Die ewige Herausforderung

 

Es ist nicht ganz leicht den Überblick zu behalten. Oder ihn überhaupt erst mal zu bekommen.

Zweibeiner rennen so vielen Dingen hinterher, und nennen sie „Wahrheit“, nur weil es ihnen jemand vorgeschwatzt hat, oder weil ihnen der Mut fehlt, gegen den Strom zu schwimmen. Genauer gesagt: mit dem Strom zu schwimmen. Was wie „gegen den Strom schwimmen“ scheint, ist nur die Masse der blinden Lemminge, die glauben, ihnen würden besondere Ehren zuteil, wenn sie gegen den Strom schwimmen.

Eigentlich geht es nur darum, aufhören mit dieser unsäglich belämmerten Masse gegen den Strom anzukämpfen, loszulassen, und sich vom Strom mitreißen zu lassen.

 

Weil wir seit frühesten Kindheitstagen gelernt haben, uns an der Routine der Masse zu orientieren, haben wir verlernt, der Einfachheit des Lebens zu folgen. Wir machen uns vor Angst in die Hose, bei der Vorstellung vom Lebensstrom mitgerissen zu werden – obwohl er uns trägt und führt. Meist brauchen Zweibeiner eine heftige, radikale Motivation in Form eines Unfalls, einer sogenannten „Krankheit“, oder sonstiger aufrüttelnder Ereignisse, ehe sie bereit sind, loszulassen. Meist müssen sie erst im Leben sterben, ehe sie bereit sind, die wirklichen Geschenke anzunehmen.

 

Es ist zugegebener Maßen eine anspruchsvolle Aufgabe. Gerade die, die Blind im Gefängnis der Sklaverei leiden, geben vor, was man zu tun hätte. Aber nicht materielle Reichtümer, Ruhm oder Macht drücken aus, wie viel Erfolg jemand im Lebensspiel hat. Es ist die Todesstunde, die verrät, ob wir es mit einer gescheiterten Seele zu tun hatten, oder einem Meister des Lebensspiels. Schau sie dir an, die Reichen, Mächtigen, Berühmten. Wie viele von ihnen sind mit Würde und Gelassenheit gestorben? Wer wurde Drogenopfer, Krankheitsopfer, Einsamkeitsopfer, Traurigkeitsopfer? Wir haben gelernt uns an Zweibeinern zu orientieren, die große Töne gespuckt, doch den letzten Atemzug ohne Lächeln im Gesicht ausgehaucht haben. Welchen Wert haben also die Lehren dieser Wesen? Dürfen wir nicht leichten Herzens sagen:

„Das geht mich nichts mehr an?“

 

Wenn es darum geht, das zu leben, was uns wirklich betrifft, werden wir erstmal allerhand Widerstände auflösen müssen. Da wird immer jemand im Strom gegen uns rempeln und sagen: „Falsche Richtung!“ oder „So geht das nicht!“ oder „Du musst doch..!“ Du wirst dann recht schnell beobachten können, dass diese Stimmen schnell an dir vorbei ziehen, weil sie alle so beschäftigt sind, gegen den Strom anzukämpfen, dass sie sich nicht mit – in ihren Augen – durchgeknallten Spinnern beschäftigen können, die Richtung Meer und Einheit treiben wollen.

 

Auf diesem Weg fallen alte Ideen ab. Man hört auf, Opfer zu sein, weil die tragende Kraft des Stromes Vertrauen schenkt und Mut macht. Weil das Leben mit allem, was man loslässt etwas einfacher wird, und mit jedem Atom Einfachheit, Raum für Erfüllung geschaffen wird. Entgegen der gewichtigen Meinungen der Masse, braucht es dafür wenig. Je eher es gelingt, diese Idee der edlen Menschen und ihrer sozialen Ehr-Konstrukte loszulassen, desto einfacher kann das Leben mit einem sprechen. Wenn das lärmende Gebabbel der Zweibeiner aufhört, werden leiser, feinere Stimmen hörbar. Es ist keine esoterisch mystische Spinnerei, dass Bäume, Pflanzen, Tiere, Wind, Licht und Mutter Erde zu uns sprechen. Wir haben nur verlernt zuzuhören. Wir sind zu sehr von Lärm umgeben, um diese feinen Botschaften aufnehmen zu können. Erst gilt es, akustischen und mentalen Lärm loszulassen, und dann erfahren wir, worum es wirklich geht.

 

Dann kann es durchaus passieren, dass die Filme, Bücher, Popsongs, Nachrichten sowieso, und all das gierig verzweifelte Streben der Zweibeiner an Sinn verliert. Das passiert nicht mit einem Schlag, nicht mit einer Explosion, sondern langsam. So, wie es für jedes Herz zu ertragen ist. Wir können es erleichtern, wenn wir Vertrauen und mutige Demut (Hingabe) üben. Wir müssen nicht dafür kämpfen, und nicht gegen etwas kämpfen. Wenn wir erst mal akzeptiert haben, dass wir einzig dem Leben verpflichtet sind, nicht jedoch den manipulativen, begrenzten Ideen der Zweibeiner, wächst das Lebensglück. Eine Einsicht nach der anderen erblüht. Wir lernen im Lebensstrom immer seltener mit Lemmingen und Wichtigtuern zusammen zu rempeln.

