Schmerzhierarchie

 

Wenn wir irgendwo von außen Schmerz und Leid beobachten, kann es ganz leicht passieren, dass die Fantasie mit uns durchgeht. Wir finden es „ganz schrecklich“, sind betroffen, und vor lauter Mitgefühl, überspringen wir die Grenze, wo aus Mitgefühl Bewertung wird. Plötzlich glauben wir, wir hätten es, verglichen mit dem leidenden Wesen, unglaublich gut. Ohne zu bemerken, dass Schmerz keine Hierarchie kennt. Da ist nicht so was wie „kleiner Schmerz“ oder „großer Schmerz“.

Schmerz ist – wie fast alles, was Zweibeiner erleben – eine subjektive Erfahrung.

Wir können als Außenstehende bei einem anderen Wesen vielleicht durch Empathie eine Ahnung bekommen, dass das leidende Wesen gerade keine erfreuliche Erfahrung hat. Diese Erfahrung jedoch mit eigenen Erfahrungen zu vergleichen, gehört ins Reich der Fantasie.

 

Ein Kind in einer modernen Stadt, kann wegen einem aufgeschlagenen Knie nach einem Sturz unglaubliche Schmerzen durchleiden, während ein anderes Kind, in einem Kriegsgebiet vielleicht gerade eine Schussverletzung überlebt hat. Beide leiden, und es ist nicht im Ermessen von Außenstehenden, zu beurteilen, welcher Schmerz „mehr“ sei.

Da höre ich manches Lesewesen empört aufschreien: „Träumer, du willst doch wohl nicht eine Schussverletzung mit einem aufgeschlagenen Knie vergleichen!?“

Genau. Das will ich nicht. Wir verstehen uns. Kein Leid ist vergleichbar mit anderem Leid. Jedes Leid hat einen individuellen Charakter. Das eigentlich Fiese an den vielfältigen Leiderfahrungen ist, dass da kein Sadist vorher ankündigt: „Ich werde dich jetzt fesseln, und dir dann 20 Hiebe mit der Sechsschwänzigen verpassen. Bitte schön mitzählen.“ Das Leben schlägt garantiert unerwartet und unproportional übertrieben zu. Egal, ob du moralische Verfehlungen gesammelt hast, oder ein edler Heiliger bist.

 

Es ist auch nicht möglich mentale, psychische, oder physische Schmerzen in eine Rangliste zu ordnen. Wer würde sich erdreisten, Krankheitsleid mit körperlichen Symptomen mit Schmerzen der Psyche zu vergleichen? Nichtmal das meist selbst gestrickte Leid, das Liebende fühlen, wenn sie Missverstanden werden, oder durch eine Trennung gehen, darf geringer geschätzt werden, als die Schmerzen, die ein Unfallopfer im Krankenhaus erleidet.

 

Zweibeiner greifen gerne zu dem Kunstgriff, dass sie Erklärungen finden, warum sie bestimmtes Leid nicht beachten bräuchten. Zum Beispiel haben Tiere angeblich keine Seele, und darum ist es im schrägsten Verständnis der Zweibeiner völlig okay, sie auszubeuten, zu quälen, zu missbrauchen, zu töten und zu essen. „He, selbst schuld. Wenn ihr ne Seele hättet, würden wir euch anders behandeln.“

 

Aha...

 

Auch gibt es die faszinierende Unterteilung unter Zweibeinern, dass die, die ihren Schmerz selbst wählen, ja wohl dämliche Masochisten seien, und die, die vom Schicksal gegangbangt werden, das sind arme Schweine, die Mitleid verdienten.

 

Aha...

 

Ein Zeichen emotionaler Reife oder Liebe wäre, wenn wir anfangen, Schmerz als Begleitmelodie dieses Lebens anzunehmen. Schmerz ist wie ein Klang, der mal im Vordergrund, mal im Hintergrund zu hören ist, wie ein Soundtrack in einem Film, doch ständig anwesend. Ständig? Wenigstens als lässiges Versprechen. Ne Art bunt lackierter Axt, die über unser aller Köpfe Pogo tanzt. Und wo gehobelt wird, da...

 

Gewissermaßen wäre es nicht ganz unklug, wie Inspektor Clouseau einen Diener Kato zu haben, der einen Zuhause auflauert, sich versteckt, und anspringt, wenn wir es am Wenigsten erwarten. Und der wirklich zuschlägt, und wo wir uns wirklich Beulen holen, einfach um die Pogo-Axt des Lebens „besser“ annehmen zu können. Sofern das überhaupt möglich sein sollte, denn so verdreht, wie diese Axt agiert, können nichtmal die quersten Querdenker denken. Kann es also sein, dass Masochisten im Leben einen Vorteil haben?

 

Wie wäre es, wenn wir eine gewisse Art von Solidarität üben würden? Nach dem Motto „wir sitzen alle im gleichen Boot“? Machen wir das Beste daraus. Reichen wir Hände, wenn wir können. Nicht weil es eine verdrehte Religionsphilosophie vorschlägt, damit du Treuepunkte fürs Jenseits sammelst. Ganz banale, einfache Solidarität. Weil wir alle Schmerz kennen, und es ein paar gemeinsame Nenner in dieser Erfahrung gibt. Ja, es geht weniger um Vergleiche, sondern darum, den gemeinsamen Nenner zu finden, der uns Solidarität ermöglicht.

