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Einfache Schritte ins einfache Leben

Inspirationen und Erfahrungen für Leute, die alles oder genug haben


Einleitung:

Vorab möchte ich mit Dir, liebes Lesewesen, eine doch sehr erstaunliche Beobachtung teilen.
Wenn es um Themen wie „Stille“, „Ruhe“, und „Einfachheit“ geht, scheinen sämtliche Religionen der Welt ihren Copyright-Stempel auf alle Botschaften gepresst zu haben. Es ist schwierig, ja, fast unmöglich, zu diesen Themen irgendwelche halbwegs neutralen, oder wenigstens nicht religiös eingefärbten Texte zu finden. Sicher, jede Erzählung, jede Erfahrung, jedes Buch, gibt irgendwo eine subjektive Wahrnehmung wieder, und es ist generell schwierig, im Meer aus Worten, die eine Botschaft herauszufiltern, die für einen wertvoll ist. Als ich meine ersten, tiefen Erfahrungen mit Stille machte, war da weit und breit kein Gott, und auch keine andere religiöse Projektionsfläche.  Ich machte Erfahrungen, die ich praktisch in keinen Texten irgendwo gespiegelt bekommen hätte. Am ehesten fühlte ich mich manchmal von Weisheiten des Zen angesprochen, doch auch dort ist ein gewisses heiliges Dogma allgegenwärtig. Villeicht kennst Du das. Diese „heilige Ernsthaftigkeit“, die aus den schönsten Lehren bittere macht.

Eigentlich ist es da naheliegend,Texte über Einfachheit und Stille zu schreiben, das in genau diese Lücke passt. Ohne in religiöse oder andere Dogmen abzudriften. Ich möchte mit diesem Text weder ein weiteres heiliges Werk abliefern, mit dem ich einer fremden, überlegenen Macht meine Dankbarkeit zollen möchte, noch einen weiteren Minimalismus-Ratgeber abliefern. Vielmehr möchte ich meine Erfahrungen mit Dir teilen, und überlasse es ganz Dir, ob Du das als hilfreich oder nervig beurteilst. Am liebsten ist mir ohnehin, wenn du nicht urteilst, sondern fühlst. Denn so begann es. Mit einem Gefühl…



1. Das Gefühl
(Der Anfang vom Anfang)

Im Film „The Matrix“ gibt es die schöne Ansprache von Morpheus gegenüber Neo, dass „du es spürst“, „die ganze Zeit“. Ein subtiles Gefühl, das sich nicht recht orten lässt. Das einen den ganzen Tag begleitet. Eine Ahnung, dass irgendwas nicht stimmt. Dass da irgendwo eine Lüge steckt, und man nie wirklich den Ursprung für dieses Gefühl ausfindig machen kann. Wenn Du weißt, was ich meine, dann bist Du hier richtig. Solltest Du dem Gefühl noch nicht auf dem Grund gegangen sein, dann wirst Du in diesem Text womöglich ein paar interessante Hinweise finden. Solltest Du nicht wissen, was ich meine, wird Dir ohnehin alles was ich zu erzählen habe als extremer, fanatischer Unfug eines Spinners vorkommen, und ich nehme es Dir nicht übel, wenn Du zu Deinen bevorzugten Ablenkungen zurück und mir den Rücken kehrst.

Meinen ersten Aha-Moment hatte ich, als Teenager, als mich der Deutsche Staat aufforderte, meiner Pflicht als "richtiger Mann" nachzukommen, und den „Dienst an der Waffe“ abzuleisten. Dazu wäre noch erwähnenswert, dass ich bereits vier Jahre in einer reinen Jungenschule durchlitten hatte, und daher sehr detaillierte, alptraumhafte Vorstellungen von Orten hatte, wo nur männliche Energien und Hierarchien vorherrschten.

Zuerst war es wohl eine Mischung aus Angst und unbeschreiblichen Ekel vor dem Macho-Trainingscamp, die mich verweigern lassen wollten. Als ich mich an die Verweigerung machte, geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Ich möchte das als „spontanen Blitz gesunden Menschenverstandes“ bezeichnen. Während ich die Verweigerung schrieb, schön nach Anleitung, wie ich ihr aus einem extra gekauften Verweigerungsratgeber folgte, stellte sich jedes einzelne meiner Nackenhaare in Ablehnung auf. Ich las meine erste Verweigerung, die ich aus mir heraus gequält hatte, und war in einem Ausmaß angewidert von dem, was ich da las, dass es mir unmöglich ist, das ansatzweise zu beschreiben. Ich schrieb insgesamt fünf Verweigerungen, und in jede ließ ich,  Brief um Brief, ein wenig mehr von meiner persönlichen Wahrheit einfließen. Bis ich beim fünften Brief in grenzenloser Wut meiner tiefsten und eigentlichen Wahrheit eine Stimme gab. Ich fragte die anonymen Autoritäten, an die der Brief gerichtet war:
„Wer seid ihr, dass ihr über ein Jahr meines Lebens bestimmen wollt?“

Diese Frage, wurde die erste Manifestation des Ausstiegs aus einem „normalen“ und geregelten Leben. Diese Frage, war die erste Tür in einen Raum der Freiheit. Ich las die Frage, und in einem Anflug aufrechter Empörung zerriss ich den Brief und hatte mir eine essentielle Antwort für mein Leben geschenkt:

Niemand hat das Recht über mein Leben zu bestimmen.

Ich hatte in dem Moment, da ich den Brief zerriss, meinen persönlichen Raum der Freiheit betreten. Nichts und niemand hatte mich vorbereitet für das, was nun folgen würde.

Von den drei Möglichkeiten, die mir meine Prägungsrealität vorgegeben hatte, wählte ich eine vierte, praktisch nie kommunizierte Option. Statt Wehrdienst, Zivildienst, oder Gefängnis, wählte ich die Alternative, dahin zu gehen, wo man mich in Ruhe ließe. Diese Option wurde öffentlich nicht kund getan. Das war mir ein Rätsel. Daher fühlte ich mich mit meiner Entscheidung anfangs sehr einsam – aber auch sehr rebellisch und einzigartig. Einen Weg zu gehen, den offiziell niemand zu gehen schien. Einen Ort zu finden, wo ich in Ruhe gelassen wurde.

Das war damals Berlin. Die Oase für so genannte Fahnenflüchtige. Berlin war vor der Maueröffnung ein Sammelpunkt für Freidenker und Freaks jeder Art. Es war eine Insel, inmitten deutscher Kleinbürgerlichkeit. So blieb es natürlich nicht aus, dass ich auf ähnlich Denkende und Fühlende traf, und allerhand brauchbare Informationen sammelte, wie ich mein Leben freier gestalten könnte. Kaum in Berlin angekommen, war ich dem Fahnenfluch entkommen.

Das merkwürdige Gefühl blieb. Welch Überraschung. Diese komische Ahnung, dass ich inmitten einer Lüge gefangen war. Dass ich bei allen Freiheiten, die ich mir nahm, weiterhin gefangen war. In einem subtilen Netz aus Abhängigkeiten. Es sollte immerhin Jahrzehnte dauern, ehe ich durch unzählige Experimente an einen Punkt gelangte, wo das „subtile Gefühl“ verstummte – weil es nichts mehr mit meiner Lebensrealität zu tun hätte. Beziehungsweise, weil ich in meiner eigenen Lebensrealität angekommen wäre. Viele Jahre Versuch und Irrtum.

Daher hier gleich mein erster, und vielleicht wichtigster Tipp. Schreib ihn Dir am besten mit großen, roten Buchstaben über den Badezimmerspiegel:

GEDULD! Alles dauert viel länger als du glaubst und dir vorstellen kannst.

Paradoxerweise geschieht es gleichzeitig unglaublich schnell, denn wenn man etwas gemeistert hat, vergisst man fast augenblicklich, dass man jemals anders gelebt haben konnte. Das ist wie Genesung nach einer schmerzhaften Verletzung. Für die Zeit der Heilung kann man an fast nichts anderes als den Schmerz denken. Eines Tages ist der Schmerz weg, und man fragt sich: „War was?“ Und ja, man hat vielleicht noch eine Narbe, oder sogar Schorf auf einer verkrusteten Wunde – aber es scheint seltsam fern. Als hätte es nichts mit dem eigenen Leben zu tun.

Ich werde an späterer Stelle noch einmal genauer auf das Zeitphänomen eingehen. Sei einfach beruhigt, wenn Deine Ungeduld Dir vorgaukelt, Du wärst  "nicht gut genug." Nicht diszipliniert genug. Nicht stark genug. Nicht genug genug. Das ist natürlich. Das ist Teil des Weges. Mein Freund und Mentor Yamo ermunterte mich damals, am Anfang meines Erfahrungsweges:

„Hab dich lieb“.

Von dem Moment, da ich es das erste Mal hörte, und bis ich diese Weisheit bei mir halbwegs integriert hatte, vergingen zehn Jahre (!). Nur damit Du eine Vorstellung bekommst, in welchen Zeitdimensionen sich Wahrheitsfinder bewegen. Das dauert. Ich habe zehn Jahre gebraucht, ehe ich Selbstbestrafungsmechanismen und harsche Selbstkritik soweit aufgelöst hatte, dass ich langsam anfangen konnte, „mich lieb zu haben“ in praktische Handlungen umzusetzen. Was wieder eine anspruchsvolle Aufgabe war, denn es wird einem nicht in der Schule beigebracht, wie man sich selbst motiviert oder selbst belohnt. Wir leben in einer perversen Schuldgesellschaft, in der religiöse verdreht, Selbstbestrafung als Tugend gesehen wird – aber wehe, wehe man lässt es sich gut gehen. Pfui, pfui, pfui!

Ich erkannte recht früh auf meinem Weg, dass ich in zehn Jahren Schulzeit, wenig Brauchbares gelernt hatte. Dass die Dinge, die ich für meinen eigenen, persönlichen Weg nutzen könnte, selbst erfinden musste. Es dauerte wieder Jahre, ehe aus dem „musste“ ein „durfte“ wurde.

Am Anfang meine Weges gab es unterschiedlichste Ansätze, wie ich meine Wahrheit finden könnte. Einfachheit und Stille spielten zu dem Zeitpunkt noch keine Rolle. Mein primäres Ziel war Freiheit.  Damals, zwanzig Jahre jung, konnte ich mir nicht vorstellen, dass Einfachheit und Stille Freiheit wären. Ich suchte Freiheit, indem ich Konsumangebote der Gesellschaft, durch Konsumangebote der Subkultur eintauschte. Ich könnte auch sagen, dass ich statt der gesellschaftlich legitimierten Drogen, die illegalen Drogen wählte. Wozu ich nicht nur chemische oder pflanzliche Substanzen zähle, sondern auch Sexualität, die nicht dem Zweck der Fortpflanzung dient, bewusste Freundschaften mit Subkulturgestalten, und Inspirationen, die nicht über Massenmedien als „cool“ verkauft wurden. Ich machte aus der Not eine Tugend. Ich war drauf und dran, aus meinem Außenseiter-Status meine persönliche Religion zu machen. Ich machte mich zum Held meines eigenen, persönlichen Filmes – der zugegebener Maßen zu 98% ein Sammelsurium aus allen Filmen, Büchern, Comics und Popsongs war, die ich mir je reingezogen hatte. Auch das war mir zu dem Zeitpunkt noch nicht bewusst.

Es reichte mir völlig, dem Deutschen Staatskonstrukt und dem gewalttätigen Männlichkeitswahn eins ausgewischt zu haben. Ich war jung, abenteuerlustig, rebellisch, und sowieso der Größte. Ich gab mich mit kleinen Erfolgen voll zufrieden. Nachdem ich einen Hauch von Freiheit erschnuppert hatte, fiel mir auch prompt nichts besseres ein, als mich in die Sklaverei von Beziehungskonstrukten zu begeben. Das ist ein unglaubliches Thema gewesen, das mir lange jede Menge Frust, Schmerz, Ärger, Wut, Wahnsinn, Verzweiflung, aber auch Ekstase, Inspiration, und Liebe bescheren sollte. Das ist allerdings ein ganz eigenes Thema. (Einen Eindruck von meinen Lektionen dieses Beziehung-Weges, kannst Du in den Büchern „Sog in Berlin“, „Rausch in Berlin“, „Pulp Tantra“, und „Sex“ bekommen.)

Ich war dem „Wehrdienst“ entkommen, und befand mich nun im krassesten Moloch, den Deutschland zu bieten hatte. Berlin. Eine Stadt, die wirklich niemals schläft. Genau, was ich als junger Rebell brauchte. Ich glaube, es gibt wenige Orte, wo man als schräger Freak besser und einfacher leben konnte, als in Berlin. Man brauchte wenig Geld, und dieses wenige Geld war relativ einfach aufzutreiben. Irgendwie konnte man sich schon durchschlagen. Ich kannte viele, die es so taten wie ich. Wir hangelten uns von Job zu Job, und irgendwie schafften wir es meist, die Miete aufzutreiben. Und wenn nicht, gab es noch die liebe Mama, die rettete, wenn ich mir nicht mehr zu helfen wusste. Was relativ häufig vorkam. Was nicht weiter verwunderlich war. Man hatte mir Mathe und Geschichte beigebracht, aber nicht, wie man sich in einer Erfolgs- und Leistungsgesellschaft durchschlug. Und da war es dann wieder. Dieses Gefühl… Diese Ahnung, dass irgendwas nicht stimmte.

Ich hatte es auf einer Reise nach Griechenland deutlich gespürt. Dass praktisch alles, was man mir beigebracht hatte, eine Lüge gewesen war. Dass ich auch in Berlin, mitten in einer Lüge steckte. Und wieder konnte ich keinen Ursprung ausmachen. Keine Quelle. Keinen Grund. Ja, ich war oft sehr frustriert, und ich war oft sehr wütend. Ohne dass ich konkret erklären konnte, warum. Was mich am Leben hielt, waren nicht Geld, Leistung und Disziplin, sondern Freundschaft, Kunst, Musik, Freundschaft, und psychedelische Drogen.

Es waren psychedelische Drogen, die mir einmal mehr deutlich machten, dass es auf dieser Welt etwas gibt, was Staaten vor uns geheim halten wollen. Eine Welt in der Welt. Eine Wahrheit hinter den Lügen. Doch hörte das LSD auf zu wirken, war ich mit meinem „erweiterten Bewusstsein“ wieder in Berlin, und das Gefühl, das eben im Rausch verschwunden schien, brummte wieder in mir.

Zum Thema psychedelische Hilfsmittel gäbe es auch Romane zu schreiben. Ich möchte hier Befürwortern wie Gegner meine essentielle Wahrheit dazu verraten:

Die Droge ist nicht der Weg. Sie ist Wegweiser. LSD hat mich für ein paar wertvolle Stunden dahin katapultiert, wo ich hingehöre. Hat mir quasi eine Momentaufnahme meiner unbegrenzten Möglichkeiten geschenkt. Eine Ahnung meiner Zukunft. Und dann..? Wurde ich vom Alltag langsam aus dem Raum der Wunder herausgezerrt. Kein Wunder, dass es so viele gibt, die einen Rausch an den nächsten reihen. Wer will Alltag, nachdem man Galaxien durchreist ist, die sich allen Beschreibungen entziehen?

LSD wurde ein guter Freund. Ich genoss die Räume, die ich durchflog, und die Inspirationen, die ich dort fand. Heute muss ich allerdings ernsthaft fragen, ob ich nicht auch mit ein bis drei Trips ausreichend versorgt gewesen wäre. Tatsächlich benötigte ich zwischen 100 bis 200 Trips, ehe ich erlebte, was ich nie für möglich gehalten hätte: auch der LSD Rausch kann bekannt werden. Routine. Ausgelutscht. Nachdem ich zwei gigantisch ernüchternde Deja Vú‘s auf LSD gehabt hatte,   musste ich das als Hinweis der Droge annehmen, dass ich meine LSD Zeit gehabt hatte, und neue Zeiten angebrochen waren. Das geschah im Jahr 2007. Zurück ins Jahr 1991, als ich noch mitten im Rauschuniversum herumflatterte.

Es war zweifellos LSD, das mich den Lehren des Zen öffnete. LSD und Zen scheinen erstaunlich gut zusammen zu passen. Ich lernte Meditation, und ich flirtete mit der Idee ein Zen-Mönch zu werden. Und wieder gab es einen ersten Anflug von Einfachheit. Weil ich es „cool“ fand, wie Zenmönche rumrannten, rasierte ich mir meinen Kopf kahl – und war überrascht, von den Begleiterscheinungen. Augenblicklich fielen eine ganze Reihe Ärgernisse von mir ab. Kein stundenlanges rummachen vorm Spiegel, bis meine widerspenstigen Haare so saßen, wie ich mich sehen wollte. Kein Föhnen und Haare trocknen nach der Dusche. Kein Haare waschen, kein Gel, kein Kamm, keine Bürste… Ich war begeistert. Ich hatte eigentlich gedacht, das wäre eine vorübergehende Laune, doch seit 1991 ist mein Kopfhaar nie länger als zwei Millimeter gewachsen.  Ich hatte mich an die praktische Einfachheit meiner „Frisur“ gewöhnt.

Passend dazu, durfte ich in der WG, in der ich mich paar Jahre durch schummelte, 3 Monate im japanisch, minimalistischen Zimmer eines Zen-Praktizierenden einnisten. Während der Urlaub in Nepal machte. Wo sonst?

Diese 3 Monate in der klaren, aufgeräumten Energie vom ziemlich coolen, Berliner Zenschülers Alex, hatten einen nachhaltigen Einfluss auf mich. Nicht nur die Zenbücher, die ich dort fand, und eins nach dem Anderen verschlang, sondern auch der Raum als solcher. Seine Einfachheit beeindruckte mich maßlos. Ich war nur weit davon entfernt, ansatzweise zu verstehen, welche Energie dahinter steckte. Zu dem Zeitpunkt war ich viel zu sehr vom Mysterium und der Mystik im Zen abgelenkt, die ich glaubte, darin finden zu dürfen. Ich hatte zwar viel begriffen, aber nicht, dass Zen null mit Mystik zu tun hatte. Alles was mir Zen anbieten wollte, schien mir doch sehr weit ab, von meinen Vorstellungen von Freiheit.

Obwohl ich alle paar Jahre damit liebäugelte, in ein Kloster zu gehen, ersparte mir das Leben eine herbe Enttäuschung. Zu meinem vagen Gefühl, dass irgendwas in meinem Leben nicht stimmte, gab es auch ein vages Gefühl, das mir genau zuflüsterte, was mit mir zu tun hatte, und was nicht. Zen hatte mit meinem Leben zu tun; ein Zenkloster nicht. Paradoxerweise ist jedes Kloster ein Widerspruch zur Lehre des Zen. Warum das so ist, erfuhr ich, als ich 20 Jahre später eine Dokumentation über ein Zenkloster in Japan sah, und das was ich da sah, sich in nichts von jeder Deutschen Behörde unterschied. Außer vielleicht, dass ein Zenkloster in Sachen Style ein paar Bonuspunkte gegenüber jeder Behörde macht. Ich sah absurde, sinnentleerte Rituale, denen heilige Bedeutungen angedichtet wurden, und gelangweilte Bürokraten in schicken Roben, denen jedes Lebensfeuer aus den Gesichtszügen weg gegähnt worden war.

Stattdessen wurde ich ein Zenstümper. Ein Zenstümper ist die Vorstufe zum Universalstümper. Also jemand, der sich unter keinen Umständen irgendeinem Club anpasst, nur weil die Clubcard so schön goldene Buchstaben eingeprägt hat, der irgendwelche Vorteile verspricht. Ich übte Meditation, aber meine Beweggründe waren absolut nicht im Sinne des Erfinders. Ich wollte die Ladys damit beeindrucken. Das hatte stark damit zu tun, dass es mir an Erfahrung fehlte, und die fehlende Erfahrung, brachte fehlendes Selbstwertgefühl mit sich. Obwohl die Mädchen sich lauthals beschwerten, wie gefühllos die Jungs doch alle waren, gaben sie doch häufig den athletischen Vollpfosten den Vorzug. Gegenüber mir. Ja, nicht nur Jungs waren Opfer ihrer Gesellschaftsprägung. So wie sie Ausschau nach Prinzessinnen aus dem Märchen hielten, suchten die Prinzessinnen den Prinzen auf dem weißen Pferd. Die Natur hatte das glücklicherweise vereitetl. Sie hatte mir zwar einen gesunden Körper gegeben, doch keinerlei Motivation, mehr aus ihm zu machen, als er schon war.  Ich sah keinen Grund mich in den Wettkampf der Eitelkeiten zu begeben. Was mir an Muskelmasse und Schwanzgröße zu fehlen schien, machte ich durch Poesie, Romantik, Verrücktheit, Kreativität, und Zenstümperei wett. Mein Selbstwertgefühl war also ein Schlupfschwanz. Eine nach innen gerichtete Erektion. Das sollte auch einige Jahre so bleiben.

Jahre in denen ich „dem Gefühl“ mal mehr, mal weniger intensiv auf der Spur war. Gerade auf LSD hatte ich ständig tiefe Einsichten, wie alles mit allem zusammenhing, und wie sich die wahre Welt, von der Welt, die ich sah, unterschied. Nur konnte ich diese Ahnung nicht festnageln. Ich konnte sie nicht greifen. Ich konnte ihr nicht näher kommen. Auf sonderbare Weise schien sie sogar umso weiter weg zu sein, je näher ich ihr kommen wollte. Ein Phänomen, das mir durch meine Liebesexperimente bekannt war. Je mehr ich Liebe wollte, desto ferner schien sie mir, und erst wenn ich komplett abgegessen war, wurde ich in die wildesten Lovestorys geschubst. Liebesgeschichten, die meine romantischen Fantasien in den Schatten stellten. Relativ früh erkannte ich, dass jede noch so winzige Affäre mit einer Frau spannender und inspirierender war, als jeder Sexfilm, den ich als Teenager gesehen hatte. Kein noch so guter Film, konnte alle Sinne ansprechen. Überhaupt waren die Filme nur eine sehr mäßige Imitation des realen Lebens. Aber als Ablenkung und Inspiration schienen sie mir reizvoll.