 

Irgendwann ist man AllEin im Strom. Die Masse der „Gegen“-Kämpfer liegt hinter einem – und das ist nicht etwa tragisch oder traurig. Dieser Strom ist voller Geschenke. Niemand der uns reinquatscht, und niemand, der uns sagt, wie wir diese Geschenke zu betrachten hätten. Sogar das ständige innere Gebabbel wird weniger, denn die Geschenke in diesem Strom sind von anderer Natur als Autos, Zahlen auf einem Konto, oder Sexbelohnungen. Die Schönheit, von der wir im hektischen Urlaub am Meer manchmal kurz tankten, wird zu einer treibenden Lebenskraft. Einfachheit wird zum neuen Lebensprinzip. Wer am eigenen Leib erfahren hat, wie wenig Nahrung – materiell, emotional, und geistig – wir Lebewesen wirklich brauchen, kann sich nur noch über die besessen verzweifelte Eifer-Gier der Zweibeiner wundern.

 

Ganz überraschend werden Pflanzen und Tiere zu Lehrern. Nicht in einem romantisch verkitschtem Sinn, wie es die eitlen „Tierliebenden“ tun, die sich in ihrer Rolle als „Tierfreunde“ bezeichnen, ohne ihren Freunden Freiheit zu zu gestehen. Freie Tiere, und Pflanzen ohne begrenzende Töpfe. Wesen, die in direkter Verbindung zu Mutter Erde stehen, und vorleben, was die Zweibeiner verlernt haben, aber dringend wiederentdecken dürfen.

 

Überall werden die Errungenschaften der Technik und das wilde Treiben der Großstädte als Lebensziele verkauft. All das hat Reiz und Lernfaktoren. Nur gilt es genau aufzupassen, wann die Lektion abgeschlossen ist. Ob man womöglich längst die Meisterschaft erlangt hat. Und vielleicht nur noch mitspielt, weil der Mut zum Aufbruch ins Ungewisse fehlt. Was allerdings die wahre Natur des Lebens ist: täglicher Aufbruch ins Ungewisse. Keine Sicherheiten. Keine Garantien. Eine einfache Wahrheit ist, dass wir nackt geboren wurden, und unter all unseren Tarnungen und Masken ein Leben lang nackt bleiben. Nackt, hochsensibel, und verletzlich. Kein noch so dicker Panzer kann daran etwas ändern. Und das ist gut so, weil das Leben erfahren werden will, und wir das nicht erleben können, mit Mauern und Stahlpanzern um uns herum.

 

Entgegen der weitverbreiteten Ansicht der ängstlichen Zweibeiner, halte ich Scheitern für eine Tugend. Es ist gut, mit der eigenen Schwäche und Hilflosigkeit konfrontiert zu werden. Es ist aufrechter und wahrer, als das eitle Kämpfen gegen Windmühlen, das in fast allen Gesellschaften so hoch angesehen wird. Ich meine mit Scheitern nicht „Verzweifeln“ oder sich dem Selbstmitleid hinzugeben. Ich sehe Scheitern als bewusste Entscheidung für einen Weg, in dem ich mir nicht mehr einreden lasse „weniger“ oder „schlecht“ oder „falsch“ zu sein, weil ich sensibel, verletzlich, oder schwach scheine – oder es sogar wirklich bin. Hier komme ich nicht drum herum, Jesus (egal ob es ihn nun gab, oder er nur eine höllisch gute Metapher war) als Vorbild ins Spiel zu werfen. Man hat versucht ihn mit Gewalt zum Opfer zu machen, und es ist ihnen nicht gelungen. Sie haben vielleicht seine Hülle geschändet und letztlich zerstört, doch nicht sein inneres Licht löschen können. Er hat sich geweigert, sich zum Opfer machen zu lassen. Obwohl er sogar sadistisch an ein Kreuz genagelt wurde, war er kein Opfer. Weil er sich weigerte, den illusionären, eitlen Ideen der Zweibeiner zu folgen. Ich bin kein Christ und kein Anhänger des lahmen, selbstgefälligen Christentums, das faul mit Bibelzitaten rum wirft. Aber dieses Bild von Jesus, der sich völlig dem Scheitern und der Schwäche hingab. Dieses Bild beinhaltet mehr Inspiration und Wahrheit, als alle Retreats und Coachings jemals verkaufen können. Lieber scheitern in den Augen der Lügner, als selbst zur Lüge werden.

 

Wer sich darauf einlassen kann, dass es nichts zu streben gibt, dass alles bereits da ist, und wir geführt sind, von einer mystischen, unerklärlichen Kraft, wird vielleicht auch eines Tages erkennen, dass „Scheitern“ nur ein weiteres hohles Wort der Zweibeiner ist, und in sich das Licht wirklichen Gewinns trägt. Und dass es für diesen Gewinn nichts zu tun gibt. Nichtmal ein Los muss dafür gekauft werden. Es gilt einfach nur aufzuhören Energie in Illusionen zu geben, die von Zweibeinern erfunden wurden, weil sie zu ängstlich waren, sich beschenken zu lassen. Sie rufen bis heute: „So einfach kann es nicht sein!“

Und ich höre das Leben seit einiger Zeit rufen:

 

„Doch, doch. Vertraue. Genau so einfach ist es!“

 

(Für J., 2018)