Die Vater-Wunde heilen

 

 

Hast du die Erfahrung gemacht, dass es um so tiefer geht, je tiefer du gehst? Dass bestimmte Abgründe keinen Grund haben? Dass sie bodenlos zu sein scheinen? Dass jeder emotionale Sog, in die Unendlichkeit führt? Damit ist auch ein Stück weit zu erklären, warum Psychotherapie kein Ende hat. Dass sie niemals zu einem „Endresultat“ führen kann und wird. Es geht so tief, wie du bereit bist zu gehen.

 

 

Ich bin ein großer Freund der Idee, dass das Leben selbst die einzige Therapie und Heilung ist, die man für die eigenen Wunden benötigt. Alles ist mir Spiegel und Hinweis.

Nur eine Aufgabe habe ich zu erfüllen, nur einen Beitrag zu leisten:

Genau hinzuschauen.

Mich zu weigern, der Bequemlichkeit Macht zu geben. Die Tricks des ängstlichen Egos zu verbieten. Diesen Weg gehe ich mittlerweile seit über 30 Jahren. Und je tiefer ich gehe, desto tiefer wird es.

 

Gerade habe ich ein faszinierendes, lehrreiches, heilsames Jahr als Eremit hinter mich gebracht, in dem ich mit nicht mehr als 5 Menschen kommuniziert, und fühlte, dass ich damit etwas erreicht hatte. Ich hatte viel über meine Abhängigkeiten in Beziehungen und im Sexbereich erfahren – und erstaunlich leichten Herzens loslassen können. Statt Entbehrung, fühlte ich Erleichterung. Weil viel, viel, viel zu viele Partnerschaften oder Affären, weder zu Liebe geführt hatten, noch dass ich mich geliebt gefühlt hatte. Vor allem stellte sich einmal mehr heraus, dass ich unglaublich viel Energie aufgewandt hatte, um geliebt zu werden.

 

Meine letzte „Beziehung“, Partnerschafts-Versuchsanordnung, Affäre ohne Sex, Freundschaftslektion... ehrlich gesagt fehlt mir der Name, für das, was stattgefunden hatte... führte direkt in die Auflösung bestimmter Sichtweisen und Verhaltensmuster, die ich seit meiner Pubertät, wenn nicht sogar seit meiner Kindheit, gelebt habe. Oder versucht hatte, sie zu leben.

 

In meinem Sog der Einfachheit und des Loslassen, fielen nun auch die lIllusionen ab, wie ich zu sein, und was ich zu machen hätte. Ich fing an, mich noch wohler in meiner Haut zu fühlen, und sogar die Farben meiner Kleidung wandelte sich auf natürliche Weise von Schwarz nach Weiß. Das war insofern erstaunlich, weil meine schwarze Kleidung stets ein Symbol der Abgrenzung von „den Anderen“ gewesen war. Eine Art „Matrix“-Verkleidung. „Cool“ sein, damit ich für „Normalos“ nicht erkennbar war. Damit ich meine Zugehörigkeit zu den Ausgestoßenen, Outlaws, und Einzigartigen untermauern konnte. Kaum war dieses Gefühl verschwunden, gab es auch keinen Grund mehr, mein Äußeres als irgendein Symbol zu nutzen. Es ging nur noch darum, worin ich mich leicht fühlte – und das waren helle Farben, wie Weiß und Beige. Genau wie sich das in meiner Malerei zeigte. Die Einfachheit hatte sich so weit in mir ausgebreitet, dass neuer Platz entstand. For neue Farben und Formen.

 

Wenn da eine Sache war, die mir weiter ein Rätsel blieb, dann war das die Geld-Frage. Weil ich längst aufgehört hatte, Reichtum abzulehnen, oder mich zu weigern, zu tun was zu tun ist, wenn es um Geldverdienst ging. Und wie ich so vor mich hin lebte, flog mir ein Wort zu, das überraschenderweise sofort in mir resonierte. Das Wort war: Vater-Wunde.

 

Auch wenn dieses Wort und die damit verbundenen Ideen fest in den Händen christlicher Prediger und Theologen zu liegen scheinen, war eindeutig, dass darin eine Wahrheit steckte. Dass moderne „Männer“ eigentlich nie Männer wurden, weil sie meist ohne Vater aufwuchsen. Damit ist nicht nur gemeint, dass die Väter die Erziehung des Sohnes der Frau überließen. Es heißt auch, dass Väter nie da waren, selbst, wenn sie da waren. Was übrigens auch für die meisten Mädchen zutreffend sein dürfte. Und hier kann ich mich gleich von den Mann-Frau-Konstrukten verabschieden, weil es nicht darum geht, dass nur Söhne vom Vater etwas dringend benötigen. Alle Kinder brauchen dringend ihre „Väter“. Die Vater-Energie. Die Vater-Botschaft. Und die wiederum ist weit weniger mit Männlichkeits-Ideen verbunden, als der Begriff „Vater“ suggeriert.

