Rolling Stone

 

Ich glaube, die eine große, entscheidende Sache, die mich mit meinem Vater verbindet, ist die Suche nach dem großen Abenteuer – das er zumindest, niemals fand. Vielleicht hat er nur an den falschen Plätzen gesucht, vielleicht hatte ich mehr Glück? Ich weiß, dass er ziemlich Stolz auf mich war, Vaterstolz, als ich eines Tages im Winter, im verschneiten Garmisch bei ihm auftauchte. Auf meinem Mountainbike. Bepackt mit Seitentaschen, Rucksack, Schlafsack, und eingepackt in Lederklamotten um der schneidenden Kälte zu trotzen. Das hat ihm gefallen. Er hätte gern jahrelang die Berge und Wälder durchstreift. Doch alles, was er sich zugestand, waren zwei Urlaubsreisen im Jahr, in denen er meist nicht die Wildnis vorfand, die er sich erträumt hatte. Ohne Zweibeiner. Ohne Zementwege oder Betonbunker für faule Wandertouristen.

 

Ich weiß heute, dass die Abenteuer, die er sich erträumte, nicht gefunden werden können, sondern einen finden. Sobald man anfängt, all die bequemen Aspekte der modernen Sicherheits-Zivilisation aufzugeben. Je mehr ich aufgab, desto deutlicher kam etwas zum Vorschein, was ich „Wahrhaftigkeit“ nennen möchte. Und mit der Wahrhaftigkeit kam die Wahrheftigkeit. Interessant in dem Zusammenhang, ist die Dynamik des Schmerzes, die dort mit drin steckt. Nicht nur Loslassen und Aufgabe ist mit Schmerz verbunden. Auch Eingewöhnung in neue Aufgaben und Umstände. Die Einsamkeit, mit der man konfrontiert wird, wenn man nicht mehr den Weg geht, den „alle“ gehen. (Hier ist das Wort „Einsamkeit“, der schmerzhafte Aspekt des AllEinSeins, angebracht. Ab einem bestimmten Punkt des Weges, wird es schwierig, sich für andere verständlich zu machen, und man kann nur noch darauf hoffen, dass man, wenn schon nicht verstanden, so wenigstens ausreichend geliebt wird.)

Anders gesagt: wenn einen das Abenteuer findet, beginnt wirkliche Selbstbestimmung. Ohne Netz und doppelten Boden. Was sich in einem Eso-Ratgeber hübsch lesen würde, bedeutet im tatsächlichen Leben allerhand Druck, Herausforderung, und birgt ausreichend Möglichkeiten zum Scheitern. Und dieses Scheitern hat etwas Bedrohliches. Weil es nicht darum geht, den imaginären Status oder irgendein Prestige zu verlieren. Es ist vielmehr eine Frage um Leben und Tod. Ich weiß, das klingt mächtig melodramatisch. Ist nicht so gemeint. Vielmehr so, wie ich es neulich auf dem Rad, auf dem Weg zum Meer fühlte: „Heute ist ein guter Tag zum Leben oder Sterben.“

Wenn Beides (wenigstens annähernd) gleichwertig als Möglichkeit im Raum steht und willkommen ist, fühlt sich das ziemlich abenteuerlich an.

 

Warum hat mein Vater eigentlich das Abenteuer gesucht? Warum habe ich es getan? Die Antwort wird mir seit einem Monat um die Ohren geschlagen. Weil die Heftigkeit, mit der das wirkliche Leben auf mich eindrischt, mit der die Natur mich herausfordert, die Art von Prüfung ist, die ich nie haben wollte, immer vermieden habe, und am dringendsten brauchte. So wie der Bequemlichkeitsspeck an meinem Körper durch Muskeln ersetzt wird, verschwindet ein kleiner, bequemer Junge, der gelernt hatte, er dürfe sich Sonderrechte einräumen, weil er... tja... wieso eigentlich? Weil er hübsche Bilder malen kann? Weil er nette Texte schreibt? Weil er paar Klangcollagen gebastelt hat, die fast niemand hören will? Weil er Frauen zum Orgasmus bringen konnte?