Ich hatte es mit 25 geschafft, ein paar meiner wichtigesten Träume zu erfüllen. Fantastische Drogenerfahrungen, wilde Abenteuer mit Mädchen, und relative Unabhängigkeit. Sobald die nächste Rechnung einflatterte, wurde deutlich, dass es eben nur relative Unabhängigkeit war. Ich war weit davon entfernt frei zu sein, obwohl es mir so wichtig war. Weder Drogen, Zen, noch Frauen änderten daran etwas. Das fand ich sehr erstaunlich. Ich war ein ziemlich fanatischer Wahrheitssucher, aber kam der Sache nicht näher. Wohnungen kamen und gingen. Freunde kamen und gingen. Sexabenteuer und Partnerschaften kamen und gingen. Räusche kamen und gingen. Nur das Gefühl, dass etwas nicht stimmte – das blieb. Es war wie ein nerviges Surren im Ohr, das nicht aufhören wollte. An das ich mich genug gewöhnt hatte, dass ich es nur noch selten wahrnahm.

1995 war ein wichtiges Jahr in meinem Leben. Zwei Ereignisse änderten mein Leben. Zum Einen entschied ich, nur noch als Künstler mein Geld verdienen zu wollen. Zum Anderen schlidderte ich in den Berliner KitKatClub, den ich die nächsten 20 Jahre mit pornographischen Schwarzlichtbildern bepflastern würde. Fünf Jahre Abenteuer und Lektionen im KitKatClub, und darauf folgende vier Jahre im Darkside Club wurden ausgiebig in zwei Romanen beschrieben. Ich springe daher gleich zu dem zentralen Punkt der Änderung, mit dem Geschichte eigentlich beginnt.

2005 entführte mich meine damalige Freundin Anna regelmäßig in ihrem schicken, dunkelgrünen Mazda Sportwagen in die Natur im Berliner Umland. 2005 war das Jahr als alles, was ich die Jahre zuvor an Erfahrungen gesammelt hatte, an die richtigen Plätze fiel. 2005 machte ich eine gewaltige Annäherung an „das Gefühl“. Als ich mit Anna in einer Wiese in der Sonne lag, und Käfern beim Grabbeln über Grashalme zuschaute. Es war ein denkbar einfacher Moment. Ich fühlte mich von der Einfachheit so direkt und deutlich berührt, dass ich es kaum glauben wollte. Als wir am Abend des gleichen Tages in die Stadt zurück fuhren, kam ich mir perverser vor, als all die eitlen „Perversen“ im KitKat, die ihre bevorzugten Leidenschaften präsentierten. Was außerdem geschah: ich war nicht allein. Anna fühlte ebenso. Wir näherten uns der Stadtkulisse Berlins, und hätten am Liebsten eine Bombe auf diesen ekelhaften hausen aus Beton und Gestank geworfen. An diesem und darauf folgenden Tagen wurde der Entschluss gefasst, Berlin, die Partys, die Drogen, und unser altes Leben hinter uns zu lassen.

Anna kaufte sich einen VW Bus, und mit dem wollten wir Richtung Süden ziehen. Weil wir keine halben Sachen machen wollten, verkauften, verschenkten, und entsorgten wir alles, was wir nicht mit auf die Reise nehmen wollten. In dem Maß, in dem man uns für verrückt erklärte, fühlten wir, dass wir den richtigen Weg eingeschlagen hatten.

Wir hatten es zu einer gewissen Meisterschaft gebracht, wenn es um Exzesse, Sex, Drogen, Feiern, Selbstständigkeit, und Durchschummeln ging. All das gaben wir auf, für eine ungewisse Zukunft in einem fremden Land. Wir wussten nicht mal, welches Land es würde. Rein in den Bus, und Ciao Berlin, leb wohl, Deutschland.

Ich erinnere mich noch sehr gut, wie es sich anfühlte, als der Bus startete, und wir an einem regnerischen Herbsttag aufbrachen. Nicht nur ich hatte da das Gefühl, „dem Gefühl“ auf der Spur zu sein. Wir hatten uns entschieden, etwas total Verrücktes zu tun. Volles Risiko. Nur Geld für maximal ein paar Monate in den Taschen. Kein Ziel. Nur den Wunsch, unserer Wahrheit näher zu kommen.

Wir nannten diese Wahrheit damals schlicht „Natur“. Die sollten wir bekommen. Wahrheit sollten wir auch bekommen. Nur anders als gedacht. Ich möchte die Pointe nicht vorweg nehmen, doch ein wichtiges Bindeglied zu Verstrickung und zur Illusion hatten wir mit in den Bus geladen. Ich konnte es nicht sehen, Anna konnte es nicht sehen, aber es sollte alle unsere lobenswerten Versuche zum Scheitern verdammen.


2. „Dem Gefühl“ auf der Spur

Freies Reisen ist magisch. Es geht weiter, einfach so. Eine Straße folgt eine andere Straße. Kein Ziel, kein Druck. Wir fuhren einfach Richtung Süden. Durch Deutschland. Durch Frankreich, nach Spanien. Es gab unzählige Wunder. Denkwürdige Erlebnisse. Wir waren froh, dass wir den Schritt gewagt hatten – aber wir waren nicht glücklich. Ja, wie verrückt. Wir hätten eigentlich ganz wunderbar zufrieden sein können, waren es jedoch nicht. Tatsächlich gab es reichlich Konflikte, und nervenaufreibende Missverständnisse. Hätte ich das als Roadmovie im Kino gesehen, wäre ich begeistert gewesen, und ich hätte die Schauspieler für Oscars und andere Auszeichnungen vorgeschlagen. Nur war es kein Film. Es war unser Leben, und wir vermiesten es uns. Mitunter an den schönsten Plätzen, die uns das Leben geben konnte.

Das war mir ein Rätsel. Das ergab keinen Sinn. Wie konnte das sein? Dass wir alles richtig machten, aber es sich dennoch falsch anfühlte? Wo war das Lachen? Wo Unbeschwertheit? Ich gebe zu, dass mich das mächtig beschäftigte, unentspannt machte, und ich einigen Druck aufbaute. Damals wusste ich nicht, was ich heute weiß. Damals wusste ich nicht, dass die unsichtbaren Preise, die auf allem kleben, von uns Zweibeinern gerne weg ignoriert werden. Es ist das, was ich heute, als „die Kunst der Verstrickung“ bezeichne.

Zweibeiner wünschen gern, und noch lieber glauben sie von sich, dass sie so toll und einzigartig sind, dass sie all das bekommen müssten, was sie für sich einfordern. Sogar Liebe wird heute noch weitgehend so von den Zweibeinern definiert; dass sie sich geliebt fühlen, wenn sie bekommen, was sie wollen. Ja, im Wollen sind die Zweibeiner große Klasse. Die Gesellschaft in ihrem Konsumwahn fördert diese Verhaltensweisen sehr. Wer etwas will, wird auch früher oder später etwas kaufen. Nur zu dumm, dass es das offiziell in Partnerschaften, Beziehungen, und Liebesgeschichten noch nicht gibt. Da soll alles umsonst sein. Idealerweise ist es sogar so. Wenn sich Herzen auf der Ebene des Schenkens treffen. Aber wehe das Leben macht diesem Spiel einen Strich durch die Rechnung. Dann kann es ganz schnell passieren, dass die Schuld beim Partner gefunden wird.

Im Beziehungsdrama, das wir spielten, musste es zwangsläufig Schuldige geben. Wir ließen glaube ich keine Gelegenheit aus, uns gegenseitig Schuld zuzuschieben. Was insofern Paradox war, weil ich nicht an Schuld glaubte. Was ich glaubte, war, dass alles anders würde, wenn wir etwas anders machen würden. Dass die Antwort im Nicht-Machen lag, war zu dem zeitpunkt noch nicht zu mir vorgedrungen. Meinen Merksatz: „GEDULD! Alles dauert viel länger als du glaubst und dir vorstellen kannst,“ schaffte ich nicht auf mich oder uns anzuwenden. Es war noch zu früh. Ehe ich die ganze Tragweite des Zeitfaktors integrieren konnte, sollten nochmal zehn Jahre vergehen.

Ich möchte Dir, liebes Lesewesen, an dieser Stelle aufmunternd zuflüstern:
„Hab Vertrauen. So wenig Du Lektionen verstehen kannst oder willst – das Leben wird sie großzügig wieder und wieder wiederholen, bis Du verstehst.“

Ibiza war eine ganz andere Nummer als Berlin. Allen, die jemals dort Urlaub gemacht haben, möchte ich vergewissern, dass sie Ibiza nicht erlebt haben. Man kann diese Insel nicht als Tourist oder in paar Wochen begreifen. Es ist eine völlig andere Welt, wenn man dort lebt. Dort machte ich die ersten konkreten Erfahrungen mit „dem Gefühl“. Es bekam einen Namen, und wurde konkreter. „Das Gefühl“, gab sich als „die Lüge“ zu erkennen. „Lüge“ ist kein populäres Wort, aber es ist genau das, womit ich es von meiner Geburt an zu tun gehabt hatte. Mit einer grenzenlosen, feinmaschigen Lüge. Ein Netz, in das wir von Geburt an geworfen werden. Nirgendwo hatte ich die Lüge so überdeutlich erkennen dürfen, wie auf Ibiza, der Insel der aufgeblähten Scheinheiligkeit.

Ibiza ist zweifellos eine Schöne Insel. Hat hübsche Natur, wenn man nicht mehr als Pinien, Strand, und Meer braucht. Aber die Zweibeiner der Insel sind so tief in Lügen verstrickt, dass ich niemandem Wünsche, damit näher Bekanntschaft zu machen. Oder zumindest gut gewappnet dort einzureiten. Zu Studienzwecken. Fachbereich: „Abgründe und Geistesstörungen der Zweibeiner“. Bevor ich zu weit in schockierende Betrachtungen abrutsche, zurück zum Thema. Was hat das alles mit Einfachheit zu tun? Was hat die Lüge damit zu tun?

Auf Ibiza sah ich zum ersten Mal Ausläufer der allgegenwärtigen Verstrickungen der Zweibeiner. Direkt dem gegenüber gestellt, sah ich die großen Geschenke der Unabhängigkeit und Freiheit, wie man sie in Deutschland nicht leben kann.

Im Detail sah es so aus:

Ibiza ist eine Insel, die für die Saison und von der Saison lebt. Vier Monate, wenn die Tourischrecken kommen, ist die Insel im Ausnahmezustand. Juni, Juli, August, September. Vier Monate um für Einheimische und Zugewanderte das Geld für ein Jahr zu verdienen. Diese Aufgabenstellung hat ein Spiel initiiert, über das niemals in den Medien berichtet wird, weil es hässlich und abstoßend ist. Unvereinbar mit der schicken Lüge der Hippie-Party-Insel. In vier Monaten, verwandelt sich die Insel in eine Geldfabrik. In dieser Geldfabrik wird nicht miteinander gearbeitet, sondern alle gegen alle. Kommt Dir das bekannt vor? Nein? Bitte schau Dich genau um. Ich wage zu behaupten, das Spiel ist überall gleich. Nur das Ausmaß der Lüge ist unterschiedlich groß und in verschiedenen Geschmacksrichtungen erhältlich.

Ibiza ist wilder Westen. Würde man Schusswaffen erlauben, würde es nicht lange dauern, ehe sie sich für eine handvoll Euro umnieten. Wie in irgendwelchen schlechten Italowestern. Wenn ich sage, es ist „offensichtlich“, dann meine ich, es war offensichtlich für meine Freundin und mich. Wir wollten auf „ehrliche Art“ unsere Leben bestreiten. Während das in Berlin recht gut ging, weil es genug Spinner gab, die so tickten wie wir, war auf Ibiza Ehrlichkeit der sicherste Weg in den Untergang. Obwohl sich alle auf Ibiza für sehr Reich hielten, allein schon, weil sie auf der trendy Partyinsel waren, habe ich nie größere Armut, Geldgier, und Angst vor Verlust erlebt. Weshalb das so lehrreich war? Weil sie ganz offensichtlich logen, mit freundlichsten Gesichtern, mit Lächeln und Heiterkeit, sich mit Esokitsch schmückten, und schlimmer als übelste Ganoven aus Film und Fernsehen aufführten. Kokain und Hitze taten ein Weiteres, um diese Show in unvorstellbare Dimensionen aufzupusten. Was ich auf Ibiza sah, war keine Ausnahme. Vielmehr war es eine überspitzte, komprimierte Version der großen, weiten Welt. Eine Karikatur. Alle Hässlichkeit der Zweibeiner auf ein paar geschickte Striche reduziert. Mir dämmerte langsam, dass das nichts werden konnte, mit der Liebe, solang es kein Miteinander gab.

Gleichzeitig existierte eine Parallelwelt neben dem Zweibeiner-Alptraum:
Natur, Abgeschiedenheit, Stille.

Auf Ibiza erlebte ich eines Nachts eine erste Explosion der Stille, die mich nachhaltig prägte. Ich wurde eines Nachts grundlos wach. Ich saß erstaunt allein im Bett und lauschte nach irgendeinem Grund für mein Aufwachen. Es dauerte einige Momente, ehe ich erkannte, was mich geweckt hatte. Das völlige Fehlen jeglicher Geräusche. Es gab weder Tiere, die sich bemerkbar machten, noch Wind, der Blätter bewegte. Absolute Stille. Ein so überraschendes, ungewohntes Phänomen, dass es sogar meinen Schlaf durchdrungen, und mich wachgeschreckt hatte. Stille! Da war etwas in dieser Stille, das stimmte mich feierlich und glücklich. Ich blieb stundenlang wach, diese Nacht, lauschte in totales Nichts, und war erfüllt. Es war auch insofern außergewöhnlich, weil mir dadurch einmal mehr deutlich wurde, wie unvorstellbar einfach das Leben sein konnte. Auf dieser Stille klebte kein Preis. Ich musste dafür nichts tun. Ich musste nicht mal schlau dafür sein, oder besonders einfühlsam. Sie war einfach da – und ich wunderte mich, wie ich so lange ohne sie hatte leben können.

Andere Erfüllung erlebte ich in der Natur, mit Tieren, im Meerblick, der Sonne, dem Licht, und der einfachen Behausung, in der wir lebten. Hier erkannte ich, dass die Zweibeiner Illusionen nachrannten, und statt die Dinge beim Namen zu nennen, lieber weitermachten. Ich selbst hatte das in meinem sonderbaren Partnerschaftsdrama. Ein ständiges hin und her, das irgendwie so überhaupt nicht Richtung Frieden zu steuern schien. Ich spürte ständig den Impuls aufzugeben. Nur fehlte mir der Mut. Zu fern erschien mir das Fremde, was hinter dem Drama warten könnte.

Nach zwei Jahren auf Ibiza, eskalierte der Wahnsinn. Mein Vermieter, ein inselweit bekannter und gefeierter Urhippie, fiel in eine bipolare manische Episode, fackelte fast den Norden der Insel ab, und wurde psychopathisch, wie ich nie für möglich gehalten hätte, dass ein Wesen durchdrehen könnte. Es wurde Zeit zu flüchten. Es ging zurück nach Berlin. Obwohl alle Brücken abgebrochen waren, standen alle Türen weit offen.

Nocheinmal – ich kann es nicht oft genug wiederholen – möchte ich Dich an die Besonderheit des Zeitfaktors hinweisen. Zwischen ersten Erkenntnissen, und der Umsetzung der Erkenntnisse, können Jahre vergehen. Es schien, dass das Leben mir die Möglichkeit geben wollte, dass ich die Einsichten von Ibiza in Berlin sinnvoll anwenden würde. Da hatte das Leben aber nicht mit meiner Sturheit gerechnet. Ich kehrte zurück in eine Simulation der aufregenden Zeiten von 1995 bis 2000. Diesmal jedoch ohne das Feuer der Neuheit und Überraschung. Diesmal routinierter, illusorischer, und gleichzeitig kraft- und sinnloser.
Meine Freundin und ich trösteten uns mit irgendwelchen lauen Ausreden, und unterstützten uns subtil in unseren Illusionen. Was eine gewisse Ähnlichkeit zur Lügerei von Ibizabewohnern aufwies. Was uns nicht auffiel.

Es folgten drei Ausbruchversuche. Einmal, als ich nach Linz in Österreich, einmal als ich nach Spandau, und zuletzt, als ich nach Hermsdorf, am Rand Berlins zog. In jedem dieser Ausbruchsversuche, sammelte ich wertvolle Erkenntnisse. Vielleicht mag es für andere Leute einfacher sein, zur Einfachheit zu finden. Allerdings ist die Lüge etwas, das ich bis zu den Urvölkern zurückverfolgen kann. Es gibt sie nicht, die edlen Wilden. Vielmehr, scheint es in der Natur der Zweibeiner zu liegen, dass jedes Gruppenkonstukt in Abhängigkeiten führt, und Abhängigkeiten erwartet. Damit verbunden, scheint die Lüge eine essentieller Bestandteil von Gruppendynamik zu sein. Das wird einem nicht in der Schule beigebracht. Freunde Dich damit an, dass Du belogen wurdest, und wahre Freiheit nur außerhalb der Gruppe möglich ist. Und damit meine ich außerhalb jeder Gruppe, egal ob sie Freundschaft, Familie, Staat, Club, oder Verein genannt wird. Gruppen sind Brutplätze der Lüge.

Darum flüchtete ich das zweite Mal aus Berlin, nach Linz. Dort hatte ein Freund eine Wohnung frei, und das Haus stand nicht weit weg von der Donau und allerhand waldiger Hügel. Ich war der Partnerschaftsabhängigkeit noch nicht entkommen, hatte aber immerhin räumliche Distanz zustande gebracht. Gute Gelegenheit, erste Übungen der Einfachheit zu praktizieren, und meiner Naturliebe etwas genauer nachzugehen.

3. Nichts will, nichts muss, nichts ruft

Der Unterschied zwischen Handlungen und Geschäftigkeit liegt darin, dass Handlungen sich aus dem Leben selbst ergeben, wogegen Aktivität eine willentlich geschaffene Beschäftigung ist.
Wir leben in Gesellschaften, in der Geschäftigkeit und Aktivität wie Götter angebetet werden. Zweibeiner schaffen es meist nur mit Hilfe von Drogen oder Unfällen, diese Aktivitätsbesessenheit auszubremsen. Der Aktivitätswahn der Gesellschaft ist ein sich selbst infizierendes Energiefeld. Alle erwarten von allen, dass sie genauso aktiv sind, denn aktiv ist gut, ist lebendig, ist gesund. Es wird nur erlaubt, aus dem Aktivitätswahn auszutreten, indem Leute „Urlaub“ machen. „Urlaub“ ist ein scheinheiliger Freiraum, indem die Aktiven ihr Geld ausgeben dürfen, um sich daran aufzugeilen, sich auch einmal bedienen zu lassen. Heißt: sie fahren an Orte, wo sie Bequemlichkeit kaufen, die sie im Aktivitätswahn nicht erfahren.

Würden sie innehalten, und aus dem sogenannten Hamsterrad austreten, würden sie von anderen Aktiven verurteilt und als „faul“ bewertet. Faul darf man nur im Urlaub sein, den man sich sauer verdient hat. Meist können die Aktiven selbst im Urlaub nicht innehalten. Sie müssen gewohnte Aktivitäten durch ungewohnte Aktivitäten ersetzen. Sie ersetzen eine Form von Stress, durch eien andere Form von Stress.

Was ausdrücklich nicht erwünscht ist: jegliche Art von Stille, aus der Selbsterkenntnis und Selbstreflexion erwachsen könnte. In dem Kontext ist auch nicht verwunderlich, dass Yoga im 21sten Jahrhundert zur Modeerscheinung geworden ist. Leute können sich auf ihre Spiritualität und ihre Gesundheit etwas einbilden. Worum geht es beim Yoga? Geschäftigkeit. Alle können sich eitel wichtig fühlen, und haben wieder etwas geschaffen, um sich ihren Dämonen nicht zu stellen. Statt in die Stille zu gehen, und sich selbst zu finden, werden anstrengende, schwierige Körperverrenkungen praktiziert, mit denen man ausreichend beschäftigt ist, um nicht in den Spiegel sehen zu müssen. Nein, wer Yoga praktiziert ist ebenso wenig spirituell, wie Leute die sich mit Meditation schmücken, und dennoch ein angepasstes Sklavendasein leben. Es handelt sich im Marketingstrategien, die Spiritualität verkaufen. Wenn eine Kate Perry, Sklavin der Entertainment-
Mafia von den Vorzügen der Meditation babbelt, dann meint sie eigentlich „Meditation als Tranquilizer“ Wirkliches Eintauchen in die Stille führt früher oder später zu Einsichten. Einsichten, die nicht gesellschaftskonform sind. Einsichten, die dich zwangsläufig aus der Gesellschaft und auf deinen höchst eigenen Weg katapultieren.
Diese Einsichten werden dir den illusorischen Charakter fast alle Bestrebungen verdeutlichen. Du wirst sehen, wie absurd das eitle Treiben der Zweibeiner ist, und dass praktisch alles Leid der Zweibeiner selbst gestrickt ist. Krankheiten fallen nicht aus dem Himmel, oder werden durch Viren geschaffen, sondern durch die Unausgeglichenheit zwischen der inneren Wahrheit und den gelebten Lügen.Umgekehrt kannst du keinen spirituellen Weg gehen, ohne wagemutig deine eigenen Wahrheiten herauszufinden. Tatsächlich sind fast alle Zweibeiner gewohnt, fremde Meinungen nachzubabbeln. Also, unterstehe dich, diesen Text auswendig zu lernen, und als Schutzschild gegen Wahrheit vor dir herzutragen. Dies ist ein Hinweis, mit der Aufforderung in die Stille zu gehen, und dort zu überprüfen, ob meine Erfahrungen für dich hilfreich sind.

