das Leben aufzusaugen. Es fühlte sich glücklich und hatte eine handvoll guter Herzensfreunde, die ähnlich fühlten. Irgendwann hatten diese Herzensfreunde kein Zeit mehr. Weil sie so beschäftigt waren, Geld zu verdienen, um all die elektronischen Spielsachen zu bezahlen. Damit sie auf die ganze Welt zugriff hätten. Weil sie keine Zeit zum Reisen hatten, weil sie Geld verdienen mussten, um ihr Entertainment zu bezahlen. So wie diese Herzen Gespräche im Freundeskreis für einen Handyanruf unterbrachen, unterbrachen sie Freundschaft, um allzeit Online, erreichbar, und informiert zu sein. Wozu wussten sie nicht, doch solange sie gut beschäftigt waren, mussten sie ihr tun nicht hinterfragen. Es reichte, dass digitales Entertainment weniger gefährlich schien, und anders als reales Leben, weniger weh tat.

 

So wurde das Herz unmerklich einsamer, weil es nicht zu diesen Herzen gehörte, die ständig neues Input suchten – und mehr als genug fanden. Das Herz war bemüht, nicht zu sehr von elektronischen Spielsachen hypnotisiert zu sein. Es hatte kein Smartphone, keinen Internetanschluss, und Aufgrund selbst gewählter Lebensumstände, hielt es sich meist nicht länger als 6 stunden in der Woche im Netz auf. Aber auch diese kurzen Aufenthalte in der virtuellen Welt reichten, um zu bemerken, dass etwas vor sich ging. Dass die Informationsflut eine sonderbare Eigendynamik bekommen hatte. Um noch Aufmerksamkeit zu finden, ließen sich die Wesen hinter den virtuellen Profilen Wege einfallen, wie Aufmerksamkeit zu ertricksen wäre. Es ging immer weniger um Inhalte, als darum, mit was auch immer, möglichst viele andere zu erreichen. Wer diese anderen waren, spielte keine Rolle, solang sie nur ausreichend Daumen oder Smileys verteilten. Der heilige Begriff „Freundschaft“ aus vergangenen Tagen, hatte eine neue Bedeutung gewonnen. Freunde waren plötzlich Pixel auf einem Monitor.

 

 Und dann kam der finale Schlag. Seiten wurden abgeschafft. Es gab kein Blättern mehr. Die minimale Erholungspause zwischen den Seiten wurde durch die Scroll-Funktion ersetzt. Seit dem haben sich die Inhalte im Internet in Spielautomaten verwandelt. Wo interaktive Bewegungsoptionen, gepaart mit akustischen und visuellen Reizen, drogenähnliche Rausch- beziehungsweise Betäubungszustände auslösten. Für einige Wochen war das Herz davon infiziert, und scrollte wie alle anderen, durch eine digitale Information nach der anderen. Ohne, dass irgendwas noch irgendwie ausgewertet oder integriert wurde. Auf jedes Bild folgte ein weiteres Bild, und noch eins, und noch eins. Wenn früher, in längst vergangenen Tagen, Bilder gesehen wurden, Musik gehört, Filme gesehen, war immer irgendwann ein Ende erreicht. Ja, es wurde auch damals davon geträumt, ein Film oder Buch hätte kein Ende. Das unendliche Eintauchen in eine alternative Parallelwelt. Im 21sten Jahrhundert war dieser Zustand endlich erreicht. Die totale Verfügbarkeit machte ein Abtauchen in digitale Informationsozeane möglich – und Auftauchen musste man nur noch um zu arbeiten oder zu schlafen. Die perfekte Droge. Kein Kater. Denn die Droge war elektronisch, und zeigte keine offensichtlichen organisch körperlichen Folgen. Außer, dass die Herzen keine Zeit mehr hatten, sich zu treffen. Sich zu lieben. Sich persönlich auszutauschen oder zu berühren. Was niemand vermisste, weil es viel, viel zu gefährlich war. Die virtuelle Welt hatte keine Ecken und Kanten, und bald war die Gesellschaft in zwei Kategorien unterteilt. Dienstleister und Konsumenten. Und die einzige Sorge, die Herzen noch hatten, war, den Informationsfluss zu gewährleisten.

 

Bis das Herz eines Tages einen unbegreiflichen Impuls verspürte, und mitten im Scrollen den Bildschirm herunterklappte, aufstand, zum Klo ging, und sich zwei Wochen übergab. Als das Herz alles raus gekotzt hatte, was zum Leben ohne Relevanz war, packte es, wie zuvor schon oft, den Rucksack, und brach auf, in eine leere Welt. Wo niemand mehr zu Fuß ging, und niemand ihn sah, weil niemand mehr reale Körper wahrnehmen konnte. Es begann eine lange, lange Reise, auf der Suche nach gleichartigen Herzen. Irgendwo, wo sie eine Umgebung für herzgerechtes Leben vorfänden.

 

Und, liebe Kinderchen, glaubt ihr, das Herz wird fündig? Und jetzt, husch, husch, zugedeckt, Licht aus, Äuglein zu, und süße Träume.

 

(Vigor Calma, 2019)