Die Vaterwunde und ihre Folgen

 

Nachdem ich die ersten Male erfüllenden Sex mit Frauen und Liebe gehabt hatte, war bei mir eine Frage aufgetaucht, auf die ich erst jetzt Antworten bekam. Ich war erstaunt und befremdet, von dieser sonderbaren Idee der „Sexroboter“. In Literatur und Kunst tauchen Ideen der automatischen Lusterfüllerin auf. Wer kennt nicht die sexy Chrome-Androiden von Hajime Sorayama, oder den weiblichen Roboter aus Fritz Langs „Metropolis“? Ich vermute, dass viele Teenager(jungs) mit diesen oder ähnlichen Bildinspirationen aufwuchsen – ohne ein einziges Mal zu hinterfragen, wo der Spaß liegen sollte, mit einer Maschine Sex zu haben. Sex mit einer Maschine kann eigentlich nur dann eine Fantasie sein, wenn Angst vor Gefühlen und Verletzungen Basis dieser Fantasie sind.

 

Geh ich einen Schritt weiter, stellt sich die Frage, wo der Spaß liegen soll, mit Sexarbeitern oder einem Computerbildschirm (beim Anschauen von Pornos) Sex zu haben. Das ist keine moralische Frage. Es ist vielmehr eine Sinn-Frage. Die Antwort eröffnet sich erst, wenn man(n) bereit ist, „Spaß“ aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Zum Einen, welchen Sinn irgendeine Aktion hat, deren Ziel Spaß sein soll, wenn tiefe Verbundenheit (Liebe) dabei ausgegrenzt ist. Zum Anderen, woher die uralte Sucht nach Entertainment eigentlich kommt.

 

Hier erscheint der (nicht anwesende) Vater. Überprüfe einmal für dich, inwieweit dein Vater ein verletzter Junge war, der im besten Fall seine Verletzung mit markigen Stärkekostümen getarnt hatte. Wer hatte einen Vater, der nicht von einem verletzten Jungen erzogen worden war, und welcher Vater hat seine Wunde nicht weiter gegeben? Optimistischer weise möchte ich glauben, dass in den letzten 20 Jahren in modernen Gesellschaften viele Männer anfingen, die Männerrolle zu hinterfragen. Wenn ich jedoch sehe, wie unbekannt der Begriff „Vater Wunde“ noch ist, muss ich davon ausgehen, dass die Wenigsten eine essentielle Wahrheit ergründet haben: dass der Vater als Vater gescheitert war, und es nicht geschafft hat, dem Kind etwas mitzugeben, was gemeinhin als „Stärke“ bezeichnet werden kann. Womit ich nicht behaupten will, dass Mütter keine Stärke mitgeben können; sie können sehr wohl. Es liegt in der Natur unserer Säugetier-Existenz, dass wir aus der Vereinigung zweier Energien erwachsen. So ist es wohl auch natürlich, dass alles weitere Wachstum ebenfalls zwei Energien benötigt. Wenigstens.

 

Ist es da verwunderlich, wenn die Vaterrolle sich aus der Affäre ziehen will? Wer soll Vater sein, Verantwortung übernehmen, ohne dafür ein Vater-Vorbild gehabt zu haben? Kommt dir das bekannt vor? Wo war dein Vater? Was hat er dir mitgegeben? Und um die Sache richtig verwirrend zu machen: ist ein Vater da, und stellt er sich der Aufgabe, ist er noch lang kein guter Vater. Der Sinn der Vaterschaft ist nicht, einen guten Soldaten zu erschaffen – doch ist das häufig das andere Extrem. Väter, die nicht lernten, Gefühle zu zeigen, wurden zu Soldaten und Kampfjunkies, und gaben/geben diese Botschaft weiter. (Siehe auch: Filmindustrie, Buchmarkt, Medien, etc...)

 

So wird es auch verständlicher, warum die Idee vom Sexroboter auftauchte. In 30 Jahren Sexperimenten, habe ich nicht eine einzige „einfache“ Konstellation erlebt. Sobald es um etwas mehr als Orgasmen und Befriedigung geht, kommen komplexe Gefühle und Verstrickungen ins Spiel. Ich war nicht wirklich erfreut darüber, dass ich zwar als Liebhaber paar nette Kniffe drauf hatte, aber emotional unglaublich viel zu lernen und in mir zu heilen hatte. Heilung, die bis heute anhält. Weil ich in Momenten der Liebe fühlte, wie es ist, das ganze Geschenk zu erhalten, statt sich mit der Verpackung zufrieden zu geben. Weil ich weiß, dass alles schöne Entertainment keinen richtigen Sinn ergibt, solang keine wirklich Verbindung besteht. Ohne Austausch, ohne Verletzlichkeit, ohne Hingabe, bleibt selbst die geilste Orgie nichts als eine weitere Ablenkung.

 

Verbindung erfordert den Mut sich zu zeigen und verletzlich zu sein. Etwas, das ich überwiegend von Frauen gelernt habe. Was ich nicht gelernt habe – und wo mein selten anwesender Vater ins Spiel kommt:

 

Woher nehme ich die Stärke, um verletzlich zu sein?