Du sollst nicht rumsitzen, so tun als würdest du meditieren, und tatsächlich denkst du angestrengt über diese Zeilen nach. Stille bedeutet Abwesenheit von äußeren Ablenkungen. Stille bedeutet „Nicht-Handeln“, „Nicht-Denken“, „Nicht-Wollen“. Das schreib ich dir nicht, weil ich Zen-Bücher gelesen habe. Ich habe Stille, und den unglaublichen Wert von Aktivitätsverlust erfahren. Dies ist keine angelesene Second-Hand Information, wie sie heute tausendfach im Netz zu finden ist, weil irgendwelche Leute Aufmerksamkeit bekommen wollen. Ich scheiß auf Aufmerksamkeit. Ich hab sie bisher versagt bekommen, und es ist mir Recht wenn es so bleibt. Ich schreibe diese Worte für ein paar wenige Herzen, die erkennen können, was ich meine. Dein Herz wird fühlen, wenn es gemeint ist. Darauf vertraue ich. Genau wie ich darauf vertraue, dass dich die Stille an der Hand und in immer tiefere Stille führen wird.

Der Witz an der Sache: nicht Anstrengung und Geschäftigkeit werden dich dorthin führen, sondern deine Fähigkeit, loszulassen. Etwas, das in modernen Gesellschaften so wenig gelehrt wird, wie Abschied nehmen. Man baut Brücken, man ermöglicht Tricks, um diesem Ding mit dem Loslassen zu entkommen. Irgendeine Ablenkung lockt immer. Stille braucht nichts. Stille will nichts. Sie ist da, und wartet auf dich, wie ein warmes, duftendes Schaumbad. Du brauchst dich nur reinlegen, und die Seele davon tragen lassen. Anschließend wirst du vielleicht unglaubliche Inspirations-Schübe bekommen. Oder du wirst dich gestärkt fühlen. Oder mutiger. Oder befreiter. Vielleicht sollt eich eine Warnung aussprechen. Stille macht süchtig. Wenn du mal die Weite und Freiheit der Stille erfahren hast, wirst du davon mehr haben wollen – und von allem, was dir bis dahin wichtig war, willst du womöglich nichts mehr wissen. Weil du erkennst, wie einfach das Leben sein könnte, wie Wunder-Voll.

Warum Stille so unpopulär ist?
Weil ihre Weite, Größe und Tiefe beängstigend ist. Sie ähnelt der Legende vom Tod.
Aber vor allem wirst du da herausfinden, in welchem Ausmaß du zum Konsumsklaven gemacht wurdest. Du wirst aufwachen, und erkennen, dass niemand dir jemals die Wahrheit sagte, weil die Angsterfüllten angsterfüllt Angsterfüllte schufen. Dass du die ganze Zeit ein Leben geführt hast, das  sich daran orientierte, was andere von Dir dachten oder wollten. Dass dein Wert als „Mensch“ daran gemessen wurde, wie viel du schaffst und wie viel du kaufst.
Stille bietet diesen Eitelkeiten keinen Raum. Du kannst nur nackt in die Stille tauchen. Du kannst nicht mit einem BMW dort rein fahren, dein Schmuck und deine Luxusklamotten werden vor dem Eintritt in diesen Raum von dir abfallen.

So viele Religionen versuchen dir zu verklickern, was du zu tun hast, um wahres Glück zu finden. Statt die Anleitungen zu befolgen, folgst du dem risikofreien Weg, indem du Gebete und Floskeln auswendig lernst, und darauf spekulierst Karma-Punkte zu sammeln. Selbst Religionen sind zu Konsumgütern geworden. Man versprach dir „Erlösung“, wenn du nur schön heilige Bücher rezitieren kannst. So läuft das nicht. Du bist dein eigenes heiliges Buch. Ein Buch, in das allerhand Irre ihre Illusionen rein gekritzelt haben.

Es ist nicht deine Aufgabe „dein Buch“ vollzuschreiben, sonder Seite um Seite von dem Müll zu befreien, den Andere in dein Buch geschrieben haben. Wenn das Buch leer ist, wirst du erkennen, dass du nichts auf die Seiten schreiben musst, weil die leeren Seiten klare Spiegel sind.



4. Linz, Österreich

Nachdem ich durch die Berlinprüfung gegangen war, und den Ibizatest überlebt hatte, war Linz ein Traum von Harmonie und Freundlichkeit. So viele liebe Leute auf einem Haufen, das war schwer zu fassen. Inmitten all dieser lieben Freundlichkeit, war ich der Oberüberaußenseiter. Ich musste nicht erst den Mund aufmachen. Mein Aussehen reichte völlig aus, um Distanz zu erzeugen, die ich eigentlich nicht erzeugen wollte. Ich konnte wirklich nichts dafür. Ich konnte Blue Jeans nie etwas abgewinnen, und orientierte mich grundsätzlich an eigenen sonderbaren Vorstellungen, wie ich aussehen und was ich tragen wollte. Problematisch, an einem Ort, wo fast alle Mädchen aussahen, als kämen sie aus dem gleichen Modekatalog, und die Jungs sich so anstrengten „cool“ rüberzukommen, dass ich nicht glauben wollte, dass sie das ernst meinten. Sie meinten es ernst. Überhaupt meinen es die Zweibeiner sehr ernst mit ihren Glaubenssätzen. Auch ich meinte es ernst mit meinen Glaubenssätzen. Darum war es klug, sie so oft wie möglich für mich zu behalten. Das ging am Besten, wenn ich in der Natur allein war.

Ich fand mir ein Lieblingsplätzchen auf einem Stein in einem Bach, wo ich im Sommer vor mich hin meditierte, und wunderbare Glücksmomente erfuhr (https://www.youtube.com/watch?v=B3ed1vjihnY). Ohne etwas zu machen. Es reichte, dass der Bach „machte“. Das heißt: er floss einfach von rechts nach links, an mir vorbei, plätscherte dabei, und wie in Hesse‘s Siddharta, glaubte ich im Bach Stimmen zu hören. Erzählungen, von allem, was unterwegs aufgeschnappt worden war. Ein endloser Strom aus Worten, Geschichten, und Erlebnissen. Zu schnell strömend, als das irgendwas davon festgehalten werden konnte.

Mehrere Einsichten gewann ich an diesem Bach.

Ich erkannte, dass die einfachsten Dinge, oftmals die Schönsten und Wertvollsten sind.
Ich erkannte, dass Entertainment für Geld nicht ansatzweise so unterhaltsam war, wie die Stunden allein am Bach.
Ich erkannte, dass es in der Natur nichts zu konsumieren gab, sondern ich Teil von allem war.
Ich erkannte, dass es mitunter nichts zu tun gab, und es dann gut war, auch nichts zu tun.

Letzterer Punkt ist im heftigsten Widerspruch zur Leistungsgesellschaft. Die fordert, dass man sich Arbeit suchen solle. Dass man Sinnvolles leisten solle. Dass der Wert eines Lebens an Aktivität und Nützlichkeit gemessen wird. Der Wert eines Menschen daran, wie nützlich er sich für die Gemeisnchaft gemacht hätte.

Doch wollte ich mich überhaupt nützlich machen?
Und wollte ich am Nutzen für andere gemessen sein?

An dem Bach, in einem Waldstück nahe Linz, dämmerte mir, dass da eine gewaltige Lüge in mir aktiv war, die meinem wahren Leben, und meiner wahren Natur nicht nur widersprach, sondern auch meinem Lebensglück entgegen stand. Der Feind war nicht die Gesellschaft. Der Feind war in mir. In Form von gesellschaftlichen Normen, Tabus, Prägungen, und Glaubenskonstrukten.

Wie nicht anders zu erwarten, ging ich in die völlig falsche Richtung. Vergleichbar der Aktivitätsbesessenheit der Yogajünger. Auch ich wollte glauben, ich müsste machen, um die Konstrukte aufzulösen. Das ist, womit ich groß geworden bin, und sicher auch Du, liebes Lesewesen. Wir wurden mit der Legende von heldenhaften, mutigen Taten großgezogen. Nicht ein mal habe ich gehört, dass jemand siegte durch Nichtstun. Ich kannte zwar aus den Zen-Lehren den Begriff des Nicht-Handelns, brachte ihn aber zu dem Zeitpunkt noch nicht mit meinen künftigen Aufgaben in Verbindung. Das ist insofern interessant, weil ich während des Schreibens dieser Worte unzählige Bilder erinnere, in denen ich die Info schon früher, und früher, und noch früher erkannt hatte – ohne aufzuwachen. Es ist, wie die Zenmeister sagen. Alles ist immer da. Was hilft uns das, wenn wir es nicht erkennen und begreifen? Was nützt es, wenn wir es erkennen, und dann dennoch glauben, wir müssten etwas tun?

Die Ausflüge an den Bach blieben also Ausflüge. Tiefe, essentielle Ausflüge, die mich nach Stunden immer wieder zurück in die alten Gleise zurücksetzten. Ich setzte mich zurück. Es war, als würde ich jeden Tag meinen Computer neu Konfigurieren, und nachdem ich es geschafft hatte, drückte ich einen Reset-Knopf, damit ich am nächsten Tag wieder von Vorne anfangen konnte. Hatte ich solche Angst vor der eigentlichen Botschaft?

Ich glaube heute, dass es mir an Vorstellungskraft fehlte, und das ist noch schwerer zuzugeben, als dass ich vor etwas Angst gehabt hätte. Ich, der große Träumer, stieß mit meiner Fantasie an eine Grenze. Das konnte wohl kaum sein. Das durfte nicht sein.

Um die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu berichten: ich kehrte nicht zu einem Büro- oder Fabrikjob zurück, in ein schickes Heim, mit schicken Gegenständen und Möbeln und einem Flatscreen mit Kabelanschluss. Ich hatte weder TV noch Kabel-Abo. Meine Wohnung war eine selbst renovierte Butze, mit Ofen in der Küche, und keinerlei Komfort. Es war eine richtige, echte „Künstlerbehausung“ für 200 Euro im Monat. Dafür hatte ich einen lieben Freund als Nachbar, einen Garten, und relative Unabhängigkeit. Ich wohnte dort ohne Mietvertrag und fesselnde Verpflichtungen. Man könnte also sagen, dass ich es in Sachen Freiheit schon einigermaßen weit gebracht hatte. Ich hörte nichts in mir flüstern: „Du bist am Ziel“. Nichtmal: „Du kannst dich jetzt ausruhen“.

Vielmehr schien eine Art Feintuning zu beginnen. Dass ich deutlicher und deutlicher spüren konnte, wann irgendwo Wahrheit oder Authentizität stattfand, und wann Illusion. Die Illusion war fast überall – Wahrheit nur in der Natur. Das schreibe ich hie rudn jetzt rückblickend. Damals war es mir weit weniger bewusst. Noch immer wollte ich, und fand es normal zu wollen. Ich bewegte mich von A nach B nach C, das ganze Alphabet durch, ohne recht zu wissen, warum eigentlich. Heute würde ich sagen, dass ich im Außen etwas suchte, was ich im Innen nicht zu finden wagte. Ja, es war lehrreich. Ja, es war oft anstrengend. Es war oft einsam. Ich fing gerade erst an zu akzeptieren, dass ich den Spielen und Ritualen der Zweibeiner nichts abgewinnen konnte. Gleichzeitig machte es mich traurig. Warum musste das so sein?

Das Netz der Lügen und Abhängigkeiten erlaubte keine Zwischentöne. Entweder man spielte das Lügenspiel mit, oder man machte es nicht, und dann war man ein gefährlicher Feind und Aufrührer. Ich bekam langsam mit, dass meine Wahrheit, die Lüge der anderen spiegelte. Oder wie mein Mentor einst sagte: „Wenn jemand anfängt zu glänzen, sehen die anderen im glänzenden Spiegel nur ihre eigen Fratze“.  Dumm gelaufen. Darauf hatte ich es nicht angelegt. Aber nun war es da.



5. Für Wahrheit gibt‘s kein Diplom

Inmitten der vielen, vielen Wichtigen Titel und Namen der Zweibeiner, gibt es bislang keinen Titel für exzellente Wahrheitsliebende und -lebende. Weil die Wahrheit nicht erlaubt, dass man etwas auf sie klebt. Weder Namen noch Titel noch Ehren. Die Zenmeister haben es vor Jahrhunderten erkannt. „Kein Verdienst“. Man macht im Namen der Wahrheit, was man als Wahr erachtet. Nicht um des Ruhmes oder einer Bezahlung zu liebe. Es kommt aus einem sonderbaren inneren Antrieb heraus, nicht den Quatsch der Quatschköpfe nachzumachen. Ist das eine bewusste Entscheidung? Sowas wie ein Jobwunsch?

Obwohl ich mich gut an frühe Ereignisse aus meiner Kindheit zurückerinnern kann, kann ich mich nicht daran erinnern, dass ich besonders tugendhaft sein wollte. Das Gegenteil traf eher zu. Da war eine Sehnsucht nach Dekadenz, in der ich wenigstens manchmal einen Funken Wahrheit zu spüren glaubte. Weshalb ich früh eine Sympathie für die Subkulturen der Gesellschaften entwickelte. Ich wollte nicht unbedingt dem tollen Ideal meiner Mutter folgen, die sich mit ihrer Ehrlichkeit allerhand Unannehmlichkeiten aufgebürdet hatte. Vielmehr waren meine ersten Schritte Richtung Bewusstwerdung, direkte Reaktion auf die Banalität der Lüge. Da kann ein Marquis de Sade tausendmal die Tugend des Verbrechens heraufbeschwören – ich sah nur einen Haufen langweiliger, angepasster, fantasieloser Mitläufer, die sich eitel was auf ihre Dekadenz einbildeten. Bevor ich je von Buddha gehört hatte, ahnte ich, dass kein Extrem, egal welcher Farbgebung oder Richtung, erstrebenswert war

Es war eine sonderbare Sache mit der Wahrheit. Es gibt da draußen irgendwelche Rationalisten, die die Wahrheit zerreden wollen. Die davon faseln, es gäbe keine „eine Wahrheit“. Ich sage: es gibt nur eine Wahrheit. Du spürst Augenblicklich, wenn du dich außerhalb davon aufhältst. Es gibt ein kratzendes, disharmonisches Geräusch. Es hat einen komischen, unangenehmen Gestank. Es fühlt sich wie ein Steinchen im Schuh an. Da ist wohl der wahre Grund für meine Wahrheitsbesessenheit zu finden. Ich wollte und will das Steinchen aus dem Schuh entfernen.

Nach einem Jahr und drei Monaten in Linz dachte ich das erste Mal an Berlin. Wieder einmal stand ein Umzug an. Ich brach nur mit meinem Rucksack auf. In diesem Rucksack war alles, was ich tatsächlich benötigte. Trotzdem wollte ich mir einige Kleinigkeiten später nachschicken lassen. Während ich die Kisten packte, hatte ich bereits eine sonderbare Gewissheit, dass ich alles ebenso gut hätte wegwerfen können. Eigentlich hatte nur mein Mountainbike noch eine gewisse Bedeutung. Aber es war alt, und eine Generalüberholung wäre teurer und aufwändiger gewesen, als ein neues Rad zu besorgen.

Wieder tappte ich in die Falle der Materie-Nostalgie. Ich wusste es, tat es aber dennoch. Man wiederholt Dummheiten grundsätzlich so lang, bis man ihrer müde geworden ist. Bis man erkannt hat, dass es andere Möglichkeiten gibt. Oder dass alles so lange Sinn macht, bis es keinen Sinn mehr macht. Genau betrachtet, war es eine weitere Möglichkeit, etwas zu lernen. Das Leben gab mir die Gelegenheit zu überprüfen, ob meine Vermutungen richtig wären.



6. The tower of Spandau

Meine kleine Ein-Zimmer-Bude war im fünften Stock eines ganz reizenden Altbaus. In dem Altbau gab es nicht zu viele Bewohner. Genau betrachtet, gab es da nur mich und die Mutter meines Vermieters im Seitenflügel – was für Berliner Verhältnisse fast paradiesisch war. Das hieß: kein Nachbarschaftstress. Kein Gelärme unter mir, und über mir war nur ein ungenutzter Speicher.    Aber es kam noch besser. Ich wohnte praktisch illegal in der Wohnung. Mein Vermieter hatte seinen Vermietern nicht gesagt, dass ich eingezogen wäre, und irgendwie war mir von Anfang an klar, dass ich früher oder später wieder ausziehen würde. Wie schnell, wie freiwillig, das würde sich zeigen.

Ich machte also das, was ich seit meiner Flucht aus Hamburg in Teenanger Zeiten zu einer Selbstverständlichkeit gemacht hatte: ich richtete mich nicht zu häuslich ein. Dass Bett, Schränke, Kühlschrank und Herd zur Einrichtung gehörten, kam mir sehr entgegen. Es war scheußlich, wenn Möbel transportiert werden wollten. Kaum etwas zeigt besser, wie sehr man Sklave der Materie ist, als Möbel in den fünften Stock zu schleppen. Seit meinem Aufbruch nach Ibiza, hatte ich keine Möbel mehr besessen. Und ich machte mir keine großen Gedanken darüber. Es schien mir perfekt natürlich, keine Möbel mehr zu haben.

In meiner Spandau-Zeit begann der erste Ausläufer meines zukünftigen Eremiten-Lebens nach mir zu greifen. Eine erste Ahnung bekam ich, als meine Kisten aus Linz geliefert wurden – und ich alles, was ich darin vorfand, als toten Krempel vergangener Tage empfand. Nur mein Mountainbike blieb gut und richtig, denn es machte mäßig Spaß, sich in Berlin mit der U-Bahn zu bewegen. Ich musste über mich lachen, dass ich mich nicht leichten Herzens von dem Müll getrennt hatte. Ich holte es in Berlin nach. Ich verschenkte, was zu verschenken war, manches ließ ich irgendwo auf der Straße stehen, und anderes war nur der allwissenden Müllhalde zuzuführen.

Ich hatte mich für Spandau entschieden, weil ich dadurch weit ab vom Sprung war. Schwer zu erreichen. Für wen auch immer.
Ich erhoffte mir mehr Ruhe, als z.B. in Friedrichshain, wo ich zu oft zu lang gelebt hatte. Eventuell  würde mir sogar der wöchentliche Reifenwechsel am Rad erspart bleiben. Ich hatte sie so satt, die pseudocoolen Machoboys, die ihre Bierflaschen auf der Straße zerdepperten. Da war mir die bürgerliche Langeweile von Spandau durchaus willkommen. Und dass um 20 Uhr die Gehsteige hochgeklappt wurden.

Ich machte mir ein Fitness-Center in Gehnähe klar (denn der nächste Winter stand vor der Tür, und ich wusste, ich würde ihn nur mit Sauna überleben), und sonst… tja… ließ ich es mir richtig gut gehen. Ich verkaufte meine Bilder, fuhr einmal die Woche ins KitKat, schrieb viel, malte, machte Klangcollagen, und die Zeit raste nur so dahin. Die einzigen „besonderen Vorkommnisse“ waren überraschende Brennholz-Säge-Attacken des Hausmeisters, die sich gerne paar Stunden hinziehen konnten. Immer eine besondere Freude, wenn irgendwer ne Tischkreissäge im Hinterhof aufbaut, und ein freies „Einstürzende Neubaten“ Konzert simuliert.

Es ging mir also gut genug, dass ich mir sinnvolle Beschäftigungen suchen konnte. Angestrengtes Nachdenken über komplexe Phänomene des Lebens. Wie es zum Beispiel möglich sein konnte, dass ich jeden Tag, eine ganze Tüte Müll fünf Stockwerke transportieren musste. Ich versuchte natürlich, wann es ging, meine Müllentsorgung mit täglichen Touren außer Haus zu verbinden. Damit ich nicht öfter als unbedingt nötig die Treppenhäuser rauf und runter klettern musste. Aber egal wie ich es steuerte: irgendwas stank immer im Müll, und ich wollte ihn schnell loswerden. Ja, in jenen Tagen zelebrierte ich noch die perfekte Konsumenteinstellung: „Weg mit dem Müll!“, aus den Augen, aus dem Sinn.

Was mich von anderen Konsumenten unterschied, war höchstens, dass ich fauler als die Masse  war. Ich begann darüber nachzudenken, wieso ich so irre viel Müll fabrizierte. Ich hatte nicht das Gefühl, all zu krasse Gewohnheiten zu haben. Ich sah mir genauer an, was sich in meiner Mülltüte befand.

Verpackungen...

Jede Menge Verpackungen. Für jede Verpackung hatte ich umgehend Entschuldigungen, warum sich die in meinem Müll befand. Nur bei meinen zwei Tatrapacks, die Saft beinhaltet hatten, wurde ich meine Fragezeichen nicht los.

Orangensaft?

Ich war zu dem Zeitpunkt süchtig nach Orangensaft – und praktisch gab es kein unsinnigeres Produkt. Ich erinnerte mich an meine wundersame LSD-Erfahrung mit einer Florida-Orange, und wie ich genossen hatte, sie zu schälen und rituell zu verspeisen. Anstelle solcher Genussrituale, hatte ich praktische und bequeme Tetrapaks gestellt. Nicht weil ich sie so toll fand. Einfach, weil es sie gab. Sie wurden angeboten, erschienen praktisch, also kaufte ich sie.