 

Da wären:

  • Der Wunsch, dass der Schmerz nachlässt/aufhört.

  • Resignation, und damit verbunden das Akzeptieren von Schmerz.

  • Eine Art masochistischer Annahme von Schmerz, weil man ihm ohnehin nicht entkommen kann. Vielleicht kann man wenigstens so tun, als wäre da ne feurige Ekstase darin..?

 

Je nachdem welchen dieser Wege Leidende gewählt haben, können wir Kraft, Vertrauen, Mut, und damit vielleicht sogar einen Hauch Linderung schaffen. Das Letzte, was Leidende wollen und brauchen, sind erhobene Zeigefinger, und Belehrungen. Oder würdest du zu jemand mit Lungenkrebs ins Krankenzimmer gehen, und sagen: „Ha, da haste wohl ne Fluppe zu viel geraucht...Ha Ha Ha.“

 

Gerade bei Schmerz wird gern so getan, als wüssten alle ganz genau Bescheid. Tatsächlich ist es das vielleicht stärkste Symbol überhaupt. Dafür, dass wir niemals wirklich „wissen“ können, was in anderen vor sich geht. Was praktisch bedeutet, dass wir nicht nur aufgefordert sind, Solidarität zu praktizieren, sondern auch eine ordentliche Portion Bescheidenheit.

 

Es gibt noch einen gemeinsamen Nenner, auf den wir uns jederzeit einigen könnten, wenn wir den Mut dazu hätten. Leidende, und die Außenstehenden.

 

Hilflosigkeit.

 

Im Internet kursieren allerhand gehässige Scherze zum Thema „Männer und Erkältungen“. Wo im Subkontext so getan wird, als wären Männer doch eigentlich das schwache Geschlecht. Ich will auf solchen sexistischen Müll überhaupt nicht eingehen – doch es ist da eine einfache Wahrheit darin zu finden. Dass manche Leute eine Erkältung als die beinahe schlimmste Heimsuchung überhaupt wahrnehmen. Kann es eventuell sein, dass das so gefühlt wird, weil man von einer Kleinigkeit in die Hilflosigkeit gezwungen wird? Gedemütigt von ein paar Bakterien? Oder ein winziger Schnitt in den Daumen der rechten Hand, und man merkt, wie aufgeschmissen man ohne den Daumen ist. Schmerz kommt meist mit Hilflosigkeit im Gepäck, und wenig ist den Zweibeinern mehr verhasst, als sich hilflos zu fühlen. Sich eingestehen zu müssen, dass da etwas sein könnte, das sich dem Einfluss unserer Kontrolle entzieht. Vielleicht ist das sogar der essentielle Bestandteil von Schmerz. Sich der Hilflosigkeit stellen zu müssen. Einsehen zu müssen, dass keine Muskeln, Techniken, Geld, Macht, oder Philosophien daran etwas ändern können, dass es Dinge gibt, die wir nicht in der Hand haben. Das ist, was die Essenz von Mitgefühl bedeutet. Nicht erleichtert aufzuatmen, dass man selbst „noch gesund sei“, und daraus Dankbarkeit zu stricken, sondern sich einzugestehen, dass wir alle verletzlich sind. Dass die Kontrolle, die wir so gern haben, jederzeit genommen werden kann.

 

Ach ja, und zum Thema Dankbarkeit... Angesichts der Präsenz von wirklich Leidenden tendieren Zweibeiner gerne dazu, zu vergleichen, und zu sagen: „Boh, ey, danke, dass dieser Kelch an mir vorüber gezogen ist. Mir geht es ja so gut. (Uff. Glück gehabt.)“

Okay, Baby, dieser Kelch vielleicht, doch der mit deinem Namen drauf, steht schon bereit. Also: Danke wofür? Und vor allem: Danke an wen? In „Mad Max Fury Road“ betet ne Frau.

„An wen richtest du das Gebet?“, fragt ne andere Frau.

„An alle die zuhören“.

Ja, es mag sein, dass tatsächlich Geistwesen, Engel, Einhörner, Elfchen, oder Götter zuhören. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht ist das „Danke“ das wir in den Himmel rufen, vor allem eine Art Ablasshandel, mit dem wir die Pogo-Axt milde stimmen wollen. Manchmal will es mir so scheinen, dass das funktioniert. Aber meine Zahnbürste würde ich darauf nicht verwetten.

 

Was für eine Dankbarkeit soll dass denn eigentlich sein, wenn wir sie an einen Vergleich hängen? Nur mal so als völlig abwegig abstrakten Gedanken eines Träumers: wäre wirkliche Dankbarkeit nicht die, die einfach aus dem Moment erwächst. Aus dem Wunder des Lebens selbst. Das keinen Vergleich braucht, sondern einfach genießt. Wissend, dass dieser Genuss jederzeit enden kann, und wissend, dass dieser Moment alles ist, was ist.