Spuren

 

Als ich ein kleiner Junge war, war meine Welt sehr klein.

Der Sandkasten auf dem Spielplatz konnte für magische Stunden ein tiefes,

unendliches Universum werden.

Am Meisten entzückte mich, wenn ich mit meinen Spielzeugautos Spuren im Sand hinterlassen konnte.

Dem entsprechend erfuhr ich den ersten Moment von Besessenheit, als ich in einem Kaufhaus ein vielleicht zwanzig Zentimeter langes, blaues Spielzeugauto mit massiv dicken, großen Rädern entdeckte. Ich erpresste, mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln, meine Mutter noch am gleichen Tag mit mir in das Kaufhaus zu gehen, und mir dieses Auto zu kaufen.

Mein Lebensglück hing von diesem Häufchen gepressten Plastik ab.

 

Als ich es dann „mein“ nannte, und damit im Sandkasten spielte, hinterließen die dicken breiten Reifen, dicke, breite Spuren im Sand. Ich übertreibe nicht, wenn ich schreibe, dass das auf unerklärliche weise eine fast sexuelle Befriedigung schenkte.

 

Im Laufe meines Lebens, sollten die breiten Spuren von Plastikreifen im Sand viele Erweiterungen in anderen Bereichen meines Lebens finden. Nicht nur, dass es Befriedigung verschaffte, meine Fußspuren im Sand an einem Meeresstrand zu sehen. Mein tiefer Wunsch Spuren zu hinterlassen, fand sich in der Malerei wieder, wo ich mit Pinseln und Stiften Spuren hinterließ. Oder im Schreiben, wo ich Spuren auf dem Papier hinterließ. Es erstaunt mich nicht, dass ich erst spät zur Musik und Klangspielen fand. Klänge waren mir, wie Düfte und Geschmack, zu flüchtig. Klang wurde für mich erst interessant, als ich Spuren auf Magnetbändern hinterlassen konnte.

 

Die Jahre verstrichen, und meine Feinfühligkeit wuchs. Nicht ganz ohne die freundliche Hilfe von den Freunden THC und LSD, begann ich zu erkennen, dass ich auch Spuren hinterließ, wenn sie weniger deutlich zu sehen waren. Wie Detektive wissen: jede Handlung hinterlässt eine Spur. Es ist nur die Frage, ob die Sensoren fein genug sind, die Spur zu erkennen.

 

Auch mein Wunsch zu beschenken oder zu inspirieren, war und ist eine Form von Spuren hinterlassen. Spuren in Hirnen und Herzen. Auch wenn das nicht immer mit Dankbarkeit aufgenommen wurde. Wer wird schon gern an die eigene Großartigkeit erinnert, wenn man sich gerade so schön im Frust und Leid eingerichtet hat..? Ich lernte, dass manche Spuren unerwünscht waren, und sie dennoch zu hinterlassen, auf eigene Gefahr geschah. Manche Spuren sind wie Lockmittel für Ameisen. Und wehe, sie haben die Fährte erst mal aufgenommen.

 

Ich fand heraus, dass ich nicht nur keine Ameisen mit meinen Spuren anlocken, sondern auch Leid gering halten wollte. Was ein arg frommer Gedanke war, weil so wie ich fleißig Spuren hinterließ, gefragt oder ungefragt, hatten andere in mir Spuren hinterlassen. Meist ungefragt. Und für viele Jahre unbemerkt. Meine Überraschung und Empörung war riesig, als ich raus fand, wie tief diese Spuren gingen und wie alt sie waren. Es machte mich auch nachdenklich und einsichtig. Ich wurde vorsichtiger, wenn es darum ging, wann, wie, und ob ich bei anderen Spuren hinterließ. Es wurde mein neues Vergnügen, Spuren zu beseitigen.

 

Spuren zu machen, ist sehr befriedigend für das Ego, weil man ein Ergebnis sieht, mit dem man eitel angeben kann. Oder sich ängstlich daran festhalten kann. Wogegen Spuren zu beseitigen, meist bedeutet, den Müll anderer Leute wegzuräumen – was praktisch niemand zur Kenntnis nimmt. Das ist wie mit Müll in der Natur. Liegt er dort herum, ist er für alle weit sichtbar ein Schandfleck. Ist er weggeräumt, weiß niemand, dass da etwas weggeräumt wurde. Ihr kennt das alle aus Partnerschaften: der Fehler wird sofort bemerkt, angeklagt, und zum Streitpunkt gemacht. Ein vermiedener Fehler wird meist nicht gesehen. Ein vermiedener Fehler heißt: es ist für jemand anderes passend – und meist wird nicht wertgeschätzt oder wahrgenommen, dass jemand dafür etwas getan haben könnte.

 

Heute befinde ich mich an einem Punkt in meinem Leben, wo ich sehr genau aufpasse, wann ich Spuren hinterlasse, aber auch berücksichtige, diese Spuren beseitigen zu können. Es besteht immer die Möglichkeit, irgendeine Art von Meisterwerk zu schaffen. Auf dem Weg zum Meisterwerk werden zwangsläufig Späne fallen – und wer weitblickend genug ist, hat in seiner Werkstatt schon Besen, Staubsauger, und Wisch-Mob bereit gestellt.

 

Um die Sache besonders unterhaltsam zu machen: das Leben hat uns auch die Möglichkeit geschenkt, keine Spuren zu hinterlassen. Sich gleichermaßen unsichtbar zu machen. Sich außerhalb der Wahrnehmung anderer zu bewegen. Auch das ist eine sehr herausfordernde Aufgabe. Weil wir alle so auf Handeln und Spuren geprägt wurden, kommen viele überhaupt nicht auf die Idee, dass es auch erfüllend sein könnte, nicht zu handeln, und keine Spuren zu hinterlassen.

 

Ich bin noch nicht besonders weit fortgeschritten in diesem Spiel, doch weiß bereits: es lohnt sich.