„Nie wieder!“, schwor ich mir.

Beim nächsten Einkauf im Spuermarkt fühlte ich mich großartig, als ich statt meiner vier Tetrapaks Orangensaft, ein Kilo Orangen in den Einkaufswagen packte. Eine einfache Handlung, die eine Lawine lostrat.

Die Orangen lächelten mich aus dem Einkaufswagen an, und mir wurde bewußt, dass etwas entschieden falsch lief. Wie konnte es sein, dass praktisch alles, was ich aß, eigentlich natürlich war, aber von Zweibeinern „entnatürlicht“ wurde? Ich sah mich im Supermarkt um, und überall sprang mich Künstlichkeit an. Ich hätte fast laut aufgeschrien, so tief erschütterte mich die Einsicht. Ich wurde verarscht. Wir alle wurden verarscht! In der Obst- und Gemüseabteilung war alles zu finden, was ich zum Leben brauchte – aber der Supermarkt war voll mit Krempel, der „wertvoller“ gemacht worden war; angeblich weil Zweibeiner es in Händen gehalten, und verändert hatten.

Das erschien mir verrückt… Ich stand in der Obst- und Gemüseabteilung des Supermarktes, die höchstens ein Fünfzigstel des ganzen Geschäfts ausmachte. Fast alle Produkte des Marktes stellten irgendwelche denaturaliserten, gewürzten oder gesüßte Imitationen oder Mutationen der Naturprodukte dar. Naturprodukte, die – nebenbei erwähnt – in perfekten, biologisch abbaubaren Verpackungen kamen. Warum also dieser Wahn?

Die erste Antwort, die mir gleich im Supermarkt kam, war die Eitelkeit der Zweibeiner. Dass sie etwas erst dann schätzen können, wenn sie sich eingemischt haben. Sie nennen es „veredeln“ - als wäre zum Beispiel eine Orange nicht edel genug.

Es wurde ein denkwürdiger Einkauf, an dessen Ende mein Wagen sehr viel leerer geblieben war, als sonst. Nicht weil ich so viele tolle, natürliche Alternativen gefunden hatte. Vielmehr, weil ich plötzlich nicht mehr wusste, was ich essen sollte. Fast alles kam irgendwie in Plastik daher, und ich erkannte, es war Zeit für etwas Lern- und Lesezeit. Nicht dass mir alles total neu gewesen wäre. Fast jede meiner Freundinnen hatte mir kleine Pakete von Ernährungslehre rüber geschoben – aber letztlich hatte doch meist die Bequemlichkeit gesiegt. Die Tiefkühlpizza. Der Fertig-Brotaufstrich. Der Streichkäse. Lachs. Eier. Chillisoße. Nicht zu vergessen, der lecker Mohnstollen, den ich auf dem Weg vom Supermarkt nach Hause aus dem Bäckerei-Gefängnis rettete. Ich könnte seitenlang Verlockungen aufzählen, denen ich gerne nachgab, ohne mit der Wimper zu zucken. Weder angesichts der Tatsache, dass ich unnötigen Müll erzeugte, noch mit einem kleinen Interesse, woher mein Essen eigentlich kam.

Hier ist der richtige Zeitpunkt, ein Geständnis zu machen. Ich war zum Konsumenten erzogen worden. Viele Jahre TV Gehirnwäsche, hatten mich zum perfekten Systemsklaven gemacht. Ich bildete mir zwar was darauf ein, nicht bei McDonalds zu essen, aber damit hatte es sich eigentlich schon, in Sachen Bewußtsein. Als ich nach diesem lebensändernden Einkauf den Computer einschaltete, kam das dem Einwerfen eines LSD Trips gleich. Eigentlich hatte ich nur Alternativen zum Verpackungswahn finden wollen.

Es tat sich eine Welt unvorstellbarer Zusammenhänge auf. Plötzlich wurde klar, dass es keinen großen Unterschied machte, ob ich bei McDonalds aß oder nicht. Ich stolperte über die Verbindungen zwischen allen großen Nahrungsmittelherstellern. Wie sie sich Kunden zuspielten. Wie sie gigantische Gewinne einfuhren, indem sie billigste Waren benutzen. Billige Waren, die meist auf Kosten der Natur oder der Erzeuger hergestellt wurden. Und von da, war es nur ein Katzensprung zur größten, unglaublichen Geschichte überhaupt. Wie sich das Thema um tierische Lebensmittel seit meiner Kinderzeit geändert hatte.

Was ich an diesem Nachmittag an Informationen bekam, war eindeutig zu viel, für mein kleines Konsumentenhirnchen. Aber die Weichen waren gestellt. Ein Stein war angesoßen worden, und Stein um Stein wurde nun mit umgeworfen.



6. Ernährunglehren

Eigentlich… Tja, eigentlich hatte ich nur ein paar Hinweise bekommen wollen, wie ich den n Verpackungsmüll reduzieren könnte. Damit wurde ich jedoch in ein Universum aus Glaubenkonstrukten geschubst. Was gesund sei. Was ungesund sei. Welche Ernährung die Beste sei.   Da gab es offizielle Stimmen von Medizinern und Wissenschaftlern, dann gab es Gurus, Spinner, Freaks, und alle erdenklichen Geschmacksrichtungen an Glaubenssystemen. Ich hatte bei den Makrobioten vor über fünfzehn Jahren erfahren dürfen, wie todernst das Thema Ernährung ist. Aber erst im direkten Vergleich im Internet, wurde deutlich, wie viele Ideen es zu dem Thema gab. Nur eins schien nicht zu gelten: einfach zu essen, worauf man Lust hatte.

Schwierig in dem Wust von Glaubenssystemen irgendeinen Lichtblick zu finden. Kaum hatte ich etwas entdeckt, wovon ich mir etwas versprach, stolperte ich auf einer anderen Seite auf genau die gegenteilige Meinung. Wenn also jemand behauptete, nur Obst wäre die Antwort, warnte auf einer anderen Seite jemand, vor dieser lebensgefährlichen Sicht. Überhaupt war der Tonfall all der Ernährungsexperten ziemlich gereizt. Ging es womöglich nicht um Informationen, sondern Religionen? Wenn irgendwer behauptete, Fleischkonsum würde die Welt zerstören, gab es umgehend eine Stimme, die das widerlegte. Das war der Nachteil des Internets. Egal was wer behauptete – irgendwer stellte garantiert genau die gegenteilige Meinung ins Netz. Keine Chance, sich irgendwo zu orientieren. Sich was vorkauen zu lassen. Ich musste es selbst herausfinden. Und was hatte Fleischkonsum mit CO2 Ausstoß zu tun..? Ich verstand nichts von all dem. Ich fand es ja spannend, was ich da laß. Ich erinnerte mich, auf Ibiza einen „Rohköstler“ kennengelernt zu haben – ohne wirklich zu begreifen, was das bedeutete. Dass er keine Nahrungsmittel erhitzte oder veränderte, weil dadurch die Nährstoffe verloren gingen.

Das erschien mir irgendwie einleuchtend. Passte auch zu meiner Wahrnehmung. Warum mussten die Zweibeiner sich überall einmischen? Der Apfel ist doch wunderbar, wie er ist. Wozu Mus daraus machen? Warum Zucker dazu mischen?

Von allen Ernährunglehren sagte mir die Rohkst-Idee am Ehesten zu. Sie schien einfach. Stimmig.

Und wie ich da wanderte im finsteren Tal, stolperte ich über das erste Video aus einem Schlachthof…



8. Steak, triefend blutig

Als kleiner Junge hab ich beim Dorfmetzger oft mal ne Scheibe Wurst geschenkt bekommen. Was ich gerne schon als Kind eitel auf meine Liebenswürdigkeit schieben wollte, war vielleicht nichts als ein Werbegag. Clevere Strategie, um einen zukünftigen Junkie zu schaffen? Wer könnte das sagen? Doch irgendwas in dem Schachthaus-Video stimmte massiv nicht mir meinern werbegeprägten Vorstellungen von „heiler Welt“ überein. Wie jetzt? Die Kühe kamen nicht von der Weide, ehe man ihnen ein Loch in den Kopf machte? Das war kein kleiner Schlachthof, wie der aus meinem Heimatdorf in der näheren Nachbarschaft. Das war eine Tötungsfabrik. Ich staunte, doch so schnell sollte ich aus dem Staunen nicht wieder raus kommen. Als nächstes wartete der Film
„Earthlings“ (https://www.youtube.com/watch?v=ZPj4aPU-kuw) auf mich.

Hier hörte meine Bequemlichkeit erstmal auf, und ein paar generelle Lebensfragen wurden aufgeworfen. Was da in zwei Stunden an Scheußlichkeit auf mich geschleudert wurde, spottete jeder Beschreibung. Zweibeiner waren nicht nur gnadenlos brutal und herzlos, sondern auch unvorstellbar dämlich. Was jedoch am Schlimmsten war: ich war über Jahre Teil dieser Dämlichkeit gewesen. Ich hatte die Kunst der Ignoranz gepflegt, solang ich nur schön meine Fressgewohnheiten beibehalten durfte.

Ich konnte es nicht fassen, dass ich so blind gewesen war, und nun dämmerte mir langsam, dass es nicht nur um Bequemlichkeit ging, sondern auch um miese Gewohnheiten der Nachriegsgesellschaft. Hatte mir meine Mutter nicht x-mal vorgebetet, wie groß die Entbehrungen im zweiten Weltkrieg gewesen waren? Und dass sie das nie wieder erleben wollte? Dass sie mir das unbedingt ersparen hatte wollen? So hatte offenbar nicht nur meine Mutter gedacht. Das war die Eisntellung der meisten Überlebenden gewesen. Endlich wieder Milch! Endlich wieder Käse! Endlich wieder Zucker! Süße Zeiten brachen an – nur nicht für die Tiere. Mit jedem Zweibeiner, der auf diese Welt geboren wurde, galt es neue Produktionsbedingungen zu schaffen. Bis hin zu den Schlachtfabriken des 21sten Jahrhunderts.

Nun ging es mir nicht mehr nur darum, keinen unnötigen Müll zu fabrizieren, sondern gleichzeitig die unglaubliche Tötungsmaschinerie der Zweibeiner zu boykottieren. Die Aufgabenstellung war nicht ohne. Das hatte etwas von kaltem Entzug. Keine Eier mehr. Damit fielen auch zeitgleich fast alle leckeren Kekse weg, die einen essentiellen Anteil meines Hüftspecks darstellten. Kein Käse mehr, und ohne Käse, machte auch Pizza keinen Sinn mehr. Keine Milch mehr, womit Jughurt und Schokolade wegfielen. Und Eis im Sommer. Kein Hühnchen mehr. Kein Lachs mehr… Ne, da hörte der Spaß auf! Auf Kekse und Lachs wollte ich nicht verzichten. Und ohne Schokolade kann man doch überhaupt nicht leben, oder? „Earthlings“ hatte ganze Arbeit geleistet. Ich fing an nachzudenken. Über meine Essensgewohnheiten. Wo sie herkamen. Was ich ändern könnte.

Was konnte ich denn außer Fleisch und Tierprodukten essen? Eindeutig eine Frage für meine damalige Freundin. Die war ganz entzückt, dass ich nun einen fleischlosen Weg gehen wollte. Der Begriff „vegan“ war noch nicht in aller Munde und hatte noch keine endlosen Streitgespräche erzeugt. Aber das war worauf alles hinauslief. Abschied von alten Essensgewohnheiten, und eintauchen in einer Welt völlig neuer Geschmackssensationen.



9. Kalter Entzug

Nach „Earthlings“ gab es nicht mehr viel Bewegungsspielraum. Ich wusste nun, dass ich mich mit jeden Stück Käse an einem unsäglichen System beteiligte. Mit jedem  eingeschweißten Nahrungsmittel, war ich Teil eines anderen unsäglichen Systems. Nein, viel Freiraum blieb da nicht. Ich ließ mich von meiner Freundin beraten, und sie schenkte mir unzählige großartige Tipps, was ich essen konnte, und was lecker schmeckte, ohne dass Tonnen Zucker dran waren, oder ein Tier dafür geblutet hatte. Auch sie tat sich schewer, ganz von manchen Sachen loszulassen – und so trafen wir uns an der Stelle, wo wir „Ausnahmen von der Regel“ machten. Wenngleich wir wußten, dass das eigentlich nur Hinweise auf einen Mangel an Charakter und Stärke waren. Obwohl Kekse, Schoki, Zucker, Käse, und Lachs noch auf meinem Speiseplan waren, hatte ich bereits allem anderen leb wohl gesagt. Obst und Gemüse sollten das neue „cool“ werden, auch wenn das niemand irgendwo bewarb. Es war hilfreich, dass ich einen blutigen Schock erhalten hatte – ohne selbst bluten zu müssen. Ich wusste längst, dass viele Leute erst anfingen zu lernen, wenn sie sich den Kopf an einem Widerstand blutig gehämmtert hatten. Es war kein Trost. Es war kein Trost, dass ich nicht geblutet hatte, denn ich fühlte das Blut der Tiere an mir kleben.

Was war ich doch für eine feige Konsumentenassel. Ließ andere den blutigen Job machen, damit ich mir genussvoll die Hühnerstücke oder Lachsscheiben reinschieben konnte. Aber alles Blut und alles Leid konnten nicht verhindern, dass ich in einer mentalen Abhängikeit von Käse und Lachs war. Es dauerte Wochen, bis ich mich endgültig vom Käse hatte lösen können. Einfach, weil ich nicht wusste, wie ich Nudelsoße oder Pizza ohne Käse hinbekommen sollte. Clever eingefädelt. Ich war darauf programmiert worden, wie etwas zu schmecken hatte - und fehlte etwas, fehlte etwas...

Dann merkte ich eines Tages, dass es nur eine Geschmacksgewohnheit war. Weiter nichts. Dass jede Zutat für sich wunderbar schmeckte, und es keinen Käse brauchte, um alles zu übertünchen.

Kaum hatte ich den Käse aus meinem Leben gelöscht, beobachtete ich ein Phänomen: überall wurde alles im Käse erstickt. Überall stank es nach Käse. Plötzlich wunderte ich mich darüber, wie ich jemals darauf hatte abfahren können. Das Zeug stank wie Käsesocken von Fußballspielern. Sowas hatte ich gemocht? War ich bescheuert gewesen?

Mit dem Lachs sah es anders aus. Da war noch dieser Gedanke mit dem Eiweis, und Proteinen, und Bla, und Blubb. Alles konnte ich gehen lassen, aber beim Lachs machte ich eine Ausnahme. Bis ich erfuhr, dass im Lachs nicht mehr viel Lachs zu finden war. Weil herkömmlicher Lachs von Lachsfarmen kam, wo die Fische mit  Drogen vollgepumpt wurden, um gegen die Krankheiten der Massenhaltung gewappnet zu sein. Substanzen, die im Fleisch gespeichert blieben, und eigentlich auf meinem Ernährungsplan nichts verloren hatten. Da blieb wirklich nicht mehr viel übrig. Zum Essen. Glaubte ich. Und weil ich so brav war, und so gesund lebte, gestand ich mir zu, Kekse zur letzten Ausnahme von der Regel zu machen. An irgendwas musste ich mich festhalten. Glaubte ich. Es wäre interessant gewesen, zu wissen, warum ich das glauben wollte, aber bei dieser Frage war ich längst nicht angekommen. Vorerst rutschte ich von Schock zu Schock, weil ich jeden Tag neue Entdeckungen machte, wie ungesund ich mich ernährt hatte. Dass ich für Nahrung gehalten hatte, was eigentlich nur Ersatzbefriedigungen für… Ja, für was eigentlich?  … gewesen waren.

Die Mehrzahl dessen, was ich als Nahrung zu mir genommen hatte, hatte den Namen „Nahrung“ nicht verdient. Sicher, ich glaubte nicht übermäßig an die vielen Glaubenskonstrukte zum Thema Essen. Ich glaubte schon damals nicht an „wissenschaftliche Beweise“. Aber ich fühlte, wann irgendwo eine Wahrheit wartete, und ich fühlte, dass ich mich mein ganzes Leben von Lügen ernährt hatte. Wieder und wieder stolperte ich über die Werbung, die ich als Kind konsumiert hatte, und mit der ich mir Ernahrungsgewohnheiten angeeignet hatte, die noch schlechter waren, als die Glaubenskosntrukte meiner Eltern. Und nur damit kein Missverständnis aufkommt: meine Eltern waren gute Eltern gewesen. Nur fielen sie auf die Massenlügen ebenso rein, wie fast alle anderen. Sie hatten bereits einiges an schwachsinnigen Lügen bei sich integriert. Ich bekam die doppelte Schwachsinsdröhnung ab. So läuft das mit der Vererbung. Die Lügen wurden mehr und mehr modifiziert, bis niemand mehr rausfinden konnte, wo der Ursprung der ersten Lüge war, und niemand unter dem Lügenberg die Wahrheit finden konnte. Ja, nichtmal mehr auf die Idee kam, dass die Lügen Lügen wären, und unter all dem Müll was anderes zu finden wäre.

Meine damalige Freundin wurde eine große Hilfe bei meinem kalten Entzug. Einerseits, weil sie ein wandelndes Lexikon der Ernährunglehre war – andererseits, weil sie nicht zu dogmatisch war, und mir schlechte Ernährungsgewohnheiten verzieh. Das heißt, wir waren keine fanatischen Ernährungsideologen, sondern genossen manche Sünde. Zum Beispiel Milcheis im Sommer, wenn uns danach war.

Nach drei Monaten war ein Zustand bei mir erreicht, wo große Änderungen körperlich spürbar wurden. Mein Körper reagierte nicht mehr auf die Drogen, wie er es früher getan hatte. Als ich z.B. einmal freudig sündigen wollte, und mir eine Tiefkühlpizza mit viel Käse besorgte, war ich erstaunt, wie wenig sinnliche Befriedigung sie mir wirklich gab. Meine Erinnerung an Genussexplosionen beim Essen einer Pizza, wurde nicht bestätigt. Vielmehr war die Pizza ratzfatz verschlungen, ohne dass ich das Gefühl hatte, irgendwas gegessen zu haben.

Noch extremer fiel das Ergebnis mit Schokolade aus. Ich kaufte mir eines Abends eine Tafel – aber statt den gewohnten Kick zu erfahren, war es, als ob ich nur die zusammengemanschten und gepressten Einzelzutaten schmeckte. Die da waren: Kakao, Fett, und viel, viel Zucker. Eigentlich eine recht widerliche Pampe in meinem Mund. Mein Körper singalisierte mir: Keine Nahrung! Mir wurde schmerzlich bewußt, dass die ganze Tafel Schokolade durch und durch unverwertbar für meinen Köprer gewesen war – und statt meinen Körper zu nähren, würden Fett und Zucker als Schwimmringe an mir sichtbar werden, und der Kakao war eigentlich nur der Träger, mit dem die Zunge überlistet wurde, den Dreck aus Fett und Zucker zu verschlingen.

Umgekehrt erlebte ich sagenhafte Geschmackswunder, mit Dingen, die ich das erste Mal bewußt aß. Zum Beispiel Sellerie. Beim Sellerie wurde es mir das erste Mal klar, dass es ein unglaubliches Wunder war, wie gut natürliche Nahrung schmeckte – wenn man sich erstmal davon befreit hatte, dass nur von Menschen manipulierte Sachen toll wären. Vielmehr war es genau anders rum. Die Einmischung der Menschen ruinierte alles. Der Sellerie sah gut aus, leuchtete, signaliserte Frische und Vidalität, und der Geschmack… tja… der war eindeutig sexuell. Sowas unglaublich Würziges. Nicht mit  Aromen hinzugefügt. Echter, natürlicher Geschmack, der aus der Erde kam.

Meine Freundin half mir, unterschiedlichste, leckere Sachen kennenzulernen. Mein Naturbewußtsein wuchs. Aber alles ist alles, und alles infiziert alles. Es blieb nicht dabei, meine Ernährung umzustellen. Es beschlich mich das Gefühl, dass meine Umstellung von Nahrungsgewohnheiten, gleichzeitig Änderungen in meiner Wahrnehmung mit sich brachte. Nicht nur meine Zunge wurde sensibler. Alle meine Sinne wurden sensibler. Was in einer Metropole wie Berlin ein großer Nachteil ist. Oder anders gesagt: Berlin ist nicht dafür gemacht, sensibel in Feinheiten zu tauchen. Berlin schlägt dir Sensationen um die Sinne – ob du willst oder nicht.
Wie meine Zunge sensibilisert worden war, geschah das gleichermaßen mit Augen, Ohren und Nase. Und das, liebes Lesewesen, war nicht lustig!


