E.T. - der Außerirdische

 

Jahrzehnte ist's her, dass ein Phänomen aus Amerika hier her schwappte. Lange Menschenschlangen vor den Kinos. Rekorde an den Kinokassen. Kann sich heute kaum mehr jemand vorstellen, dass ein Film es schaffte, die Straßen leer zu fegen, weil alle ins Kino mussten... Das Phänomen machte einen Mann reich und zum vielleicht berühmtesten Regisseur der Welt. Als das Phänomen nach Deutschland kam, riss es so ziemlich Jede(n) mit. Ein paar Jahre war das Phänomen nicht mehr aus dem Leben von Kindern und Jugendlichen wegzudenken.

 

Mich beeindruckte dieses Phänomen so sehr, dass ich im Werkunterricht nur Eines machen konnte, als wir aus Speckstein etwas schnitzen sollten.

 

Wir hatten damals eine äußerst alternativ angeökte Lehrerin. Bevor wir an die Werkzeuge durften, sollte jeder sagen, was er schnitzen wollte. Das fiel mir nicht leicht, denn das Phänomen, das mich so bewegte, hatte mit Gefühlen zu tun und ich war in einer Klasse voller Jungs, die alles daran setzten, Gefühle zu verbergen. Sie konnten nicht früh genug „richtige Männer“ werden. Was da abging, hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Sträflingslager oder dem Trainingscamp der Marines, als mit einer Schule, in der ein sensibles Wesen etwas hätte lernen können.

 

Alle begannen brav zu erzählen was sie schnitzen wollten. Jene die keine Fantasie hatten, machten nach Anregung der Lehrerin einen "Handschmeichler". Niemand wusste, wozu so was gut sein sollte, aber naja, es war Schule, da war es oft sinnlos nach Sinn zu fragen, und „irgendwas musste man ja machen“. Also machten ein paar Jungs seltsame Handschmeichler, die am Ende so aussehen sollten, wie irgendwelche Steine, vom Meer rund- und glatt geschliffen. Andere in der Klasse machten Tiere, oder versuchten es. Ich erinnere mich noch, was für ein Drama es manchmal gab, wenn der poröse Speckstein brach. Die Aufregung, die sich dann verbreitete, verstand ich nicht. Speckstein war ein rechter Scheiß, und mit Unfällen war zu rechnen. Ganz einfach.

 

 

 

Als ich sagte, was ich schnitzen wollte, waren für einen Augenblick alle Augen auf mich gerichtet:

 

E.T.“ hatte ich gesagt. Mit dem leichten Zittern der Erregung in meiner Stimme, das mich auch heute noch manchmal befällt, wenn mir etwas wirklich ans Herz geht.

 

Diese Buchstaben standen für "Extra Terrestrial" und eine Figur aus einem Steven Spielberg Film, der mir einfach nur die Sicherungen raus gehauen hatte. Dieser Film hatte mich bezaubert, und bezaubert, wie ich war, konnte ich nur eine Sache machen: E.T. schnitzen. Ich war erfüllt von E.T., wenngleich ich nicht recht erklären konnte, warum mich diese Geschichte so tief bewegte. Die halbe Welt war wegen diesem Film bewegt, und so richtig begriff niemand, warum eigentlich.

 

Die Lehrerin war damit weniger einverstanden, denn was war schon ein "E.T."..? Da stieß ihre alternative Form des Begreifens an eine Grenze.

