Vaterwunden und ihre Folgen (III)

Die großen Lügen der kleinen Superboys

 

Habe ich schon einmal erwähnt, dass ich mein Leben lang Außenseiter war? Das ich schon als kleiner Junge etwas an mir hatte, was andere Kinder dazu brachte, mich nicht „mitspielen“ zu lassen – und ich oft auch überhaupt kein Bedürfnis hatte, mitspielen zu wollen? Das hat durchaus eine tragische Komponente, denn was sollte ich machen, und niemand konnte mir so richtig erklären, was „falsch“ mit mir war. Erst nach vielen Jahren begriff ich, dass außen zu stehen, einen enormen Vorteil hatte. Es ermöglichte einen ungetrübten Blick ins Zentrum der Phänomene. Wozu das nun wieder gut sein soll, das, liebes Lesewesen, kann ich dir nicht mit Sicherheit sagen. Nennen wir es einfach eine „Laune der Natur“, und vertrauen wir darauf, dass sie sich etwas dabei gedacht haben mag.

 

Hier auf Zypern stehe ich in vielerlei Hinsicht außen. Ich habe ein Leben gewählt, das mir von einer Zypriotin das Prädikat „strange“ eingebracht hat. Wie könnte ich da widersprechen? Dennoch verbinden mich zwei, drei Aspekte des Lebens mit der Welt der Zweibeiner. So kommt es, dass ich bei meinen Ausflügen in die Stadt, Zeuge faszinierender Phänomene werde. Spock hätte als Vulkanier auf einer fremden Welt nicht mehr staunen können. Was für Südländer, und Griechenland sehr typisch ist, ist auf Zypern ein allgegenwärtiges Spiel. Es würde mir Lachkrämpfe entlocken, wäre es nicht so traurig gefährlich. Machotum ist eine ernsthafte Angelegenheit. Und was auch immer du dazu denken magst: niemals darüber lachen! Lebensgefährlich! Das ist ein direkter Angriff gegen die zur Schau getragene Männlichkeit.

 

Machotum auf Zypern, wie auch überall sonst, wird begleitet von gut eingeübten Ritualen der Männlichkeit. Wie man sich grüßt oder verabschiedet, wie man sich kleidet, welches Auto man fährt, wie man sich Frauen gegenüber verhält, was man glaubt, und dementsprechend auch, was man lebt. Während es bei Teenagern noch eine übertrieben laute, lächerliche Karikatur des Verhaltens der Erwachsenen ist, tragen die großen Jungs etwas mit sich rum, was ich all tonnenschwere Maske wahrnehme.

 

Die Zwänge der zur Schau gestellten Männlichkeit sind so riesig, dass es hier etwas gibt, was ich so offensichtlich selten irgendwo sonst gesehen habe. Auf Zypern sind viele Dinge sehr viel deutlicher zu sehen, und weniger getarnt oder versteckt. Das betrifft auch die aufgeblähten Lügen der kleinen Superboys. Nur Begegnungen mit Koksnasen haben mich verwirrter zurück gelassen, als die Begegnungen mit den lügenden Superboys. Sie wissen alles! Frag sie, was du willst, sie haben auf alles eine Antwort, alles erlebt, und egal was deine Erfahrung ist – sie haben sicher etwas erlebt, was größer, gefährlicher, beeindruckender, spannender, und generell besser war. Sie kennen alles und jeden. Nennen dich im ersten Satz „Freund“, und glauben scheinbar wirklich, dass das Wort „Freund“ allein ausreiche, um Freundschaft zu erzeugen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie viel, viel reden, gerne ins Wort fallen, und als besonders gewitzte Zutat, stimmen sie dir gerne in vielem zu. Sie scheinen regelrecht einen Scanner zu besitzen, mit dem sie intuitiv – oder durch jahrelanges Üben – genau das sagen, was das Gegenüber gerne hören möchte. Oder was die lügenden Superboys glauben, dass ihr Gegenüber in watteweiche Gefälligkeit wickelt.

 

Was dieses Verhalten so schwer greifbar macht, ist die überragende Freundlichkeit, mit der die Lügen geliefert werden. Diese Lügen sind nicht so eindeutig egozentrisch gelagert, wie bei Koksnasen. Im Gegenteil. Als ich das erste mal auf Zypern Zeuge dieses Verhaltens wurde, lag darin ein unbegreifliches Geheimnis. Weil betreffender Superboy überhaupt keine Veranlassung dazu hatte, zu lügen. Er war stark, männlich, freundlich, hilfsbereit, vertrauensvoll, und hatte eine ganze Palette liebenswerter Eigenschaften. Trotzdem war er ein kategorischer Lügner, und der Ursprung dafür kann nur in einer nie geheilten Vaterwunde zu finden sein, die sich dadurch äußerte, dass betreffende Person geradezu panisch Besessen davon war, geliebt werden zu wollen. (Ein Verhalten das mir nicht fremd ist, wenngleich ich glauben will, dass es bei mir weniger ausgeprägt war. Hoffentlich täuscht mich mein Selbstbild da nicht... )