10. Die schreiende Stadt

Dass Berlin eine tobende, laute Stadt war, hatte ich das erste Mal auf LSD bemerkt. Als ich mit Kopfhörern durch die nächtliche Stadt wanderte, und irgendwas mit meiner Musik nicht zu stimmen schien. Da war was in der Aufnahme, was nicht reingehörte. Ein Störgeräusch. Ein Brummen. Oder Dröhnen. Bis ich auf die Idee kam, den Kopfhörer abzunehmen. Und da war es. Das Störgeräusch. Ein Dröhnen, das ich in einem Gedicht „den millionenrädrigen Truck“ nannte. Es war Nacht. Kein Auto zu sehen. Die Stadt dröhnte dennoch. Es war, als wäre die Stadt am vibrieren. Damals, anfang der 90er war das noch in Ordnung für mich. Ich hatte die Stadt wegen dieses lebendigen Vibirierens gewählt. Ich wollte pralles, sexy Leben. Im Jahr 2012 hatte sich dieser Wunsch komplett gewandelt. 
Ich gebe zu, dass ich staunte, dass manche Leute weiterhin mehrmals die Woche feiern gingen, als wären die 90er nie vorbei gegangen. Ich sah allerdings, dass es nicht so viele gab, die das taten. Die Partyszene der 90er hatte sich mehr oder weniger aufgelöst. Es gab noch ein paar Veranstalter, die das versuchten am Leben zu halten, was in neuen Clubs nicht mehr zu finden war. Was mich einst ins Nachtleben gezogen hatte, war Vergangenheit. Nicht nur, dass die Drogen aufgehört hatten so zu wirken, wie Drogen wirken sollten. Auch das Sex-Ding hatte an Reiz verloren, seit mein Anspruch direkt proportional zum gesunkenen Niveau in der Gesellschaft, gestiegen war. Auch die Musik zeckte nicht mehr richtig. Schwer zu sagen, ob es an der Musik lag, oder an mir. Mal ehrlich, auch die Musik in den 90ern war so doll nicht gewesen. Sie hatte einfach nur die begleitenden Beats für prickelnde Freiheitsgefühle geliefert.

Was mich mehr und mehr faszinierte, waren die feinen, stillen Zwischentöne – die ich meist selbst erzeugen musste, weil es sonst niemand tat. Ich machte mehr und mehr Klangcollagen, und je toller die wurden, desto mehr langweilte mich herkömmliche Musik. Fast wie mit dem Essen. Je schreiender Essen daher kam, desto sicherer war es nicht für mich gemacht.

2012 wußte ich es noch nicht, aber ein großer Wandel meiner Person stand an. So gern ich mein altes, spannendes, Sex-Drogenleben zurück haben hätte wollen – es war vorbei. Genau wie die Anziehungskraft Berlins. Eigentlich wurde Berlin zunehmend hässlicher und hässlicher. Wie so oft, machte ich den Test auf die denkbar brutalste Weise. Ich zog in ein runtergekommenes Haus in Friedrichshain, in eine Wohnung, die meinen einfachen Ansprüchen durch viel zu viel Möbel und Dingen meiner Vermieterin komplett entgegen stand. Es scheint noch ein Rest eines masochistischen Lernverhaltens gewesen zu sein, mich ausgerechnet an die Orte zu begeben, wo ich garantiert die maximal schwierigsten Aufgaben zu bewältigen hätte. Bei scheinbar vollem Bewusstsein. Da ich dort schon einmal gewohnt hatte, wusste ich über das Haus bescheid. Über die Nachbarn. Über die Tram vorm Haus. Dass Friedrichshain nicht mehr so bezaubernd war, wie zur Jahrtausendwende, als ich mit meiner Botschafterin der Liebe grandiose Zeiten verbracht hatte (Siehe: „Sog in Berlin“).

Was nur zur Überbrückung gedacht war, wurden doch immerhin 3 Jahre, in denen ich Berlin so richtig über bekam. Warum das überhaupt eine Erwähnung wert ist? Weil auch meine Einstellung zur Stadt ähnlich meinen Ernährungsgewohnheiten von bestimmten Illusionen gefüttert worden war. Was angeblich dazu gehörte, „cool“ zu sein. Wie „Leben“ in der Konsumgesellschaft definiert wurde. Wie man auszusehen und wie viel Sex man haben sollte.

Ich begab mich in eine Versuchsanordnung, durch die all diese Illusionen wenn nicht zerstört, so wenigstens unter das Mikroskop gelegt werden sollten.



11. Infektion

Dass der Sog der Verlockungen einem Virus gleicht, und eine „Sünde“ der nächsten folgt, ist kein Geheimnis mehr. Dass es auch umgekehrt geht, ist dagegen weniger bekannt. Als ich anfing aufzuräumen, entwickelte auch der Wunsch nach „Weniger“ eine Sogwirkung. Wie beim Sex-Sog, fing auch der Weniger-Sog langsam, fast unscheinbar an. Am äußersten Rand des Soges, ging es zuerst darum, mein Essen Schritt für Schritt umzustellen. Wählerischer zu werden, wofür ich mein Geld ausgab. Wen ich mit meinem Geld unterstützte.

Je wählerischer ich wurde, desto mehr erfuhr ich, desto wählerischer wurde ich, desto mehr erfuhr ich, und so weiter.

Die Ungerechtigkeiten, die Maßlosigkeit, die Gier der Großkonzerne erschütterte mich. Ich fing an, allem, was in Plastik und bunt bedruckt daher kam, ein wütendes Misstrauen zu entwickeln. Auch wenn ich noch nicht allem entsagen konnte, war nach nur einem halben Jahr mein Müllausstoß von einer vollen Tüte pro Tag, auf eine Tüte pro Woche reduziert worden.

Was weiter problematisch war: es gab in meinem Haus keine Biotonne – und es ärgerte mich, dass all der herrliche Kompost nicht der Erde zurückgegeben wurde, sondern zwischen Plastik und Schrott verrottete. Die Stadt war ein zutiefst unnatürlicher Ort. Selbst eine Biotonne war eigentlich ein paradoxes Absurdum. Da wurde einiger Aufwand betrieben, der Natur das zurück zu geben, was eigentlich einfach nur auf die Erde fallen und verrotten hätte müssen. Nur gab es in der Stadt keine natürliche Erde mehr. Die wenigen Plätze, wo man noch glaubte Restnatur vorzufinden, waren künstlich angelegte Parks. Dort seine Bioabfälle in die Büsche zu werfen, wäre kaum mit Wohlwollen betrachtet worden. Da griff man lieber zu Kunstdünger.

Meine Einfachheits- Infektion griff tiefer und tiefer, je deutlicher die Verwirrung des Systems wurde. Ich ahnte früh, dass ich einer großen Sache auf der Spur war. Nur war es ziemlich anspruchsvoll, mich von liebgewonnenen Gewohnheiten zu lösen. Da waren nicht nur Dinge wie Süßigkeiten, Junkfood, Käse oder Lachs gewesen. Da waren auch Gras, Nikotin, Partys, gewaltverherrlichende Filme, uninspirierte Musik, Bücher, Comics, und diverse Materie, die ich für einen Augenblick glaubte, unbedingt haben zu müssen, und dann nutzlos in irgendeiner Ecke vor sich hin gammelte. Ich wollte von mir glauben, ich wäre so entschieden anders von allen Leuten, nur weil ich anfing genauer hinzusehen. Aber eigentlich spielte das keine Rolle. Vielmehr ging es darum, dass ich Glück und Frieden in meinem Leben haben wollte, ihn aber durch die meisten Angebote der modernen Gesellschaft nicht bekam.

Über 20 Jahre hatte ich im Berliner Nachtleben Sex, Drugs und Techno zelebriert. Aber all das zeckte inzwischen entschieden weniger, als zu Zeiten, als das alles neu und aufregend gewesen war. Auch hier schlug die Einfachheits-Infektion zu, und der Weniger-Sog zog mich tiefer Richtung „neue Wahrheit“.  Öfter und öfter gingen meine Freundin und ich später auf Partys und verließen sie früher. Große Events an Feiertagen ließen wir auch gerne mal aus, weil wir ohnehin lieber mit wenigen Leuten lieber eine ausgelassene Tanzerei hatten, als im überfüllten Club keine Luft zu bekommen. Häufiger und häufiger waren wir sogar entsetzt, wie sich die Atmosphäre und Grundenergie geändert hatte. Wir rätselten dann manchmal, ob wir uns so geändert hatten. Was sicher der Fall war. Aber auch die Welt der Nachtillusionen hatte sich massiv geändert. Die ganze Stadt hatte sich geändert. Das war der Lauf der Dinge. Nur fiel es uns schwerer und schwerer, all dem etwas abzugewinnen. Mehr und mehr Leute kamen nach Berlin, weil die Stadt so cool sei, wogegen meine Freundin und ich bereits wieder rätselten, wohin wir auswandern könnten.

Bevor es richtig gut werden kann, tendieren wir dazu, nochmal richtig Chaos, Schmerz und Wahnsinn anzuhäufen. Ich machte das, indem ich allerhand Beziehungsdramen durchmachte, und nach Spandau nochmal in Friedrichshain, die tiefsten und dunkelsten Abgründe Berlins aufzusaugen. Wenn Änderung tatsächlich aus Schmerz erwachsen sollte, was ich nicht glauben will, so legte ich es mit meinem letzten Besuch in Friedrichshain darauf an, genau herauszufinden, was ich nie wieder in meinem Leben haben wollte.

Nicht nur Essen und billige Konsumdrogen können schaden. Auch das Umfeld, in dem wir leben hat einen großen Einfluss auf uns. Die Stadt wirbt mit allerhand Vorzügen, und tatsächlich war es mir als „Künstler“ 20 Jahre erstaunlich leicht gefallen, mich in der Stadt durchzuschlagen. Alle anderen Vorzüge fanden eher auf der Ebene von Konsum statt. Ich war wegen Sex, Party, Drogen, und Künstlerspiel in die Stadt gekommen. Hatte es aufgesaugt. Verinnerlicht. Nun trieb mich das Leben in neue Abenteuer. Die eben nicht noch krassere Perversionen und Drogen werden sollten. Ich hatte noch nicht ganz losgelassen, aber in meiner Wohnung in Friedrichshain wurde mir das sehr leicht gemacht. Was sich durch noch mehr freudloses Kinder-Klageschreien im Hinterhaus, über und unter mir bemerkbar machte.

Es kam, wie es kommen musste. Es begann ein Krieg gegen meine Alknachbarin, die jedoch jenseits aller Erreichbarkeit lag, und in ihrer selbstgewählten Psychose auch auf regelmäßige Polizeibesuche nicht reagierte. So verloren und unerfreulich diese Person war, so sehr half sie mir dabei, meinen Wunsch für zukünftige Wohnungen zu bestimmen. Ich wollte nicht mehr in der Stadt leben. Eher am Rand der Stadt. In einer WG. Mit Gleichgesinnten. Mit Veganern, am Liebsten. Nicht dass ich auf den Begriff und die sich ausbreitende Ideologie wert gelegt hätte. Ich konnte nur keinen Gestank von totem Tier mehr ertragen.

Es sollte ruhig und natürlich sein, da wo ichwar. Mit guter Luft rechnete ich nirgendwo in Berlin oder Umgebung. Aber vielleicht keine irren Nachbarn mit Alk- und Hörproblem..? Ich gab eine völlig utopische Anzeige auf. Inserierte in verschiedenen Berliner Zeitungen und im Internet, und beschäftigte mich weiter damit, mein Leben zu vereinfachen.

Die Anzeige ging in etwa so:
„Wünsche mir Haus in der Natur am Rand Berlins, mit ruhigen, veganen Mitbeohnern und entspanntem Vermieter“.
Gerade der letzte Punkt war essentiell bedeutsam. Nichts ging mir inzwischen mehr auf den Sender, als Vermieter, die sich nicht um ihr Mietobjekt kümmerten, aber Stress machten, sobald die Miete nur einen Tag zu spät auf dem Konto war. Ja, Vermieter sein ist sicher auch nciht leicht. Doch niemand wird im freien Spiel des Lebens zu irgendwas gezwungen, und ich war es leid, die Frustrationen der Verstrickten abzubekommen.



12. Weniger ergibt weniger, mehr ergibt mehr, und weniger und mehr führt zu Verwirrung

Ich erlebte in der Friedrichshainer Wohnung, in der ich zur Untermiete wohnte, die gleiche komische Zerrissenheit, wie ich sie schon bei meiner Mutter regelmäßig gespürt hatte. Viel zu viele Möbel. Viel zu viele volle Schränke und Regale. Viel zu viele alte Erinnerungen in Form von komischem Krempel. Krempel, der für irgendwen vielleicht Bedeutung hatte, doch dessen Bedeutung ich nicht erkennen oder nachvollziehen konnte.

Ich ertappte mich öfter dabei, wie ich versuche Klarheit in die Räume zu bringen – doch alles, was ich tun konnte, war, Materie herum zu schieben. Von einem Zimmer ins andere, von einem Schrank in den nächsten. Was irgendwie nicht die Befriedigung schuf, die ich mir wünschte. Ich könnte sagen, dass ich versuchte eine Wüste fruchtbar zu machen. Um das zu erreichen, hätte ich manche Dinge meiner Vormieter und Vermieter entsorgen müssen. Ich bat um eine offizelle Genehmigung. Ich hätte tatsächlich, für meine Vermieterin viel Entsorgungsarbeit geleistet. Genau wie meine Mutter hing sie an ihren Dingen. Hatte sich mit Materie ein energetisches Schutzfeld geschaffen, auf das sie nicht verzichten wollte. Irgendwann musste ich allerdings einsehen, dass sogar eine völlig leergeräumte Wohnung wenig Sinn gemacht hätte. Diese Wohnung war in einem Alptraumhaus, in dem all die unzufriedenen, unglücklichen Energien regelrecht zu riechen waren.

Hier tauchte das erste Mal der Begriff „hochsensible Person“ auf, und praktisch alles, was man einer solchen Person nachsagte, traf auf mich zu. Ich hatte mich mit all meiner Sensibilität an einen Ort gepackt, wo ich in jeder Beziehung ununterbrochen mit Fremdeinflüssen bombardiert wurde. Da war nicht nur die psychopathische Nachbarin, die im Suff zwischen Marianne Rosenberg und Punk hin und her sprang, und dabei die Wände zum erbeben brachte. Da war ein altes Paar, das mit einem riesigen Hund in einer winzigen Wohnung lebte, und diesen Hund öfter mal allein ließ. Sein einsames Heulen erfüllte das Haus manchen Tag stundenlang. Da war ein Hausmeister, dessen einzige Hausmeistertätigkeit darin bestand, manchmal einen blauen Overall zu tragen, und wenn er seine Wohnung verließ, breitete sich über mehrere Etagen der üble Mief von kaltem Zigarettenrauch aus. Es gab da zwei Punkpärchen, ebenfalls mit Hunden. Wenn sie die Tür öffneten, quoll Mief von nassem Hund aus der Wohnung. Natürlich war niemand außer mir auf einem Ernährungstrip, und wenn ich über drei Etagen zu meiner Wohnung wollte, musste ich oft an dem Gestank unsäglicher Haumsannskost vorbei. Manchmal stank das für mich, als würden sie tote, nasse Katzen mit dem Föhn trocknen. All das wurde abgerundet durch Kinderwahnsinn. Dass mir hier bloß niemand mit romantischen Ideen von glücklichen, spielenden Kindern kommt, die doch einfach ganz normal Lärm machen. Ich wurde regelmäßig vor Beginn von Kindergarten und Schule durch herzzerreißendes Weinen und Schluchzen von zwei Mädchen geweckt, die ganz eindeutig nicht glücklich waren. Die Mütter ließen die Fenster offen, damit alle Welt mitbekam, wie sehr die Kindchen leideten – aber ich bekam es auf jeden Fall mit. Sogar mit Lärmstops in den Ohren, rissen mich die Klagelaute aus meinen Träumen, und es war eindeutig, dass es so nicht weiterging. Und als Kirsche auf der Überraschungstorte, gab es noch die Tram, die am Haus vorbei fuhr, und es alle zehn Minuten zum Beben brachte. Dieses Irrenhaus, war wie eine komprimierte Version alles Wahnsinns, zu dem Zweibeiner fähig waren. Hätte mich nicht gewundert, wenn im feuchten, gruseligen Keller jemand Leichen verscharrt hätte.

Ich schildere das, weil all diese aufdringlichen Fremdeinflüsse, ganz wunderbare Einsichten schenkten. Es war in dieser Wohnung, wo ich deutlicher erkannte, dass sich die Zweibeiner meist selbst das Leben zur Hölle machen. Niemand hatte die Mütter gewzungen, Kinder in die welt zu setzen. Es war ihre selbst geschaffene, eitle Hölle, weil sie unbedingt „gute Mütter“ sein wollten. Es war ihre Hölle, wenn sie scheiterten. Die Kinder hatten nur soweit damit zu tun, dass sie den rest ihres Lebens damit beschätigt wären, herauszufinden, was ihnen alles implantiert worden war.
Es war die Wahl der Alkoholikerin, ihre zerrissenheit mit Hochprozentigem zu füttern. Mäßig hilfreich, das Selbstmitleid zu veringern.
Es war die Entscheidung der Hundebesitzer, Tier in der Stadt zu quälen, und sich damit in der eigenen Freiheit zu beschneiden.
Es war meine Entscheidung gewesen, in eine Bruchbude zu ziehen, aus Bequemlichkeit und vielleicht auch Geiz. Vielleicht hatte es mir bis dahin an fantasie gegehlt, mir mein Haus am Stadtrand zu visionieren...
Ich verfluchte zwar alle, die mich mit ihrem Lärm und Gestank nervten, doch am Ende des Tages musste ich einsehen, dass ich selbst mir diesen Wahnsinn geschaffen hatte.

Warum? Weil ich noch nicht genug an mich glaubte? Weil ich noch zuviel Minderwertigkeit in mir fühlte? Weil ich noch zu sehr in Abhängigkeiten verstrickt war? Ich ahnte, dass alles davon zutraf. Mein Wunsch Friedrichshain, dem Lärm, Schmutz und gestank zu entkommen, wurde riesig. Früher hätte ich einfach meine Sachen gepackt, und hätte aus einer Panikreaktion heraus, noch mehr Wahnsinn angehäuft. Soviel hatte ich schon kapiert. Es galt Ruhe zu bewahren. Don‘t panic! Es galt den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Ich wollte erst die Hölle verlassen, wenn wenigstens eine 51 prozentige Aussicht auf minimale Änderungen bestand.

Und bis dahin, stand mir noch eine grandiose Abschlussprüfung bevor. Mit der ich alles Gelernte nochmal rekapitulieren durfte.

Obwohl ich damit meinen Beitrag am Verfall und Untergang Berlins und Friedrichshains leistete, vermietete ich ein Zimmer der Wohnung an Berlin-Gäste. Immer darauf spekulierend, dass die psychotische Alknachbarin, möglichst wenig Zuhause wäre. Für einige Monate hatte ich damit sogar Glück. Aber dann kam der Test in Form eines fleischfressenden Barbaren aus Israel. Ich hatte einen Moment nicht aufgepasst, und das Zimmer an jemand vermietet, bei dem ich die einfachsten Grundregeln vernachlässigt hatte. Ich war unvorsichtig geworden, weil die Ladys, an die ich davor vermietet hatte, so erfreulich gewesen waren. Ich hatte vergessen, die Fragen zu stellen, die ich allen potetniellen Mitbewohnern gestellt hatte.

Eigentlich sollte man davon ausgehen, dass kein Fleischesser in die WG eines Veganers ziehen würde. Aber da war er plötzlich. Ein unangenehmer Zeitgenosse, mit ein paar Prägungsideen, die alles andere als Sensibel waren. Mit Essensgewohnheiten, die meine Nase folterten, und aus irgendeinem Grund schmiss ich den Typ nicht raus, sondern zog es auf die ganze Zeit, die wir vereinbart hatten, hin. Somit hatte ich nun nicht nur die geschilderten äußeren Einflüsse, sondern hatte nun auch innerhalb meiner eigenen Schutzräume einen zusätzlichen Störfaktor. Ich versuchte in seiner Anwesenheit einen Test zu sehen, fragte mich aber, welche Art von Test. Ich glaubte mich ganz wacker zu schlagen. Als er auszog, bekam ich innerhalb einer Stunde eine Grippe. Eine brutale, gnadenlose Hardcoregrippe, als hätte ich in den Wochen mit meinem unliebsamen Untermieter unzählige schädliche Energien aufgenommen, aber nicht transformiert bekommen. Ich war es gewohnt, im Winter oder Spätwinter von Berliner Grippe platt gemacht zu werden, Doch die Grippe, nach meinem Untermieter war von einer anderen Art. Es war, als hätte sich mein Körper schlagartig entspannt, und kehrte in seinen fließenden Zustand zurück – und dadurch wurde klar, wie sehr ich mir mit diesem Gast geschadet hatte. Alle seine schädlichen Ablagerungen, wollten unter Schmerzen und Fieber aus mir rausgeschitzt werden.

Einen Monat brauchte ich zur Heilung. Ausreichend Zeit, über weitere Schritte nachzudenken.

Am ersten Tag nach meiner Genesung, gerade aus dem Bett raus, ging ich an meinem Computer vorbei und fragte mich verzweifelt: „Was wird wohl als Nächstes geschehen?“ Genau in dem Augenblick sah ich, wie eine E-Mail bei mir eintraf. Eine Antwort auf meine Anzeige. Dass da jemand ein Haus am Stadtrand hatte. Ich konnte es kaum fassen. Das war wieder eines dieser schicksalshaften Zeichen. Ich vereinbarte umgehend einen Termin.

Hier ist es an der Zeit etwas zu beschreiben, was in der Welt der zynischen Rationalisten der Einfachheit halber weggeleugnet wird. Weil es weder zu prüfen, noch zu beweisen, und erst recht nicht zu greifen ist. Dass man etwas weiß, bevor man die ganze Geschichte kennt. Bereits bevor ich das Haus gesehen hatte, bevor ich überhaupt wusste, wo das Haus stand, war klar, dass dort mein neues Zuhause sein würde. Es war natürlich auch kein wirklich großes Kunststück, das zu wissen, denn alles wäre besser gewesen, als ein weiteres Jahr in Friedrichshain. Es war verdammt magisch. Ich stellte eine Frage, und genau in dem Moment geschah etwas Unerwartetes. Noch bevor ich überhaupt die Adresse herausgesucht hatte, wusste ich, dass ich dort hin ziehen würde, und begann meine Sachen im Geist zu ordnen.