 

Es hatte da einiges auf meinem Wunschzettel gegeben, was ich erleben und als Fähigkeiten hatte integrieren wollen. Kreativ sein war mir besonders wichtig gewesen. Oder ein „guter Liebhaber“, was auch immer das heißen mag. Doch hatte ich kaum bemerkt, dass es einen roten Faden in meinem Leben gab, der sich als subtile Vermeidungsstrategie beschrieben ließe. Ich glaube, eine Eigenschaft, die ich von meiner Mutter erlernt hatte, und sie sich wiederum durch das Leid im 2. Weltkrieg angeeignet hatte. Während mein Vater unbewusst die Gefahr suchte (auch wenn er sie nie fand), hatte meine Mutter Gefahr gemieden. Nicht dass ich sie dafür verurteilen würde. Ich glaube, sie ist sehr gut damit gefahren, und es hat zu ihrer Gelassenheit gepasst. Mir fällt jedoch ein Zitat aus „Fight Club“ ein. Ob ich ohne Narben sterben wollen würde? Nachdem ich 30 Jahre meinem Herz unzählige Narben zugefügt habe, habe ich nun die Gelegenheit in der Natur meinen Körper zu quälen. Warum das jemand tun sollte? Oder gar wollen möchte?

 

Es fühlt sich momentan so an, als würde zum ersten Mal in meinem Leben wirklich Selbstachtung eingefordert. Nicht die öde, vorgegebene Selbstverantwortung, die einem von Staatensystemen vorgegeben wird; das Surrogat von „Selbst“, in dem es tatsächlich nur darum geht, fremde Vorgaben zu erfüllen. Die Natur fordert etwas von mir, was mich wirklich herausfordert. Eine Saite in mir zum Schwingen bringt, die stets angeschlagen werden wollte. Jedoch nicht angeschlagen werden konnte, solang ich im Sicherheitsnetz der Zivilisation gefangen war. Versteh mich richtig, liebes Lesewesen. Sicherheit hat etwas für sich. Gegen ein wenig mehr Sicherheit in meinem Leben hätte ich nichts einzuwenden. Doch der Preis, den ich in der Zivilisation dafür zu zahlen hatte, ging stets auf Kosten meines Abenteuers.

 

Heute lebe ich ohne Strom (lade mein Laptop im Café auf), ohne Internet, ohne wirklichen Komfort oder gar Luxus, und fühle, dass mich das Abenteuer gefunden hat. Es wäre nicht das Abenteuer, das ich meinte, wenn es nicht völlig anders wäre, als ich mir hatte vorstellen können. Meine Eingewöhnungszeit ist noch nicht vorbei, doch meine Schritte durch die Natur haben sich bereits geändert. Ich habe bereits den Schlangen-Scanner installiert. Vieles, was in domestizierter Natur oder der Stadt kein Thema ist, hat sich hier als neue Lebensweise eingetuned. Ich weiß heute, dass mein Vater die Antwort in sich getragen hatte. Er wusste, dass die technischen Errungenschaften in ihrem Kern etwas Schädliches hatten. Er verachtete die moderne Welt – doch hatte versagt, in einem Akt der Befreiung von ihr völlig loszulassen. Ich bin gerade erst am Anfang und von manchem Scheitern durchgeschüttelt. Ob es mir gelingen wird, ist die Prüfung, die erst noch bestanden werden will. Ich bin tatsächlich sehr … neugierig..? ineteressiert..? gespannt..? erwartungsvoll..? ob ich diese Prüfung bestehen werde. Und ob irgendwann ein Punkt kommt, da ich aufwachen werde, in meinem Bettchen in der Wildnis, und fühle: „Ich hab's geschafft!“

...und ob ich dann bereit bin für ein neues Abenteuer...

 

Fortsetzung folgt...