 

Wir alle kennen Leute, die ihre Verletzlichkeit mit netten Tricks tarnen. Wir alle haben selbst gelernt, wie wir uns tarnen können. Und es geht einen Schritt weiter. Es wurden Gesellschaften geschaffen, die ohne Ende Ersatzbefriedigungen anbieten. Sexroboter, Sexarbeiter, Pornos, Filme, in denen „wahre Helden“ dramatische Aufgaben bewältigen – aber fast nie gezeigt wird, dass die wirklichen Dämonen, die es zu besiegen gilt, in uns sind. Es wurde eine Konsumgesellschaft geschaffen, in der alles willkommene Ablenkung ist. Alles geschaffen, um Momente der Stille zu vermeiden. In der Stille könnten Hinweise auftauchen. Dass wir Wunden in uns tragen. Und nein, wir müssen nicht sexuell misshandelt worden sein, um den Status eines Vergewaltigungsopfers zu haben.

 

Damit das heilige Ideal von „Elternschaft“ erblühen kann, und gesunde Menschwesen erzeugt, müssten Eltern Königin und König sein. Starke, gesunde (geheilte) Helden, die wissen, wie das Leben zu leben ist. Entspricht das dem, was deine Eltern waren? Und nicht nur aus dem Blickwinkel eines Kleinkindes, sondern auch, wenn du als erwachsener Mensch auf deine Eltern blickst?

 

Ich weiß, dass meine Eltern ihre Sache so gut gemacht haben, wie sie konnten. Dass ich großes, großes Glück hatte. Ihre Liebe stand und steht außer Frage. Sie gaben mir Vertrauen mit auf den Weg, und Liebe, und Kreativität, und den tiefen Wunsch nach Freiheit. Was genug ist, um dankbar zu sein. Die andere Seite ihrer Geschenke, sind ihre unbearbeiteten Wunden. Ihre Verletzungen und Ängste, die sie ahnungslos an mich weiter gegeben haben. Mein Vater hatte nie gelernt, seine Verletzlichkeit zu zeigen, zu erlauben, anzunehmen, oder zu heilen. Meine Mutter hatte die Bombenangriffe auf Hamburg im zweiten Weltkrieg überlebt, und die Angst, mit der sie zu leben gelernt hatte, nie ganz geheilt. Das sind zwei essentielle Wunden, die meine Eltern Zeit ihres Lebens überspielt und getarnt haben – und die ich als sensibles, aufnahmefähiges Gefäß mitbekommen habe. Ohne, dass jemals ein Name darauf geklebt worden wäre.Ohne dass jemals irgendwer gesagt hätte: „Sieh, lieber Vigor, da sind deine Wunden, die nicht deine sind.“

 

Ich lebte jahrzehntelang mit ihnen, erlitt die Folgen der Wunden, aber konnte ihren Ursprung nicht ausfindig machen.

 

Heute befinde ich mich an einem Punkt im Leben, wo keine weiteren Ablenkungen erwünscht und erhältlich sind. Die netten Angebote einer Unterhaltungsindustrie, die von verletzten Eltern für verletzte Kinder geschaffen wurde, locken längst nicht mehr. Was soll all das eifrige Gemache und Getue, wenn darin keine Seele ist? Damit meine ich Pornographie, Sexdienste (geschäftlich und privat), Drogen, Partys, elektrische Spielsachen (die einen immer schön beschäftigt halten), Essen, Reisen, und... und... und...

 

Heute stellt sich mehr als je zuvor die Frage:

 

Was von den vielen lockenden Angeboten ist keine Ablenkung, um mich von meiner Heilung abzulenken?

Wo sind die Dinge, die wirklich Bedeutung haben?

 Wo sind die Menschen, die wirklich Bedeutung haben?

 

Aus der Stille heraus, beobachte ich den Lärm und die Geschäftigkeit der Leute. Sie lassen Spuren aus Blut hinter sich, und weil es „alle“ tun, erscheint es ihnen „normal“. Das Leben könnte tatsächlich sehr einfach, sehr befriedigend, und sehr erfüllend sein. Würden wir nur den Mut aufbringen, aus dem Gewohnten, dem Alltag, auszubrechen. Solange Beschäftigung auf Beschäftigung folgt, und immer etwas im „außen“ uns locken kann, werden wir nicht mal auf die Idee kommen, dass alles einfacher und glücklich sein könnte. Wie gewohnt scheint es da, aus der Wunde eine Tugend zu machen. Einen konsumierbaren Trend. Aber der glänzende Sexroboter hat kein Gefühl. Und darum wird er auch nie irgendjemandes Gefühle berühren. Womit auch niemals die Wunde berührt wird, und bist zum Lebensende weiter eitern wird. Sofern es mich betrifft, ist das keine Option. Ich wähle freiwillig die Verletzlichkeit, und gehe in eine weitere Heilungsrunde. Bis auch die letzte, winzigkleinste Wunde geheilt ist. Das bin ich meinem Lebensgeschenk würdig.

 

 

 

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