Viel hatte ich eigentlich nicht mehr. Es war nur schwer zu lokalisieren, weil so viel fremder Krempel ablenkte. Mein größter und unhandlichster Posten war zweifellos jedes einzelne Gemälde. Ich hatte viel zu viele nicht verkauft, und beschloss sofort einen Sonderverkauf zu starten. Es gab auch schon wieder allerhand Bücher und Comics. Warum verschenkte ich sie nicht sofort, nachdem ich sie gelesen hatte? Oder warf sie einfach weg? Ich hatte für meine Smoothies zwei Mixer. Einer ein Fehlkauf. Ich machte im Kopf Inventur und erkannte sofort: ich würde noch einiges wegwerfen.

Es ist da etwas, in der Sesshaftigkeit, was irgendwie der Natur der Dinge widersprach. Ich war in meinem Leben so oft umgezogen, doch wenige Dinge hatten über die Jahre ihren Sinn behalten. Manchmal hatten die Dinge ihren Sinn verwandelt, meist verloren, doch überwiegend war alles in Vergessenheit geraten, was nicht ständig mit Energie versorgt wurde. Hier lag für mich das zentrale Geheimnis für Glück oder Unzufriedenheit. Wie gut schaffte man es, von Vergangenem loszulassen?

Es gab zum Beispiel einige wenige Musik, die über die Jahre nichts an Faszination eingebüßt hatte. Zum Beispiel einige Stücke von Dead Can Dance, den Cocteau Twins, einem meiner Lieblingsalben der weitgehend unbekannten Band  Teargarden. Doch kein noch so tolles Meisterwerk war davor sicher zu sterben. So hatte ich David Sylvian über Jahre beinahe abgöttisch geliebt. Oder den Film Blade Runner. Oder das Buch Dorian Gray. Doch nichts konnte verhindern dass die Essenz irgendwann aufgesaugt war. Das hieß nicht, dass ich etwas nicht mehr mochte. Es bedeutete nur, dass ich es kein weiteres Mal ansehen, anhören oder lesen konnte. Eben das passierte seit 2012 für mich zunehmend schneller und schneller und schneller. Ich bemerkt es um mich herum, wie alle Zweibeiner unglaublich viel Energie darauf verwandten, „Starkulte“ zu betreiben. Sie schmückten sich mit fremden Namen oder Ideen. Oft auch, wie sie damit nette Erinnerungen aus Kindheit oder Jugend verbanden. Wie viele Leute verehren noch heute Pink Floyd, nur weil sie zu einem ihrer Stücke ihren ersten Joint geraucht hatten.

Ich könnte heute unmöglich sagen, wann mich der Sog richtig erfasst hatte. Ich spürte bloß deutlicher, dass alles sich wandelte, und es keinen Grund gab, traurig zu sein.

Es war nicht nur klar, dass ich meine Wohnung in Friedrichshain verlassen würde. Auch mit meiner Freundin gab es keinen Grund weiter zu machen. Ich gebe zu, ich hätte nichts gegen ein wenig mehr Beständigkeit gehabt, etwas weniger Aufbruch und Umbruch pro Halbjahr. Nur schien es mir nicht gegeben. Während andere Jahr um Jahr in ähnlichen oder gleichen Strukturen rotierten, wurde mir meist schon nach einer achtel Drehung langweilig.

So begann ich im Geist auszusortieren. Was weg könnte. Was verschenkt werden sollte. Was ich noch in Geld verwandeln könnte. Wieder einmal. Ich war nicht unbedingt ein Weltmeister im Verkauf geworden, doch verstand es einigermaßen über die Runden zu kommen. Mit meiner Malerei. Nur eine einzige Sache stach aus all meinem Materie loslassen heraus. Ein Fahrrad. Ein Fahrrad, das ich in einem Radmarkt bei mir um die Ecke gesehen hatte. Obowhl ich noch nicht das Geld dafür gehabt hatte, hatte ich eine Anzahlung gegeben – und schaffte es tatsächlich mir ein Rad zu besorgen, das wie für mich gemacht war. Mein Traumrad. Ich hatte es gekauft, obwohl ich mein altes Rad aus Ibiza-Tagen noch nicht völlig aufgeraucht hatte. Ich hatte also zwei Räder, was mir extremst sonderbar vorkam. Doch vom alten, roten Fully Mountainbike konnte ich mich noch nicht trennen.
Irgendwas schlüpfte immer unterm Radar durch. Ich wollte mir was darauf einbilden, dass es bei mir weniger war, als bei anderen Leuten, aber letztlich zählte nur eins: der Moment des Umzugs.

Angenommen jeder Zweibeiner müssten den Umzug mit eigener Muskelkraft bewältigen. Ich glaube, die Zweibeiner wären weniger bequem, würden weniger auf Prestige als auf Praxisnähe achten, und generell mehr schenken als sammeln. Ich hatte nach meinem 50sten Umzug aufgehört zu zählen. Ich hatte auch aufgehört darüber Buch zu führen, was ich weggeworfen hatte und ob ich etwas vermisste. Ich weiß nur, dass ich Umzüge, genau wie Renovierungsarbeiten zu hassen gelernt hatte. Da waren all diese Vorstellungen, wie etwas in der Gesellschaft zu sein hatte. Dazu gehörten Versicherungen, Handyverträge, Stromrechnungen, GEZ, Steuer, Arbeitsverträge, Mietverträge, geschrieben und ungeschriebene Gesetze, und natürlich all die wichtigen Konsumgüter, mit denen man sich bewies, dass man es geschafft hatte. Dass man sich als nützliches Mitglied der Gesellschaft erwiesen hatte.

Zu blöd. Ich wollte nicht daran gemessen werden, wie nützlich ich für die Gesellschaft sei. Was war das für eine schräge Mentalität, die Nobelpreise und andere Auszeichnungen verschenke, an Leute, die sich für „die Menschheit“ als wertvoll erwiesen hatten. Durfte ich nicht einfach nur ganz egoistisch mein Leben genießen? Mein Ding machen, ab und zu ein Groupiegirl genießen, und sonst unterm Radar bleiben? Mir dämmerte langsam, dass alles ganz anders war, als man mir hatte verkaufen wollen, doch die eigentliche Lektion stand mir erst bevor. Ich musste erst raus, damit ich rein blicken konnte.

Alles was es zu beachten gab, war, meinen Umzug so klein wie möglich zu machen. Und genau betrachtet, hatte ich nicht mal auf einen kleinen Umzug Lust. Was ich wollte, war ein sauberer Abschluss, und ein leichter Neuanfang. Ich wollte leicht wie eine Feder aus einer abgeschlossenen Prüfung in neue Aufgaben geweht werden.



13. Der ewige Archivar

Schon bevor ich die Zusage für das Zimmer am Stadtrand, ja, bevor ich es überhaupt gesehen hatte, begann ich mit dem Ausmisten. Ich hatte in unzähligen Umzügen gelernt, dass man nicht früh genug mit der Umzugsplanung anfangen konnte, und je früher ich damit begann, desto entspannter konnte ich aufbrechen. Ich hatte mir zur Angewohnheit gemacht, eine Liste der Dinge zu schreiben, die ich zu erledigen hatte. Das ist, was alle gerne verdrängen. Dass man nicht einfach von einer Wohnung in die nächste zieht, sondern unzählige offene Baustellen beachtet werden wollen. Nicht nur Kisten packen. Die Umzugskartons wollen auch besorgt werden. Renovierungen fallen an. Material dafür ist nötig. Oder es will in Auftrag gegeben werden? Welche versteckten Kosten kommen auf mich zu? Wie bekomme ich einen nahtlosen Übergang hin, ohne doppelte Mieten zahlen zu müssen?

Bei meinen Umzügen hatte ich längst gelernt, dass diese To-Do-Liste ganz schnell viele Punkte ansammelte. Ich erinnere mich an Zeiten, in denen ich unvorbereitet in Umzüge gestolpert bin – und meist ist es mir dann so ergangen, wie es vielen Leuten bei Umzügen ergeht: ich war gestresst. Das heißt, ich war gestresst gewesen, denn seit meinem Auswanderungsversuch nach Ibiza 2006-2008, hatte ich nie wieder so viel Materie angehäuft, wie in meinen glorreichen Partytagen. Meine letzten Umzüge, der nach Linz und zurück nach Berlin, und der nach und von Spandau, waren erstaunlich unkompliziert abgelaufen. Weil ich bereits so wenig Materie hatte, dass sie lässig in ein größeres Auto passte. Ich hatte inzwischen nicht mal mehr eine eigene Matratze. Keinen Kühlschrank. Keine Möbel. Trotzdem war es noch zuviel, um es einfach in einen Rucksack zu packen. Ich war zufrieden, was ich schon alles losgelassen hatte, aber sobald ich eine Liste für einen weiteren Umzug schrieb, erschien es mir immer noch zuviel.

Mein Ziel diesmal lautete: mein Umzug dauert nicht länger als eine Stunde.

Ich ging durch die Zimmer „meiner“ Wohnung, und machte Inventur. Bereits in der Küche erkannte ich, dass ich allerhand Zeug angeschafft hatte. Ich hatte viel Malmaterial, unverkaufte Bilder – die den größten, schwersten, und unhandlichsten Teil des Umzugs ausmachen würden, Bücher, Comics, Lautsprecher, Verstärker, Klamotten, Bettzeug, verdammt, die Seite war einszweinix voll geschrieben. Wie so oft fragte ich mich: wie konnte das sein? Wieso hatte sich so viel Zeug angesammelt, obwohl ich nichts ansammeln wollte? Beantworten lässt sich die Frage mit einer anderen Frage: warum machen Leute Fotos?

Fotos haben tatsächlich recht wenig praktischen Nutzen.  Wenn man nicht gerade bei der Gerichtsmedizin arbeitet, oder ähnlichen Einrichtungen, die Vorgänge durch Fotos genauer analysieren wollen. Ein Tourist wird selten die eigenen Schnappschüsse analysieren. Vielmehr sind es Beweisfotos, die erinnern sollen, was man glaubt, vergessen zu können. Mit Fotos wollen die meisten Zweibeiner der Vergänglichkeit eins auswischen. Ohne sich über ihren wahren Beweggrund bewusst zu sein. Ähnlich verhält es sich mit Materie. Es ist absolut verständlich, dass wir als sinnliche Wesen erfahren und genießen wollen. Welche Haltbarkeit hat ein Ding, wenn es um Erfahrung und Genuss geht? Warum heben wir Bücher auf, obwohl wir nach mehrmaligem Lesen den Inhalt in unser Sein integriert haben?

Oft war ein Buch, früher eine Platte oder CD, wie ein Ritualgegenstand. Ein Fetischobjekt, das Erinnerungen auszustrahlen schien. Natürlich waren es Spiegel der eigenen Erinnerungen, und es scheint mir legitim, solche Art von Fetischismus zu leben. Was wenn der Altar wegen Überfüllung zusammenbricht? Was, wenn die gesammelten Erinnerungsspiegel nur mehr verstaubte Zerrbilder zurückwerfen? Sofern sie überhaupt noch etwas spiegeln? Wäre es dann nicht an der Zeit den Fakten des Lebens in Auge zu blicken? Dass alles vergänglich ist. Dass alles ein sichtbares oder unsichtbares Haltbarkeitsdatum aufgedruckt hat. Meist verpassen wir das Verfallsdatum. Ich kannte Leute, die haben in ihrem Kühlschrank Schimmelkulturen gezüchtet. Sie schienen sich nicht mal dann von ihnen trennen zu wollen, wenn das öffnen des Kühlschrank Geruchsbelästiung geworden war. Genau so verhält es sich mit fast aller Materie. Sie lebt, solange sie uns Energie gibt, und wir ihr Energie geben. Wer versteht, dass wir begrenzte Aufmerksamkeitsfähigkeit haben? Multitasking ist grundsätzlich fragwürdig. Wie viele Bälle können wir gleichzeitig jonglieren? Wie viel Eindrücke an einem Tag aufnehmen und sinnvoll nutzen?

Als ich meine Liste durchforschte, bemerkte ich den Posten „Bücher und Comics“, und musste mir eingestehen, dass ich da einiges angesammelt hatte. Warum ich es nicht gleich weiter geschenkt hatte? Weil es mich vor eine unlösbare Aufgabe stellte. Ich kannte niemand, der sich für die Dinge interessierte, die mich interessierten. Ich hatte inzwischen auch gelernt, dass man sich keine Freunde machte, indem man etwas verschenke, was einem selbst gefiel; Freunde machte man sich, wenn man verschenkte, was gewünscht wurde.

Zum Glück war das Armutsbewusstsein in Friedrichshain sehr hoch. Ich musste nur eine Kiste mit einem Schriftzug „zu verschenken“ versehen, und garantiert war alles außer der Kiste in wenigen Stunden verschwunden.

Interessant war auch, wie sich in wenigen Monaten meine Wahrnehmung gewandelt hatte. Zum Beispiel hatte ich mir alle sechs Teile des Comics „Der weiße Lama“ gekauft – und hatte sie noch nicht weggeworfen, trotz der plakativen Gewalt darin. Warum nicht? Erinnerungskonserve an lang, lang vergangene Zeiten, als ich das Comic zum ersten Mal gelesen hatte. Gewissermaßen ging es weniger um die Comics, als um eine Zeitreise. Ähnlich verhielt es sich mit den Comics von Ralf König. Sicher, sie brachten mich noch heute zum Lachen. Aber dass ich sie weder wegwarf, noch weiter schenkte, lag daran, dass ich sie als Erinnerungskonserven für glorreiche Berlinzeiten betrachtete. Nicht bewusst. Diese Erinnerungen waren tief vergraben. Sie ähnelten Fotos in einem Fotoalbum, das niemand mehr ansah. Dennoch war da ein fernes Wissen, dass da Fotos waren. So war das mit den Ralf König Comics. Sie erinnerten mich nicht an meine Zeiten Kreuzberg, und meine leidenschaftliche Liebesgeschichte mit L. - es war nur so, dass die Comics mich erinnerten, dass da eine Erinnerung war. If you know, what I mean…

Ich glaube, so verhält es sich mit den meisten Sammelleidenschaften der Zweibeiner. Dinge verwandeln sich unmerklich in externe Symbole einer Erinnerung. Brauchen wir das? Brauchte ich das? Eigentlich nicht. Und so wurde ein weiterer Umzug zur günstigen Gelegenheit, mich wieder von allerhand Fetischobjekten zu trennen. Ich rechnete mir aus, dass ich drei Kartons, paar Müllsäcke für die Klamotten, meinen Reiserucksack, einen kleinen Rucksack, meine zwei Fahrräder und ein fettes Paket mit Bildern zu Transportieren haben würde. Nicht viel, eigentlich. Und dennoch war ich nicht gewillt, den Quatsch rumzuschleppen. Ich war mir sicher, bei so wenig  Materie ließe sich eine preiswerte Beiladung klarmachen. Ein weiterer Vorteil von wenig Materie. Man muss keine gigantischen Umzugskosten aufbringen.

Wie so oft, lächelte ich darüber, als ich sah, dass ich manchen Plunder schon viele, viele Umzüge mit mir herumgetragen hatte – und auch dieses mal nicht wegwerfen würde. Unter anderem die Erstausgabe von Gigers „Necronomicon 2„. Das vielleicht wichtigste Kunstbuch, das ich mir je gekauft hatte. Längst waren die darin enthaltenen Bilder Teil von mir geworden – aber ich wollte mich nicht davon trennen. Ich lachte, legte die Liste auf den Schreibtisch meiner Vermieterin, und freute mich, dass dieses sperrige Ding nicht mir gehörte. Keins der Sofas gehörte mir, kein Bett gehörte mir, kein Regal, keine Lampe, kein Geschirr, keine Töpfe und Pfannen. Ich musste mir keine Gedanken machen. Ich war im Loslassen von Materie in wenigen Jahren weit voran gekommen. Aus diesem Umzug wollte ich meine Meisterprüfung machen. Einen Umzug, den ich nicht als Umzug wahrnehmen würde.


14. Urlaub von Berlin am Rand von Berlin

Umzüge sind für mich stets mentaler und körperlicher Stress gewesen. Alle meine organisatorischen Fähigkeiten konnten daran nichts ändern. Weil es eben nicht nur damit getan ist, Materie und meinen Körper von A  nach B zu transportieren. Es zeigte sich grundsätzlich auch, dass ich mich weiter bewegt hatte. Wie sehr mein Wachstum voran geschritten war, oder wo ich stagnierte, und Beides konnte gleichermaßen bedrohlich wirken. Wenn es um Umzüge ging, stellte ich mir regelmäßig den Transporterstrahl aus „Star Trek“ vor – mit dem ich mich und den Inhalt meiner Wohnung einfach durch zeit und Raum schicken konnte. In Null Zeit.

Mit meinem Umzug von Friedrichshain nach Hermsdorf hatte ich mich diesem Ideal so weit angenähert, wie es ohne „Beamen“ möglich war. Ich hatte drei Freaks aufgetrieben, die für 50.-€ meine Restbesitztümer transportieren wollten. Dafür musste ich den Jungs nur zeigen, welcher Krempel inmitten des Krempels meiner Vermierterin weg sollte, und was ich alles glücklich zurücklassen durfte. Wegen der üblichen, deutschen Sicherheitsbürokratie, durfte ich nicht bei ihnen mitfahren. Das war okay. Ich hatte mir gesagt, dass ich mir für diesen Feiertag, an dem ich Friedrichshain hinter mir ließ, ein Taxi gönnen würde.

In sagenhaften fünf Minuten hatten sie alles die drei Stockwerke runter getragen und in ihrem Großtransporter verstaut. Ich stieg in ein Taxi, war nach circa 40 Minuten in Hermsdorf, drückte 35.-€ ab, und gleich darauf trafen die Umzugsleute ein. diesmal dauerte es keine fünf Minuten, alle in mein Zimmer in den ersten Stock zu tragen. Peng. Tür zu. Ich war in meinem neuen Zuhause, und es hatte gerade mal 50 Minuten inklusive Fahrzeit gedauert, und mich nur 85.-€ gekostet. Ich war begeistert. Das war mein eindeutig einfachster Umzug meines Lebens gewesen. ein neues Leben konnte beginnen.

Es dauerte gerade mal ein paar Augenblicke, bis mich eine Mitbewohnerin auf ein paar Ungereimtheiten hinwieß. „Ungereimtheiten?“, wunderte ich mich. Ich hatte den Vermieter als offen und freundlich wahrgenommen.
„Hat er dir vom Keller erzählt?“, fragte mich die Mitbewohnerin.
„Was meinst du?“
„Da wohnt ein Handwerker. Und der ist sowas von nicht vegan... Du wirst es noch riechen.“
Ich glaube, ich wusste von diesem Augenblick an, dass meine Zeit in Hermsdorf ebenfalls zeitlich begrenzt wäre. Ich beschloss diese Zeit als meine Sprungschanze zu sehen. Mich nicht zu stressen, egal, welche Ungereimtheiten noch auf mich einschlügen. Natürlich war dieser Entschluss wie üblich zu früh gefasst, denn ich konnte nicht ahnen, was in einem winzigen Häuschen von sechs Zimmern an Wahnsinn erblühen könnte. Zum Glück.

Vorerst hatte ich eine ganze Etage für mich allein, war guter Dinge, war entschlossen mit dem Vermieter und zwei Mitbewohnern gut auszukommen, und hatte sogar lustige Ideen, ich könnte das Haus zu einer vegangen Gemeinschaft machen, in der wir uns gegenseitig inspirieren würden...
Auch wenn ich nicht mehr „Träumer“ hieß, war das Träumen doch eine wichtige Eigenschaft von mir geblieben. Ich war wild entschlossen, meine Zeit in Hermsdorf zu genießen, und allen, die es nicht kennen: niemand würde glauben, dass es so wundervolle Natur an der Grenze Berlins gibt. Wiedermal war ein Wunsch in Erfüllung gegangen. Ich hatte Natur, ich war in meinem Haus mit bewussten Leuten, und wenn ich unbedingt wollte, konnte ich mit des S-Bahn in paar Minuten in der Stadt sein. Wenn die S-Bahn mitspielte. Das war in Berlin so ne Sache...

Den ersten Monat war ich überwiegend damit beschäftigt, um den nahen See zu radeln, die Sümpfe zu bestaunen, oder auf meinem neuen gekauften, runden Futon zu liegen, von der Sonne bestrahlt, aus dem Fenster zu schauen, und den vorbeiziehenden Wolken zu folgen. Nach gefühlten 5 Jahren Friedrichshain war die Stille unvorstellbar bezaubernd. Nur morgens und abends, wenn die Arbeiter zu ihren Frohndiensten aufbrachen, war für jeweils ne halbe Stunde Verkehr zu hören. Mein Mitbewohner unter mir, hatte fest Arbeitszeiten, und war nur zum Schlafen im Haus. Allerdings erschien er mir nicht ganz wie ein veganer, spiritueller Mitbewohner. Der Vermieter hatte gemeint, er würde bald ausziehen. Die Wahrheit sah so aus, dass meinem Mitbewohner tatsächlich mein Zimmer versprochen gewesen war. Von einem Auszug wusste er nichts. Er wusste auch nichts von Spiritualität, und war bei aller Freundlichkeit doch kein Mensch, mit dem ich unbedingt zusammen leben hätte wollen. Hätte ich ihn vorm Einzug kennengelernt.

Kurz darauf stellte sich heraus, dass es schon viele Bewohner gegeben hatte. Dass sie kamen und gingen. Dass sie mit Versprechungen geködert, und sobald sie die Versprechen einforderten, gekündigt wurden.  Ohne es zu ahnen, war ich in eine Versuchsanordnung geschubst worden, die hervorragend in meinen Lernweg passte. Die neue Aufgabe war diesmal nicht Geduld. Nicht Aushalten. Nicht Ruhe bewahren. Nicht bei mir bleiben. All das hatte ich gelernt, um in diesem Haus überhaupt sein zu können. Diesesmal sollte ich eine komprimierte Version der Ibiza-Lüge kennenlernen. Was Zweibeiner bereit sind zu tun, um Geld und die Illusion von Sicherheit zu erlangen.