 

Es ist eine sonderbare Sache, mit den Rollen, die Menschen zugedacht werden. Was eine Frau sein soll, was ein Mann, was eine Mutter, was ein Vater. Eigentlich schreibe ich hier mehr über die Abwesenheit von etwas, als über eine wirklich existente Sache. Ich schreibe hier von abwesender Männlichkeit. Oder abwesender Männlichkeitsidee.

 

Wer meine Texte kennt, weiß, dass ich mit Männlichkeitsideen auf Kriegsfuß stehe. Warum? Weil das, was gemeinhin in Medien als Männlichkeit verkauft wird, einfach grottendämlich ist. Destuktiv. Banal. Da geht es um Gewaltfantasien. Rechtfertigungen Gefühle zu verstecken, oder sich für Gefühle zu schämen. Da geht es darum Supermann, Superheld, und dauerschlau zu sein. Da geht es um Materiegeilheit als Statussymbol. Machtbesessenheit, weil es sonst zu wenig gibt, worüber sich ein „echter Mann“ definieren und freuen könnte. Dürfte. Schon als Teenager hatte ich beschlossen, diesen Weg nicht gehen zu wollen.

 

Auch wenn die Liebe meines Vaters außer Frage steht... Auch wenn er stolz auf mich war... Auch wenn ich Dankbarkeit fühle, für die Liebe zur Natur, die er mir mitgegeben hat... Mein Vater war ein Paradebeispiel für einen verletzten Mann, der im Konflikt war, mit den Anforderungen, die an ihn gestellt wurden. Forderungen an seine Männlichkeit, die er nicht erfüllen konnte, weil er nie erfahren hatte, wie „Männlichkeit“ funktionierte. Ich hatte insofern „Glück“, weil ich einen Freund und Mentor fand, der diese Lücke bei mir schloss, und mir hilfreiche Wegweiser für meine „Männlichkeit“ schenkte.

 

Was ist eigentlich mit diesem Begriff „Männlichkeit“ gemeint? 

 

Vor allem hat es für mich etwas mit Durchsetzungskraft und Entschlossenheit zu tun. Meinen Selbstwert zu bestimmen, und dazu zu stehen. Ich hatte Jahre damit verbracht, die öffentlichen Männlichkeits-Wahnideen von mir fern zu halten, Sensibilität, Feinfühligkeit, und Sanftheit zu üben, ohne mir ansatzweise bewusst darüber zu werden, dass ich ein Stück weit, die Passivität und Ängstlichkeit meiner Mutter bei mir integriert hatte. Ich habe über Jahre immer dagegen rebelliert. Bevorzugt dann, wenn mir Passivität und Ängstlichkeit meiner Mutter, bei einer Freundin oder Geliebten begegnete. Die Resultate davon waren heftige Wutausbrüche, die ich mir ebenfalls jahrelang nicht erklären konnte. (Dieses Thema habe ich in dem Roman „Gewalt war gestern“ abgehandelt.)

 

Wenn ich Prinzessinnen traf, die auf der Suche nach einem Ritter waren, war ich kategorisch für diese Rolle nicht zu haben. Wer will ein Ritter sein, der von einem kleinen Mädchen „getestet“ wird, nur damit er ein bisschen Sex als Belohnung bekommt? Überhaupt: das Belohnungsprinzip für das „brave Männchen“ stieß mir schon vor Jahren unangenehm auf. Wer kennt nicht den Moment im Sex, wo man dafür „belohnt“ werden soll, weil man eben einen Orgasmus geschenkt hatte? Wenig ist mir heute unangenehmer, als das. Sex als Bezahlung? Gibt es etwas demütigerendes? Nicht begehrt zu werden, für das, was man ist, sondern dafür, dass man „brav“ gewesen ist, und seine Rolle erfüllt hat? Und auch hier, bin ich mir sicher, dass das alle Menschen kennen, ungeachtet der Begriffe, die auf sie geklebt wurden. Es ist eben nicht so, dass nur „Frauen“ oder „nur Männer“ die Folgen der Rollenklischees auszubaden haben. Dieses Spiel ist alt, festgefahren, und so tief eingeprägt, dass kaum jemand es schafft, die Genitalien nicht mit einem Rollenklischee in Verbindung zu bringen.

 

Männlichkeit bedeutet eben nicht, Schwanz, Eier, Erektion, und Sperma. Es bedeutet auch nicht Muskeln oder Macht. Das ist der gleiche Unfug, mit dem Fraulichkeit definiert wurde: Fruchtbarkeit, Sinnlichkeit, Mütterlichkeit...

 

Ich glaube, wir werden gerade Zeugen einer globalen Heilung, in der Menschen überall anfangen Updates zu installieren. Nein, eine Frau definiert sich nicht über ihre Genitalien, und Männer ebenso wenig. Wir sind auf dem gemeinschaftlichen Weg in die Menschlichkeit. Wir helfen uns bei der Heilung, und darum spiegeln wir uns gegenseitig unsere Wunden. Das heißt nicht, dass unsere Spiegel die Wunden verursachen. Wir tragen sie in uns, seit wir geboren wurden, weil wir von verletzten Kindern geboren wurden. Zeige mir Eltern, die nicht verletzt sind, und ich zeige dir ein Wunder. Im besten Fall – womit auch ich beschenkt wurde – können Eltern Liebe und Vertrauen mit auf den Weg geben. Alles darüber hinaus, ist Bonus, doch ohne Liebe und Vertrauen, sind auch die edelsten Absichten wenig wert.