 

In dem Film gab es eine Zeile: „Wie erklärt man einer höheren Intelligenz "Schule"?“ Und wie erklärte man einem Kleingeist Inspiration? Ich spürte, dass die Lehrerin es mir ausreden wollte – und wie üblich verstand ich nicht wieso. Hatte ich mit der Idee, eine Filmfigur schnitzen zu wollen, zu viel eigenen Willen gezeigt? Wollte mich die Lehrerin vorm Versagen schützen? Oder hatte sie einfach eine Abneigung gegen Hollywood? Was ich verstanden hätte, aber dann hätte sie sich E.T. ansehen sollen. Für einen unangenehmen Augenblick war ich das Zentrum des Werkraumes. Was nicht nur ich hasste, sondern die ganze Klasse. Ich hätte ohnehin keine Beliebtheits-Wettbewerbe gewonnen. Aber auch noch ungewollt Aufmerksamkeit auf mich lenken? Gefährliches Manöver. Aber ich konnte nicht anders. Ich musste das machen, was ich in mir fühlte. Genau betrachtet, witterte ich eine winzige Chance, endlich mal wieder etwas zu erleben, was diesem Schwachsinn „Schule“ einen Hauch Berechtigung gab. Werkzeuge, Material, Raum. Und die Freiheit, etwas zu kreieren, was mich wirklich bewegte.

 

Letztlich gab es natürlich keinen Grund dagegen, einen Außerirdischen aus einem Hollywoodfilm zu schnitzen, und ich setzte meinen Willen durch. Ohne dämlichen Kommentar der Lehrerin und der so genannten Klassenkameraden ging das natürlich nicht, aber es war mir egal. Ich würde E.T. schnitzen! Genau betrachtet, hatte ich ihn bereits geschnitzt, und hielt ihn fertig in der Hand. Es gab keinen Zweifel, dass es mir gelingen würde.

 

Ich hatte sowieso keine linken Hände, und es war im Bereich des Möglichen, dass E.T. wie E.T. aussehen würde. Die Konzentration und Begeisterung mit der ich diese Miniatur-Skulptur machte, war ein Akt der Liebe. Ich war inspiriert, und spürte deutlich Liebe im Schaffen. Was in der Klasse abgegangen sein mag, war mir in jenen Stunden egal. Ich schnitzte meinen Außerirdischen, und das Staunen der Mitschüler war groß, als "E.T. wirklich wie E.T. aussah". Wie schon zuvor, mit sadistischen Cartoons, erntete ich dafür Bewunderung, dass ich etwas „konnte“, was die Schüler nicht begriffen. Nur begriff ich die Bewunderung ebenso wenig. Ich machte, was ich machen musste.

 

Über einen Monat dauerten die Specksteinstunden, und ich brauchte jede Sekunde. Während der Stunden kam öfter mal Martin M. an mir vorbei geschlichen, und dann streckte er wie im Film den Finger raus, und krächzte heiser: "E.T. nach Hauuuuuuuse telefonieren". Jedes mal. Die Klasse schmiss sich weg vor lachen. Es erschien allen wie ein Witz, nur ich, ich empfand es als Auszeichnung. Ich fand Beachtung mit etwas, das ich liebte. Allerdings ging es noch ein Stück weiter.

 

Ich hatte plötzlich meinen Namen:

 "E.T." - das war ich.

 

Wenngleich alle Jungs, außer Martin, das mit maximaler Verachtung aussprachen, empfand ich es als Lob. Ich hatte meinen ersten "neuen" Namen. "E.T." schien mir recht passend. Ich war allein, wie ein Außerirdischer, ich war zu großen Gefühlen fähig, und überhaupt, gab es so viele Parallelen zwischen "E.T." und mir, dass ich herzlich wenig tat, um meinen alten Namen wiederzubekommen. Der Spitzname gefiel mir, und wenn die Anderen gewusst hätten, wie sehr, dann hätten sie mich wohl kaum E.T. gerufen. Sie wollten mich demütigen, aber tatsächlich fühlte ich mich das erste Mal erkannt, und mit meinem wahren Namen angesprochen.