Relativ schnell stellte sich heraus, dass sich unser Vermieter eine sehr individuelle, nur für ihn verständliche Realität gebastelt hatte. Man könnte auch einfach sagen, dass er log, dass sich die Balken bogen. Warum, lässt sich auch rückblickend nur erahnen, weil all Informationen widersprüchlich und unklar waren. Wir konnten nur vermuten, dass das Haus dem Vermieter nicht wirklich gehörte. Dass es auf Kredit gekauft war. Dass der zurückgeszahlt werden wollte, inklusive Zinsen. Die übliche Abhängigkeitsfalle, auf die sich Zweibeiner zu gerne einlassen. Im Namen von Hoffnung. Eitelkeit. Prestige. Oder auch nur, weil sie vielleicht naiv sind.

Bis zuletzt gestand ich meinem Vermieter eine gehörige Portion Naivität zu. Was nichts daran änderte, dass er sehr sonderbare Kommunikationsformen pflegte. Nämlich keine. Egal was wir drei Bewohner mit ihm abgesprochen hatten - es wurde weder umgesetzt, noch wahrgenommen. So war es für uns selbstverständlich, dass wir Mitspracherecht hätten, wenn neue Bewohner ins Haus kämen. Aber plötzlich war wieder jemand da... Ohne, dass wir gefragt worden waren. Wir versuchten cool zu bleiben. Wir versuchten rauszufinden, wie viele Leute er eigentlich im Haus haben wollte. Und tatsächlich sagte er es nie. Aber als bereits eine weitere Frau im Gartenhaus eingezogen war, kam noch jemand, und noch jemand. Plötzlich waren wir 5 Leute im Haupthaus, und eine Frau im abgetrennten Gartenhaus. Nicht zu vergessen, der polnische Handwerker im Keller, der sich gern mal Schnitzel briet. Aber kein Gemeinschaftsraum. Und Wände, dünn wie Papier. Konflikte waren vorprogrammiert, und dem schnellen Um- und Einzug, sollte eine kurze Wohnzeit folgen.

All das hatte insofern große Bedeutung, weil sich wieder einmal zeigte, dass Zweibeiner zu unterschiedlich sind, um auf engem Raum zusammen zu leben, und dass die Geldzwänge der Gesellschaft aus Menschen, berechnende Lügner machten.

Dennoch sollte die Zeit ausreichen, um ein wundervolles Jahr zu erleben, was stark mit der Frau im Gartenhaus zu tun hatte. Tine war voller grandioser Einfälle, und es entspann sich recht schnell eine Liebesgeschichte zwischen uns. Eine, die wie üblich nicht recht aufgehen wollte, aber zu viel Gutes in sich barg, als ganz davon loszulassen. Der Vermieter ließ seine zusammengewürfelte Truppe zurück, um das Land zu verlassen, und wir taten alle unser Bestes, um uns nicht zu sehr zu belästigen. Eigentlich gelang es uns auch recht gut... Wenngleich wir mit Schrecken auf die Tage spähten, an denen der Vermieter zurück kommen wollte. Denn... Alle Zimmer waren nun vermietet. Wen würde er rauskicken, um seine Matratze unterzubringen?

Bei allen Widrigkeiten, wurde es ein gutes Jahr. Was an der Natur, rund um Hermsdorf lag, und an Tine, die mich auf vielen Ebenen reich inspirierte. Denke ich heute zurück, war ihr vielleicht größtes, und überhaupt das größte Geschenk seit Jahren, dass sie mir ihre Idee der „Nachtspaziergänge“ schenkte. Wie überall auf dem Land, wurden nach 20 Uhr die Gehsteige hochgeklappt, die Computer und Glotzmaschinen angworfen, und Stille kehrte ein. Aus dem Haus ging dann niemand mehr. Was bedeutete, dass man - je später die Nacht - die Wanderwege durch die Natur für sich allein hatte. Wenn man nicht gerade einem Wildschein begegnete.

In diesen Nachtspaziergängen, die ich fast nächtlich absolvierte, verstärkte sich meine Gefühl, dass ich auf Zweibeiner sehr gut verzichten konnte. Waren sie nicht sensibel und zart, wie Tine.
Bei den Nachtspaziergängen, wuchs meine Liebe für die Stille ins unermessliche. Dort wurde die Idee geboren, Berlin wieder zu verlassen, und einen Ort zu finden, wo ich ein träumbergerechtes Leben in Stille führen könnte. Ich hatte noch keine Idee, wo es sein könnte, vertraute aber darauf, dass diese Antwort schon käme, wenn die Zeit reif wäre. Überhaupt schob sich das Vertrauensthema immer weiter in den Vordergrund. Während sich mein altes Leben, das der Partys, der süßen Sexualität, und des dekadenten Künstlerdaseins, mehr und mehr in den Hintergrund schob. Öfter und öfter verspürte ich kein Verlangen mehr auf Partys zu gehen, und wanderte lieber durch die schwarze Nacht, und genoss dabei das Gefühl, in meinem eigenen Traum spazieren zu gehen. Noch etwas wuchs. Meine Abneigung gegen die Stadt. Ich vermied es in die Stadt zu fahren, und es gab auch tatsächlich zunehmend weniger Gründe, das zu tun. Da stellte sich die Frage - wenn ich die Stadt ohnehin nicht mehr nutzte - warum wohnte ich dann noch in der Nähe von dieser Lärm- und Stinkgrube?
Langsam dämmerte mir, dass mein Leben weiter gezogen war. Dass es die Gründe, die mich an die Stadt banden, nicht mehr existierten.


15. Scheiß‘ auf Sicherheit!

Der begriff „Sicherheit“ ist nichts als eine gewitzte Umschreibung, für eine künstlich geschaffene Gefahr oder Bedrohung, aus der man sich mit gewitzten Angeboten herauskaufen kann. „Sicherheit“ ist ein anderes Wort für „Beruhigungsmittel“. Man erzeugt Angst, und bietet dann clevere Produkte und leere Versprechungen an, mit denen die Angst beruhigt werden soll.
So genannte „Versicherungen“ verdienen sich dumm und dämlich, indem sie Versprechungen machen, sie würden helfen und retten, wenn Not am Start ist. Allerdings ist die Liste der Ausnahmen von dieser Hilfe länger, als die eigentlichen Sicherheitsfälle.

Das gleiche Lügen- und Paranoiaprinzip, wurde zum Jahrtausendwechsel auf fast alle Bereiche des Alltags übertragen. Da wird ein Begriff wie „Terror“ benutzt, und niemand scheint mehr in der lage, eigenständig zu denken. Es wurde Bedrohung erfunden, und die Rettung vor dieser imaginären Bedrohung. Viel zu viele scheinen bereit, im Namen einer imaginären Sicherheit ihre Freiheit zu verkaufen.

Inzwischen ist sogar das Internet ein Ort der „Bedrohungen“. Oh, welche riesige Gefahren da lauern. Jemand könne mein Bankkonto knacken. Jemand könnte meine Daten klauen. Überall soll man im Namen der „Sicherheit“ Daten preisgeben, oder Telefonnummern hinterlegen. Es ist so offensichtlich, was wirklich dahinter steckt. Informationen von möglichen Kunden bekommen. Weiter nichts. Aber keine Masche funktioniert besser, als die Angst-Masche. Implantiere Konsumenten Angst, und sie werden artig weiter konsumieren. Damit alles so bleibt, wie gehabt.

Mein Heilmittel:
Mir das Leben unsicher und ungewiss gestalten.
Nicht zu viel Bequemlichkeit erlauben.
Überraschungen Raum lassen.

In diesem Sinn gestalltete ich mir auch meine Zeit in Hermsdorf. Ich hatte eine Liebesgeschichte mit Tine am Laufen, was mich nicht hinderte, eine weitere Frau, C., ins Boot zu holen. Folge: Drama. Natürlich. Bald kam der Vermieter zurück. Folge: Drama. Natürlich. Alle Fragen, die sich in einem Jahr angesammelt hatten, brachen über unseren lieben Vermieter wie eine Lawine herein. Die Antworten, die er gab, waren äußerst unbefriedigend. Ein Mitbewoher zog aus, zwei Mitbeohner wurden rausgeworfen. Als unser Vermieter gleich darauf sein bekanntes Lügenspiel spielen wollte, boykottierten Tine und ich das, indem wir Bewerbern die Wahrheit - sofern sie uns bekannt war - erzählten. Sofern es mich betraf: sehr wütend und lautstark. Darum sahen auch wir uns kurz darauf „wegen Eigenbedarf“ gekündigt. Was uns weder überraschte, noch übermäßig verletzte. Das war halt, was unser spiritueller Vermieter machte. Wir hatten uns darauf eingelassen, und nun würden wir uns daraus entlassen.

Kurzerhand entschied ich, dass Thailand ein guter Ort zum Neuanfangen wäre. Und ich fragte Tine, ob sie mit mir käme. Oder sie sagte von sich aus, dass sie gerne mitkäme. So genau, weiß ich das nicht mehr. Jedenfalls war schnell klar, dass wir den näcshten Winter in Berlin ohne Berlin feiern würden. Ich wollte Sonne und Stille. Ein neuer Mitbewohner warnte mich. „Vorsicht. Asien ist laut.“ Er war deshalb ins laute Berlin zurück gekommen. „Wie? Lauter als Berlin?“ Ich konnte mich nicht erinnern, Thailand laut erlebt zu haben. „Du wirst es hören“, sagte er nur. Er wusste was, was mir erst bevor Stünde...

Kaum machte die Kunde runde, da kamen auch die ewig gleichen schlauen Sprüche der Daheimbleiber. Dass es sinnlos wäre, Ruhe woanders zu finden, als in sich. Zuhause sei‘s am Schönsten, etc...
Ich hatte das vor jeder Reise immer wieder vorgebetet bekommen. Das ist, wie sich Gefangene ihre Gefangenschaft schön reden. Für mich ist es nicht so, dass mich immer ein „besserer“ Platz ruft, weil ich nicht an „besser“ glaube. Ich fühle nur, wann ich mich wohl fühle. Und wann ich meine Beine benutzen will, um mich ins rechte Licht zu stellen.



16. Inspirator

Mit der Einfachheit ist es so eine Sache. Sie macht keine Werbung. Inseriert nie in Zeitungen, oder im Internet. Sie gab und gibt sich unscheinbar, undtaucht an ungewöhnlichen Stellen auf. Meist ist sie nur als bescheidenes Flüstern wahrzunehmen. Oft kommt sie in Symbolen und Metaphern. Ist man zu beschäftigt, oder rennt zu schnell, wird sie leicht übersehen und überhört.

Wenn ich zurückblicke auf mein Leben, scheine ich von Geburt an, feine Sensoren für die Einfachheit mitbekommen zu haben. Was in einer modernen Gesellschaft voller Ablenkungen recht wenig brachte. Ich war in Sklaverei geboren worden, und lernte den Weg des Konsumenten. Dennoch sprach die Einfachheit weiter zu mir, und sie war nicht nur mitfühlrend, sondern auch unvorstellbar geduldig. Sie drängte sich nie auf. War nie laut und eindringlich. Sie hatte Zeit auf ihrer Seite, und schien zu wissen, dass ich früher oder später aufwachen würde. Sie schickte mir Zeichen und Signale, und schien genau zu wissen, dass der Same aufgehen würde, wäre die Zeit reif.

Eine der nachhaltigsten Inspirationen, kam zu mir in frühen Teenagertagen. Ich hatte gerade rausgefunden, dass ich mich selbst befriedigen konnte, und war von da an, treues und eifriges Mitglied der Lustkirche. Wo immer ich Stimulation vermutete, war ich voll der Erregung, und bereit, die Hose runterzulassen. Was meist im Wohnzimmer meiner Mutter war, wenn sie bereits schlief, und ich die nächtlichen Softsexfilme auf Privatsendern sehen konnte.

Eines Nachts lief da ein italienischer C-Film. Die Handlung ist schnell erzählt: eine junge Haushälterin nahm eine Stelle in einer Pension an, und erlebte Zimmer für Zimmer erotische Abenteuer. Die Sexszenen waren nur angedeutet und extrem kurz. Da bleib viel meiner Fantasie überlassen. Ich erinnere mich, dass ich den Film enttäuschend fand, weil viel zu wenig nackte Haut gezeigt wurde, und die Szenen außerordentlich schlecht gespielt waren. Ausgerechnet in diesem unsäglichen Filmchen, fand ich eine Inspiration, von der vermutlich nichtmal die Macher gewusst hatten, wie brillant sie war.

Die Haushälterin hatte die Anweisung, sich von einem Zimmer fern zu halten. Getrieben von neugier, spähte sie durch ein Belüftungsfenster über der Tür. Im verbotenen Zimmer befand sich ein attraktiver, junger Mann, und wann immer sie durch das Fenster spähte, sah sie, wie er nackt oder halbnackt mit Körperübungen beschäftigt war. Er machte Yoga, meditierte, und sogar Zenübungen im Bogenschießen. Es schien ein sehr geräumiges Zimmer zu sein. Es kam, wie es kommen musste. Zum Schluss und Höhepunkt des Films, landete sie in seinem Zimmer, und wurde mit einer anständigen Tantrasession bescchenkt. Die einzige brauchbare, sinnliche Szene des Films, die mir den erwünschten Kick und Orgasmus bescherte.

Ich vergaß den Film für viele Jahre, und erinnerte mich erst wieder an ihn, als ich meine sexuelle Geschichte niederschrieb, und mich an die Sexfilme meiner Pubertät erinnerte. Da wurde mir klar, dass sich das Bild, des Asketen, der keinen Kontakt mehr mit anderen Zweibeinern haben wollte, bei mir tief eingeschweißt hatte. Dass ich mich in diversen Situationen, diesem Asketen angenähert hatte. Ich hatte diverse Körperübungen gelernt, die ich überwiegend vernachlässigte, ich hatte Meditieren gelernt, was ich anwendete, wenn ich dafür Bedarf fühlte, und sogar Zen hatte ich kennengelernt, und bezeichnete mich als Zen-Stümper; ich hatte die Prinzipien verinnerlicht, wandte sie aber nur an, wenn mir danach war.

Lange Zeit übersah ich eine Komponente, die einen Asketen auszumachen scheint. Dass dieser Mann in dem Film nichts zu besitzen schien, und auch keine Versuche unternahm, etwas anderes zu erreichen, als seinen Körper und sein Bewusstsein kennen zu lernen.

Viele Jahre flirtete ich mit diesem Bild des Asketen. Nutzte viele Gelegeneheiten um zu üben. Nur Eines wollte mir nicht recht gelingen: es zu meiner ständigen, durchgehenden Lebensweise zu machen. Zu viel rief, was ich ausprobieren wollte. Ich wollte Sex genießen, so oft und mit wem ich nur konnte. Ich wollte die Räusche verschieddenster Drogen kennenlernen. Ich wollte Parties feiern. Wollte Künstler sein, wie ich es als Teenager in Künstlerbiographien gelesen hatte. Ich wollte das Leben aufsaugen, und mir nichts entgehen lassen.

Mein Wunsch ging in Erfüllung. (Einblicke davon, kannst du in den Büchern  „Sog in Berlin“ und „Rausch in Berlin“ finden). Und was ich auch ausprobierte - alles führte mich näher und näher an die Askese. Es war, wie sie im Zen sagten. Um die Welt wahrzunehmen, galt es, sich erstmal leer zu machen. Ich hatte mich jahrelang gefüllt. Und ratet mal - es war nicht, was man mir hatte verkaufen wollen. Wie die Drogenräsuche, endeten auch die Lustabenteuer. In tausenden Momenten, wurde ich mit Phänomenen beschenkt, denen ich nicht entkommen konnte. Dass alles entweder viel zu schnell oder viel zu langsam geschah, doch immer endete. Die Drogenräusche, so schön sie waren, endeten, wenn die chemischen Moleküle aufhörten mit meinen Molekülen zu interagieren. Die Lusterfahrung endete, wenn der leidige, deutsche Bürokratiealltag alle Sinnlichkeit zerstörte. Das Künstlerleben verlor an Sinn, als ich merkte, dass kaum jemand wirklich erkannte, was ich tat, und die Wahrnehmung von „Kunst“ überwiegend durch die Medienmeinungen geprägt war. Da ich mich dem nicht anpassen konnte und wollte, erlebte ich zunehmend Enttäuschungen - weshalb ich das Spiel nicht begonnen hatte.

In Hermsdorf, speziell auf meinen Nachtspaziergängen, erlebte ich eine neue, tiefere Wahrheit. Dass ich noch viel, viel weniger benötigte, als ich je angenommen hatte. Meine Materie hatte ich bereits so weit reduziert, wie das im Stadtleben möglich war. Askese sah anders aus. es gab da zwei Verstrickungen, von denen ich mich so schwer lösen wollte, wie einst von Keksen oder Käse.
Die eine Verstrickung war die Prägung, ich müsste mich mit Informationen füttern. Filme, Bücher, Musik, Meinungen. Ohne zu bemerken, dass nichts davon, ohne Medien, Informationsträger, Datenträger, zu mir kommen konnte. Wollte ich meinen täglichen Input, war ich automatisch verstrickt in Konsumverhalten.
Um das am Laufen zu halten, benötigte ich Geld. Das war die andere Verstrickung. Eine, die mir mein Leben häufig druck- und leidvoll gestaltete. Beide Verstrickungen wollten endlich aufgelöst werden.

Also kam mir die Kündigung meines Vermieters gut gelegen. Ob er das als Bestrafung gedacht hatte? Als Zeichen seiner Macht, als König seines Hauses? Oder war es nur Hilflosigkeit gewesen? Ich sah darin ein Geschenk des Lebens, um mich meinem Wunsch nach Einfachheit näher zu bringen.

Natürlich hatte sich in meinem Jahr am Rand Berlins allerhand Zeug angesammel, den ich nicht mit auf die Reise nehmen wollte. Doch hatte sich mein Verständnis für Materie so weit gewandelt, dass ich an nichts mehr hing. Nichtmal mehr an meinen heiligen, kunstvollen, selbst gemachten Bildern. Einige verschenkte ich, ein paar zerstörte ich - weil es mir inzwischen sogar zu dumm geworden war, Käufer suchen zu müssen, nur um etwas Geld zu bekommen. Ich hatte auch angefangen, früh mit dem Ausmisten anzufangen, damit ich am letzten Tag voll präsent im Abschied sein konnte.

Anfang November, als es in Berlin anfing unangenehm kühl zu werden, war ich bereit für den Aufbruch. Ich hinterließ meinem Vermieter einen Aschiedsbrief, in dem ich mich für die Geschenke bedankte, die ich durch ihn und sein Haus hatte erleben dürfen. Ich verabschiedete mich von Tine, die zwei Wochen später nach Thailand folgen wollte, und brach auf, mit einem halbvollen Rucksack.

Erträumt war, in Thailand einen Ort der Ruhe und des Friedens zu finden, und freute mich auf Sommertemperaturen, und die Naturschönheit, die ich 20 Jahre zuvor in einem Urlaub in Thailand erlebt hatte.

Was dann geschah, führt etwas weiter, als ich in diesen Texten über Einfachheit wiedergeben möchte. Wenn Du Dich dafür interessierst, fühl Dich eingeladen, diese Erlebnisse in meinem Reisebericht: „Der Narr in der Ferne“ nachzulesen.


17. Mit Vollgas ins Nirvana

Loslassen schafft Klarheit.
Klarheit ermöglicht tiefere Einblicke.
Weniger Ablenkung.
Weniger Verwirrung.
Wer sich nicht mehr von äußeren Dingen ablenken lässt,
erkennt den illusorischen Aspekt der meisten Beschäftigungen.
Es heißt, man solle „Verantwortung für seine Handlungen übernehmen“.
In meinem ganzen Leben traf ich niemand, der dazu in der Lage war.
Viel zu wichtig  und eitlen sind die Zweibeiner.
Wenn es darum geht sich in Aktivitäten zu stürzen,
geben sie gerne Vollgas.
Folgen und Resultate der Handlungen werden nur auf das eigene Tun bezogen,
wenn man sich damit schmücken kann.
Mit Fehlern und Scheitern schmückt sich niemand.
Obwohl darin oft die größere und interessantere Lehre zu finden ist.
Mit Erfolgen wird eitel geprahlt und angegeben.
Misserfolg und Scheitern ist stets die Schuld der Anderen oder fremder Einflüsse.
Das ist eine Komödie, und als solche zu betrachten.
Wer mit Vollgas ins Unheil will:
Lass sie.
So funktioniert lernen.
So funktioniert leben.
Wenn wir tatsächlich Leid verringern und Einsicht beschleunigen wollen,
dürfen wir
- nach Möglichkeit mit einem heiteren Lächeln -
beobachten, warum wir tun, was wir tun.
Was unsere wirklichen Beweggründe sind.
Womit wir uns tarnen oder schmücken.
Was uns Scheitern schenken will.

Mitunter sind wir sogar gut beraten, das Scheitern zu üben.
Lust im Loslassen und Aufgeben zu finden.
Reisen in die Einfachheit und Stille zeigten mir vielfach,
dass jede Form des Wollens,
unglaubliches Potential für Fehler und Schmerzen birgt.
Dass es oft weiser ist, den Kelch vorüber ziehen zu lassen,
statt nach ihm zu greifen, nur weil er so schön glänzt,
und süße Getränke verspricht.