 

Der Männlichkeitswahn hat Tradition. Nicht nur auf Zypern. Es scheint überhaupt keine Rolle zu spielen, ob der Vater anwesend, abwesend, liebend, fordernd, oder verachtend gewesen ist. Es scheint einfach generell ein gigantisches Defizit an Anerkennung und Förderung durch Väter zu geben. Dagegen ein Übermaß an Gleichgültigkeit und Diskriminierung gesellschaftliche Norm. Es ist, als würden die Superboys überall auf der Welt mit einem gigantischen Minderwertigkeitskompex herumlaufen. Gezwungen, sich und der Welt ununterbrochen zu zeigen, wie großartig und unersetzbar sie seien. Spätestens hier bleibt mir das Lachen im Hals stecken, und Tränen wollen in mir hoch steigen.

 

Wie lässt sich eine derart tiefe Wunde heilen?

 

Ich glaube, dass viele Superboys sich instinktiv zu Frauen hingezogen fühlen, weil sie sich von ihnen Rettung erhoffen. Dass sie ihnen gegenüber Schwäche zeigen dürfen, und das Vertrauen erfahren, das sie mit ihren Vätern nie gehabt haben. Hier beißt sich die Schlange in den Schwanz. Wie sollte das bitte funktionieren, wo doch Frauen meist auch ihre Portion Vaterwunde abbekommen haben, und seit Kindheitstagen zu Opfern des Männlichkeitswahns gemacht wurden? Die Wahrscheinlichkeit auf eine verständnisvolle, liebende Frau zu treffen, ist weit unwahrscheinlicher, als dass sie subtile Rache praktizieren wird (wie von Mutter gelernt), und das gleiche von ihrem Superboy wünscht, was er von ihr erträumt. Die Liebenden, die sich gegenseitig in die leeren Taschen greifen. Ausgestattet mit allerhand Masken, doch keinem brauchbaren Verhalten, das Heilung möglich machen würde.

 

Hier, wie überall sonst, beobachte ich das waghalsige „ins kalte Wasser“ springen der Superboys und Supergirls. Sie können überhaupt nicht abwarten Familien zu gründen, und machen die Babys zu ihren Hoffnungsträgern. Wollen glauben, ihre „Liebe“ sei groß genug, um dem Kind all das zu geben, was sie selbst nicht hatten. Was sie nicht sehen, ist, dass man nichts geben kann, was man nicht hat. Wie auch, wenn sie in einer Gesellschaft leben, die Leben auf Pump fördert? Auf Zypern, doch auch überall sonst, ist das Gesellschaftssystem auf absurden Statussymbolen aufgebaut. Wo der Besitz eines X-Large-Flatscreen oder teuren Luxusautos mehr Bedeutung hat, als Heilung von den Wunden der Vorfahren. Es gilt als „normal“, sich für Prestige bis auf kommende Generationen zu verschulden. Sich in die Sklaverei von Banken zu begeben. Hauptsache der Schein ist gewahrt. Da es fast alle tun, wird es nicht als fragwürdig erkannt.

 

Dies ist wieder nur ein winziger Ausschnitt dessen, was niemand wissen will. Ich gehe weder davon aus, dass diese Worte gelesen, verstanden, oder wertgeschätzt werden, noch dass ein weltweites Wunder einer spontanen Superheilung stattfinden wird. Vielleicht gibt es unter den wenigen Lesern das eine oder andere Herz, das durch diese Zeilen einen Aha-Moment erfährt. Aber vor allem ist es wiedereinmal meine Form der Selbstheilung. Bestimmte Phänomene verwirren mich einfach viel tiefer, als mir lieb wäre, und es ist das Schreiben, das mir hilft, mich in eine halbwegs akzeptable Balance zurück zu schaukeln. Was nicht heißt, dass deshalb etwas gelöst wäre, und ich plötzlich einen besseren Umgang mit den Superboys haben könnte.

 

 

Es ist wie mit den Koksnasen meiner Partyvergangenheit. Egal wie ich meine Parameter justierte, blieben diese Wesen ferne Erscheinungen, die direkt vor mir stehen konnten und gleichzeitig Galaxien entfernt schienen. So ist das auch mit den Superboys. Da ist weiterhin der Wunsch, Herzen mit dem Herz erreichen zu können. Was sich nicht erzwingen lässt. Es passiert. Jedes mal wenn es passiert, empfinde ich es als kostbares Geschenk meines Lebens, weil die verwundeten Superboys eindeutig in der Überzahl sind. Somit gehört mein Schlusssatz den wenigen verwundeten Jungs, die ich in meinem Leben traf, die ihre Wunde und Verletztheit zeigen konnten. Die nicht zu männlich für Tränen oder Hilflosigkeit waren. Ich fühle mich geehrt, dass ich das erleben durfte, und es hat auch gespiegelt, was ich leben durfte und darf.




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