 

Irgendwann war die Arbeit vorbei, und ich bekam irgendeine Note darauf...Ich erinnere mich nicht ob es eine Eins oder eine schmähliche Zwei geworden ist, denn das war egal. Es ging nur um die Figur. Ich hatte eine kleine Skulptur meines außerirdischen, imaginären Seelenbruders gemacht, und dafür einen Namen bekommen, der treffender nicht hätte sein können. Ich war der Außerirdische, inmitten einer Horde kleiner Jungs, die unbedingt große Männer spielen wollten. Ich hatte mich nie gefühlt, als hätte ich zu ihnen gehört. Nun hatten sie es erkannt. Sie hatten mich in den Adel des Außenseiters erhoben, und ließen mich soweit in Ruhe, wie das manchen anderen Außenseitern nicht gegönnt wurde. In dieser Schule fehlte das weibliche Gleichgewicht. Jeder der nicht beißen wollte, wurde gebissen. Außer mir. Ich wollte nicht beißen und wurde fast nie gebissen. Ich war der Außerirdische, und als solcher suspekt genug, dass man mich zwar misstrauisch beäugte, aber weitgehend in Ruhe ließ. Ich erlebte vielleicht Einsamkeit, Ablehnung, eine unerfreuliche Portion Diskriminierung, und lernte Männlichkeitswahn zu verachten, aber ich lernte keine glühenden Metall-Lineale kennen – wie der Prügelknabe der Klasse.

 

Nur das Geheimnis, warum E.T. mich so bewegt hatte, erschloss sich erste viele, viele Jahre später. Dass da meine Geschichte erzählt worden war. Wie wenig ich mich auf dem Planeten der Zweibeiner Zuhause fühlte, und eigentlich nur zurück auf meinen Heimatplaneten wollte. Die kleine, graue Skulptur von E.T. sollte mich viele Jahre in meinem Leben begleiten. Bis ich mich genug gefunden hatte, und von „E.T.“ zum „Moonhunter“ wurde, und als meine Jagd nach Weiblichkeit, Lust, und Ekstase erste Erfolge gehabt hatte, nannte ich mich „Sundance“. Tanzend, in der männlichen Sonnenenergie, und völlig überwältigt, von der Illusion, ich wüsste, was vor sich geht, zwischen Frau und Mann. Ha Ha Ha. Natürlich waren es die Frauen, die mich meiner Träumereien überführten, doch nicht nur sie forderten mich auf, damit aufzuhören. Überall wurde ich für meine Fähigkeit zu träumen, diskriminiert. Verrückt eigentlich, dass Zweibeiner nie Müde werden, irgendwas zu finden, was sie als Grund für Ablehnung missbrauchen können. Hautfarbe, Kultur, Genitalien, Alter, Größe, oder auch einfach nur, dass jemand sich weigerte, die vorgegebenen Regeln als gegeben zu akzeptieren. Überwiegend aus Trotz taufte ich mich wieder um. „Der Träumer“ wurde für über 15 Jahre mein „richtiger Name“. Natürlich eckte ich auch damit an. Weil die meisten Leute den „richtigen Namen“ als den verstanden, der in einem Papier behördlich erlaubt worden war. Sagenhaft! Ich liebte den Namen „der Träumer“, weil er sehr schnell deutlich machte, wann ich eine offene, tolerante Seele vor mir hatte, oder wann ich gegen die Schublade eines Automaten stieß.

 

Irgendwann, 2007, auf Ibiza, merkte ich, wie die Träume, und was Andere von mir dachten, weniger wichtig geworden war. Dass die Zeit für den nächsten Namen gekommen war. „Ruhe und Kraft“ waren die Zustände, die mit meinem neuen Namen erinnert werden wollten. Es war meine Kraft, die mich in die Ruhe führte. Die Ruhe machte deutlicher und deutlicher, wie früh ich angefangen hatte, meinen eigenen Weg zu gehen. Und dass viele kleine Details mich – wie auch heute – daran erinnerten, bei mir zu sein, auf mich zu achten, und der Stimme meines Herzens zu folgen. So gesehen, war der kleine E.T. aus Speckstein, eine meiner ersten Begegnungen mit dem Spiel der Selbsterkenntnis.