 

„Vater-Wunde“ ist eigentlich ein etwas ungünstig gewählter Begriff, und die Bedürfnisse von Töchtern und Söhnen unterscheiden zu wollen, erscheint mir wieder der klassische Irrtum aus längst vergangenen Tagen, in denen Genitalien und Eigenschaften verbunden wurden. Außer Frage steht jedoch, dass es unterschiedliche Energiequalitäten gibt. Und wie in „Fight Club“ so schön gefragt wurde: „Wir sind eine Generation von Jungs, die von Frauen groß gezogen wurden. Ich frage mich, ob eine weitere Frau die Antwort auf unsere Fragen sein kann.“ Was für eine brillante Aussage! Damit ist nicht Frau oder Fraulichkeit abgelehnt. Sondern es wird die Frage gestellt, woher wir (ungeachtet unserer Genitalien) Durchsetzungskraft, Mut, und Selbstwert hernehmen sollen.

 

Wer waren die Krieger in deinem Leben, die dir Kraft gaben, das Leben erfolgreich zu leben?

 Wer war der Krieger in meinem Leben?

 

Ich hatte in meinem Leben eine Freundin, die eben diese Kriegerqualitäten in sich trug. Und sie hatte die nicht von ihrem Vater, sondern von ihrer Mutter gelernt. Womit auch gleich die Idee in Frage gestellt ist, ob es für diesen Job einen Vater bräuchte. Tatsache ist, dass meine Mutter es mir nicht mitgegeben hat, und mein Vater nicht wirklich anwesend gewesen war, und nach der Scheidung meiner Eltern regelrecht unsichtbar.

 

So befinde ich mich heute, nach all meinen Lektionen, in einem weiteren Lernspiel. In dem es darum geht, bestimmte „männliche“ Prinzipien bei mir zu installieren, ohne deshalb in eine lächerliche Macho-Rolle abzudriften. Das Lernen dieser Prinzipien ist eigentlich sehr einfach. Aufgaben gibt es genug – und ein Krieger stellt sich diesen Aufgaben. Ein ungeliebtes Wort ist dafür der Schlüssel: Disziplin. Etwas, das man heute überwiegend im Militär und im Sport lernt – aber dort meist verbunden mit recht sonderbaren Idealen, mit denen ich mich nicht identifizieren konnte oder will.

 

Es ist wie mit Mathematik. Mir konnte nie jemand begreiflich machen, worin der tiefere Sinn von Mathematik läge. Ebenso wenig, konnte mir mir jemals jemand den Spaß von Disziplin erklären.

Heute, während ich dies schreibe, liegt die Antwort auf der Hand.

Disziplin ist Teil meiner Heilung.

Heilung führt mich tiefer und tiefer ins Glück und in den Frieden.

 

Heute, während ich dies schreibe, ist noch nicht klar, wie diese Aufgaben gelöst werden wollen. Es ist nur deutlich, dass zum ersten Mal in meinem Leben keine Ausreden locken, mich von mir und meinem Weg abzulenken. All die schönen Ablenkungstricks, die von verwundeten Männern geschaffen wurden, um von der Wunde abzulenken, ziehen nicht mehr. Es gibt keinen Grund mehr, in Drogen, Partys, Sex, Porno, oder Computersimulationen irgendwelcher Art zu flüchten. Weil ich all das ausreichend hatte; sogar Spaß und Befriedigung daraus gezogen hatte, solange mir das reichte.

 

Die Einfachheit hat mir den illusionären Charakter der meisten schicken Ablenkungen vor Augen geführt. Das Leben hat mir ausreichend Partnerinnen vorgesetzt, die mir meine Vater-Wunde gespiegelt hatten. Heute bin ich bereit, diese Tatsache anzunehmen. Zu akzeptieren, dass da etwas wie eine Vater-Wunde ist. Dass ich etwas nie gelernt habe – und heute anfangen kann, es zu lernen.

 

Liebes Lesewesen, wo immer du auch bist, fühl dich eingeladen, bei dir zu schauen, welche Eigenschaft dir fehlt. Was du gerne hättest, und warum du es nicht hast. Und damit ist nicht das nächste Gimmick gemeint, das du teuer im Supermarkt kaufen kannst. Es spielt keine Rolle, welcher Name auf unseren Wunden klebt. Sie sind austauschbar, denn sie haben eine Gemeinsamkeit. Uns. Wir sind verwundet worden. Uns trifft keine Schuld. Es ist Teil des Lebens. Und was nun? Ewig damit leben? Oder das Risiko eingehen, bei der Heilung durch Schmerzen gehen zu müssen?

 

Die Heilung schreitet voran. In dir, in mir, in uns allen. Wir alle sind mitten drin.

 

 

 

 

 

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