Den wahren Preis für Alles,
erfahren wir erst, wenn die Paket geliefert wurden.
Statt uns dann zu beschweren,
sind wir aufgefordert im Vorfeld zu entscheiden,
ob wir überhaupt etwas geliefert bekommen wollen...

Da ich hatte Antworten und Einsichten bekommen wollen, waren meine zwei Monate in Asien sehr hilf und lehrreich gewesen. Auch mit Tines Hilfe, oder ihre Spiegelungen, durfte ich Tag um Tag die Verstrickungen der Konsumwelt erfahren. Was wir alles glaubten zu brauchen, wie glücklich wir waren, wenn kostbare Augenblicke der Einfachheit zu uns kamen. Und was wir anstellten, um diese Einfachheit aus alten Gewohnheiten heraus wieder zu zerstören.

In Thailand hatte ich erste Ahnungen bekommen, wie meine Einfachheit auszusehen hätte. Nur gab es einen entscheidenden Haken. Niemand außer Tine und mir schien daran Interesse zu haben. Die Prägungen der Konsumgesellschaft gingen unvorstellbar tief. Ständig verlangte etwas unsere Aufmerksamkeit, und ich war Gefangener einer Aufmerksamkeitswelt. Es wurde schwerer und schwerer Aufmerksamkeit zu erlangen, weshalb die Zweibeiner lauter und lauter schreien mussten.

Die komprimierte Version dessen, war das Internet geworden. Alle schienen besessen zu sein, Aufmerksamkeit zu bekommen. Was sie dafür anstellten, ähnelte zunehmend einer Freakshow. Öfter und öfter saß ich vorm Computer und fragte mich: „Moment mal! Sollte das Internet nicht das Leben vereinfachen? War der ursprüngliche Grundgedanke kommunikation gewesen?“
Ich ertappte mich dabei, dass ich viel mehr Zeit im internet zu brachte, als ich es wollte. Warum? Einerseits, weil es schwer geworden war, noch Kunden für meine Bilder zu erreichen. Andererseits, weil das Internet inzwischen so komplex geworden war, dass ich viel zeit damit verbrachte, mich registrieren zu müssen, Werbung zu blockieren, und natürlich auch, fokussiert zu bleiben, weil die vielen Angebote im Netz, von einer Ablenkung zur Nächsten führten.

Einmal hatte ich mir einen Timer im Computer installiert, um meine Internetzeiten automatisch zu beschränken. Hat nicht funktioniert. Die Zeit reichte nicht. Verrückt. Da hatte ich das Netz, weil ich damit mein Leben vereinfachen wollte, und fand mich ständig in neue, aufwändige Surferei verstrickt.

Ich stellte mir immer häufiger die Frage, ob womöglich die Herren Programmierer allmählich den Bezug zu menschlichen Bedürfnissen verloren. Dass das Spiel zum Selbstläufer geworden war. Dass witzige, clevere Gimmicks und Spielereien wichtiger geworden waren, als zu berücksichtigen, was Nutzer wirklich benötigten. Oder waren auch die Internetmacher zunehmend dem Zwang verfallen, Aufmerksamkeit erzeugen zu müssen? Und griffen sie zu ähnlich aufdringlichen Methoden, wie bedürftige Geschäftsleute überall auf der Welt? Ständig forderte mich eine Seite oder Schaltfläche auf, dies zu probieren, das zu kaufen, dort anzumelden - und nichts davon hatte mit mir zu tun. Es fühlte sich zunehmend wie eine sonderbare Droge an, deren Sinn ich nicht verstand.

Da war auch noch dies Phänomen der Sprache im Netz und der Programme. Da wurde ununterbrochen mit Gefahren gedroht und Sicherheit versprochen. Wie im richtigen Leben. Und wie im richtigen Leben, wurde die Sprache der Computer bürokratischer. Was zum Henker soll ein „Administrator“ sein? Der kleine Bruder vom Terminator? es schien mir, dass die Computerleute zunehmend von ihrer eigenen Wichtigkeit gefickt wurden, und je lauter das Stöhnen ihrer Selbstanbetung wurde, desto größer wurde der Wirderwille, das Computerspiel weiter zu spielen. Auch wenn es über 20 Jahr viel Spaß gemacht hatte...

Und auch hier galt: es musste erst viel schlimmer werden, ehe es besser werden konnte.

Ein Jahr gelang es mir auf Zypern, meine Vorstellungen, als Künstler, der seine Bilder übers Netz verkaufte, umzusetzen. Bis - ziemlich zeitgleich mit der Wahl einer amerikanischen Präsidentenkarikatur - alle Verkaufe einbrachen. Fast war es, als wäre ich plötzlich unsichtbar geworden. Nicht dass die Präsidentenkarikatur konkret etwas mit mir zu tun gehabt hätte. Doch war es unmöglich durchs Internet zu surfen, ohne seine unschönen Abbildungen zu sehen. Worum es wirklich ging, war, dass das Leben mir offenbar eine Gratislektion im Loslassen zukommen lassen wollte.

Jedes Mal, wenn ich nun ins Netz ging, geschah es schneller. Ich versuchte meine Bilder bekannt zu machen, bekam kaum mehr Feedback, doch bekam mit, wofür sich andere Internetuser zu interessieren schienen. Bis ich irgendwas las, das mich so abstieß, dass ich das Internet verließ. Ich hatte das vor über 30 Jahren mit dem TV erlebt. Dass es eine Tür war, die man bei sich zuhaus eeinbaute, um Leid, Frust, Traurigkeit, Konsumwahn, und Neid herein zu lassen. Das Internet war noch schlimmer als TV geworden.

Hier konnten völlig gleichberechtigt alle Zweibeiner ihre Kommentare loswerden und bewerten. Seit irgendwer die Bewertungsfunktion programmiert hatte, war es mit dem Internet bergab gegangen. Es war schwer, die vielen oberflächlichen, unterschiedlichen Meinungen zu ignorieren. Sie drängten sich auf. Es gab keine Funktion, sie auszublenden. Außer, man blendete das internet als solches aus.

Nachdem der Sinn des Internets als meine Galerie in Frage gestellt war, einfach, weil ich in der menge von Millionen Bildern pro Minute oder Sekunde, unterging, und weil ich nicht gewillt war, dagegen anzukämpfen, sah ich das offensichtliche:
Ich hatte jahrelang einen Moloch gefüttert. Mit meiner Zeit, mit meiner Energie. Damit ich das absolute Minimum an Lebensunterhalt damit verdienen hatte können. Zuerst löschte ich die Seite mit meinen Klangcollagen. Nachdem in zwei Jahren, gerade mal zehn Leute wenigstens ein paar meiner Stücke gehört hatte, durfte ich einsehen, dass ich das zu meinem persönlichen Vergnügen gemacht hatte. Wie ich gerade dabei war, bemerkte ich, dass auch meine wichtige Homepage, etwas, was man „unbedingt haben musste“, seit Jahren nur ein Geldfresser gewesen war. Ich kündigte die Seite - und fühlte keinerlei Bedauern. Nur Erleichterung. Gleich darauf verließ ich Facebook - und sofort endete der Strom von Ansichten und Ideen, die mir nicht bei meinem Leben halfen.

Seit langer Zeit hatte ich geglaubt und oft gefühlt, dass Computer eine Persönlichkeit zu haben scheinen. Aber wenigstens auf Schwingungen des Nutzers reagierten. Nachdem meine Internetzeiten reduziert waren, schien sich mein Computer vernachlässigt zu fühlen. Er wurde langsamer. Stürzte öfter ab, und einmal löschte er ohne ersichtlichen Grund alle meine Passwörter aus meinem Browser. Was mich dazu veranlasste, eine lästige Neuinstallation zu veranstalten. Bei der Gelegeneheit trennte ich mich von alten Programmen, schmiss eine ganze Festplatte weg, löschte Filme, Musik aus vergangenen Tagen, unzählige Hörbücher, die ich längst verinnerlicht hatte, und sogar Texte, die ich viele Jahre mit mir geschleift hatte, wanderten in den Müll. Was nicht dazu führte, dass mein Computer weniger bockig wurde. Fast, als hätte er gespürt, dass ich es nicht mehr so zauberhaft fand, vor und an ihm zu sitzen. Er schien nicht zur Schreibmaschine dekradiert werden zu wollen. Genau das geschah. Es gab keine Filme mehr, die ich sehen wollte, weil sie nichts mit meinem Leben zu tun hatten. Es gab keine Musik mehr, die ich hören wollte, weil sie nichts mit meinem Leben zu tun hatte. Und erst Recht gab es nichts mehr, was ich lesen wollte, denn niemand schien sich für Einfachheit zu begeistern.

(Exakt in dem Moment gab es einen Stromausfall, wie er in unregelmäßigen Abständen auf dem Land stattzufinden scheint. Ja, das Leben meinte es gut mit mir. Es spiegelte mir ununterbrochen, auf dem Weg zu bleiben, und noch mehr loszulassen. Jeden Tag ein bisschen mehr.)

Es war Mai, 2017, und ich war dabei, mich dem Bild, des Asketen anzunähern, der ich so lang hatte unbewusst und bewusst hatte werden wollen...
      

18. Worte sind nicht die Torte

An dieser Stelle möchte ich mich bei Dir, liebes Lesewesen entschuldigen. Du liest all das, und womöglich glaubst Du sogar etwas, und ich glaube eitel, ich könnte Dich womöglich erreichen, doch alles was wirklich von Bedeutung ist, lässt sich mit Worten nicht greifen. Ich meine damit ein ganz einfachen, völlig offensichtliches Phänomen. Du musst bei einer Torte nicht wissen, welche Zutaten darin enthalten sind. Du musst weder ihren Namen, noch ihr Gewicht kennen. Du musst sie nichtmal sehen oder fühlen. In dem Augenblick, da Du sie in den Mund nimmst, wirst Du alles wissen, was Du wissen musst. Ob sie schmeckt. Ob sie gut tut. Und sogar, ob sie Bauchschmerzen verursachen wird. Keine Vorkenntnisse und keine Bildung sind dafür nötig.

Es könnte, der irrtum entstehen, man könnte Einsicht „machen“. Nein. Sie geschieht. Je mehr vorgefertigte, womöglich fremde Konzepte abfallen, desto besser schmeckt die Torte. So wenig Sinne es macht, beim Torte-Essen an Diät zu denken, so wenig Sinn macht es, beim Leben über Sinn nachzudenken. Es führt nur dazu, dass die Essenz vorbei rauscht.

Was ich gerne verschenken will, ist etwas, das ich überhaupt nicht schenken kann, weil es nicht meins ist. Es ist eine Einsicht. Dass alles zu meinem Besten geschieht. Dass alles was ich zu lernen hatte und habe, Vertrauen und Loslassen sind. Es ist nichts Großes, nichts Bedeutsames in der Einfachheit. Sie geschieht. Wenn sie geschieht, wird der Klang der Welt zur wundervollen, unendlichen Symphonie. Dann verwandelt sich Dunkelheit in Weite. Stille wird zur Leere. Verzeih mir meine Narretei, darüber zu schreiben. Es ist, weil ich so begeistert davon bin. Weil da in aller Bedeutungslosigkeit das Einzige wartet, was überhaupt wert ist, erlebt zu werden. Mit allem, was abfällt, hat das Leben Raum durch mich zu atmen.

Plötzlich bemerke ich alle Tricks, mit denen ich versuchte, das Leben und die Liebe zu überlisten. Wo ich doch auch Vorteil aus war, aus Mangel an Vertrauen. Sogar die Brille, die ich trage, ist ein Ausdruck von Mangel an Vertrauen. Jahrelang hab ich aus Mangel an Vertrauen Krücken benutzt, weil ich glaubte, ohne sie nicht gehen zu können. Wie verrückt. Wie absurd. Damit hatte ich vereitelt, dass das Leben mich trug. Das Leben trägt uns. Wenn wir es endlich erlauben würden. Wenn wir unsere eitlen Wichtigkeiten sein lassen könnten. Wenn wir weniger aktivitätsgeil wären, und mehr vertrauen würden. Könnte... Würde... Wäre, wenn...

In Psychologie-Ratgebern ist da gerne vom blinden Fleck die Rede. Dieser Punkt, mit dem wir gelernt haben zu leben, ohne ihn zu sehen. Weil wir so gewohnt sind, etwas nicht mehr anzusehen, glauben wir, es wäre nicht da. Wir bekommen nur die indirekten Auswirkungen zu spüren. In Form von Unzufriedenheit, Frust, oder Krankheiten. Und weil fast alle davon befallen sind, wird so getan, als wäre „es“ natürlich. In Kulturen, in denen es scheigend akzeptiert wird, dass wir blinde Flecken haben, muss mit dem blinden Fleck nichts getan werden.

Zum Glück meint es das Leben gut mit uns, und wird nicht müde, uns auf unsere blidnenFlecken hinzuweisen. Das Leben will, dass wir ins Leben eintauchen. Ich hatte mich mehr und mehr der Lehre und dem Leeren geöffnet. Langsam, jeden Tag ein wenig mehr, sickerten die entscheidenden Botschaften in mich.



19. Sprache ohne Sprache


Begleiterscheinung meiner Abkehr von Ablenkungen war, dass ich mehr und mehr Zeit hatte. Seit ich auf Zypern angekommen war, und mich nicht mehr in Liebes-Partnerschafts-Verstrickungen befand, wuchsen Zeit und Raum. Ein Tag fühlte sich an, wie vier Tage, doch verging so schnell, wie einige Stunden. Verrückt, was die Zeit macht, wenn sie nicht mehr von Uhr und Kalender begrenzt wird. Mit dem Wachsen von Raum und Zeit, wächst auch Gelegenheit äußere und inner Phänomene zu beobachten. Ich meine keine Meditation, auch wenn diese Zustände sehr meditativ sind. Sie ähneln eher, kindlicher Wahrnehmung, doch mit großer Bewusstheit.

Erinnserst Du Dich, liebes Lesewesen, an die Zeiten als, Kind, wenn Du mit Mama Kuchen gebacken hast? Für mich waren das eindeutig  Highlights meiner Kindertage. Speziell wenn vor Weihnachten Plätzchen und Lebkuchenhäuser gemacht wurden, tauchte ich ganz ein, in ein magisches Ritual aus Handgriffen, Bewegungen, Ergebnissen, Düften, Geschmäckern, Anblicken, und hochkonzentriertes Interesse. Dass die süßen Backwaren dann auch außerordentlich gut schmeckten, war kein Wunder. Sie waren mit purer Magie gemacht worden.

Diese Konzentration, diese tiefe Kontemplation und Fokussierung, durchdrang alle meine Handlungen. Bis auf einen winzigen, aber entscheidenden Unterschied. Als Kind hatte mein Kopf nicht alles benannt. Wenn ich nun etwas tat, flüsterte da eine Stimme in mir ununterbrochen mit, und gab den Dingen und Handlungen Namen. Manchmal waren sogar mehrere Tonspüren überlagert, und ich konnte beobachten, wie verschiedene Monologe ganz unterschiedliche Geschichten erzählten und um meine Aufmerksamkeit buhlten. Fast wie Marktschreier, oder Proheten, die in alten Zeiten rumplrrten, um wichtige Botschaften unters Vok zu streuen.

Da war es nur ein kleiner Schritt, dass ich mir anfing Gedanken über die Sprache zu machen.

Worte sollen dabei helfen, zwischenmenschlich Verständigung zu schaffen.
Meine Erfahrung:
Es macht wenig Unterschied ob man die gleiche Sprache spricht oder nicht.
Verständigung findet abseits von Worten statt.
Was nicht ohne Worte ausgedrückt werden kann,
kann mit Worten nur Verwirrung schaffen.
Worte sind Symbol- und Klanghüllen,
und selten geben wird gleiche oder ähnliche Inhalte in diese Hüllen.
Wir glauben zu wissen, was mit „blau“ gemeint ist,
können aber nie sicher sein, ob jemand tatsächlich „blau“ empfängt,
wenn „blau“ gesprochen wird.
Wir spekulieren darauf, dass wir einander schon irgendwie verstehen werden.
Manchmal klappt es, manchmal nicht.
Je weniger Worte gemacht werden, desto besser scheint es zu gelingen.
Weil dann der Fokus auf nonverbale Signale gelenkt wird.
Weil die Infortmationen ohne Worte tiefer zu greifen scheinen.
Sprache ist  häufig eine eitle Beschäftigung der Zweibeiner.
Ablenkung.
Betäubung.
Simulation von Nähe, wo körperlich oder mental keine ist.

Es war eindeutig. Ich hatte ausgedrückt, was ich ausdrücken hatte wollen. Und nun standen neue Aufgaben an. Nur wollte sich mir die Antwort nicht zu erkennen geben. Was genau sollte es werden? Was war denn meine Aufgabe, wenn nicht schreiben, malen, Kreativ sein? Was? Oder war da der Punkt, wo die Katze sich in den Schwanz biss? Dass ich erst den nächsten Schritt hinbekäme, wenn ich gelernt hatte, Worte sparsamer, effektiver einzusetzen - und öfter ganz zu schweigen.

Gelegenheit hatte ich als Eremit in den Bergen von Zypern dazu reichlich. Der eigentliche Sinne des Loslassens von Worten wurde deutlich, bei meinen Sonnenuntergangsmeditationen. Wenn es die Temperaturen erlaubten, saß ich vor dem Haus, und meditierte mit geschlossenen Augen. Wenn mein Kopf still war, dann erlebte ich Tiefe und Weite, wie ich sie zuvor nur in Out of Body Experiences auf LSD Reisen kennengelernt hatte. Wunderschön. Ekstatisch. Befreiend.
Es genügte ein einziges Wort, und sofort folgte ein ganzer Zug an Sätzen, Romanen, Ideen, und der wunderbare Moment war unterbrochen. Ich lernte in vielen Meditationen den Punkt genau zu erkennen, wann sich Worte dazwischen schoben, und mich vom Ganz-Sein mit Allem abhielten. Es war ein Auto-Programm. Es war ein Ablenkungsmechanismus, der mir durch und durch ins Blut übergegangen war. Das einzige Rezept, das mir zur Selbstheilung einfiel, war, Worte meiden zu lernen, und Zeiten des Schweigens auszuweiten. Das klingt Paradox, da ich hier so viel schreibe. Aber auch das ist ein Teil meiner Selbstheilung. Was gesagt wurde, muss nicht weiter in mir rotieren. So sind auch all diese Texte Teil meines Weges, in die Einfachheit. Damit ich bald wirklich loslassen kann, weil keine Worte mehr in die Welt getragen werden wollen.

Von all den Sonderlichkeiten, die Zweibeiner geschaffen haben, ist Sprache wohl am Gefährlichsten. Wir nutzen sie mit naiver Selbstverständlichkeit, wollen glauben, die Worte wären die Phänomene, und indem wir Worte nutzen, ziehen die Phänomene unbemerkt vorbei. So ähnlich wie das Phänomen beim Fotografieren. Du kannst nicht gleichzeitig fotografieren, und 100% im Augenblick sein. Es geht nicht. Allein der Akt des Drückens auf einen Auslösers, oder auch nur daran zu denken, dass eine Kamera aufzeichnet, verändert das Phänomen. Es ändert die Natürlichkeit. Oder es löst die Natürlichkeit sogar auf.

Ich weitete die Momente der Stille aus, und mit jedem Stillen Augenblick, wuchs das Leben in mich. Es war, als würde die Lebenspflanze endlcih wieder Wasser in mir finden, und streckte seine Wurzeln in mir aus. Während Äste und Zweige in den Himmel zu wachsen begannen, und sich reckten und streckten, und mir deutlich machen wollten, dass da noch viel, viel mehr Raum und Weite auf mich wartete.

Mein Bedarf an verbalem Austausch mit Leuten war inzwischen sehr gering geworden, und beschränkte sich auf einige Wenige, die ich wirklich liebte, oder von denen ich mich ansatzweise verstanden fühlte.



20. Positiv glauben lernen

Positives Denken ist sehr angesagt. Oft kommt es über langweilige Schönrederei und eitle, kitschige Fluch nicht hinaus. Warum? Weil wir zwar alle gerne positiv denken wollen, aber nicht wissen, wie wir es auch hinbekommen, wenn Chaos oder Schmerz an unsere Tür klopfen.

Erstmal ist es hilfreich zu begreifen, dass nicht jeder Schmerz und alles Scheitern nutzlos ist. Meist haben wir es selbst erzeugt, und selbst wenn ein so genannter „Zufall“ zugeschlagen hat, heißt das nicht, dass im Scheitern nicht eine positive, konstrukte Lektion für uns zu finden ist. Und wenn es nur darum geht, den gleichen Fehler das nächste Mal anders zu färben.

Was unsere populären Gurus gerne vergessen zu erwähnen, ist eine essentielle Botschaft. Dass bestimmte Botschaften nicht gelehrt sondern nur erfahren werden können. Dass alle schlauen Sprüche aus heiligen Büchern nichts daran ändern können, dass jeder  Lebensweg einzigartig und individuell ist. Dass wir selbst rauszufinden haben, was vor sich geht.

Wer also gern positv denkt, wird vielleicht auch die Momente kennen, wo alles positive Denken nicht zu greifen scheint. Was dann? Wer es schafft, deshalb nicht aus dem Fenster zu springen, darf sich im fokussieren üben. So sehr ein negativer oder schmerzender Aspekt Aufmerksamkeit wünscht, so sehr sind wir aufgefordet, diesen Aspekt in seine positive Umkehurnung zu transformieren. So ist zum Beispiel eine Grippe nicht nur schmerzhaft und unangenehm, sondern gleichzeitg ein Reinigungs- und Heilungsprozess des Körpers. Warum also unsere Gedanken mit negativen Affirmationen belasten, wenn wir eine Krankheit auch als Reinigungszeit oder Heilungszeit betiteln können? Auch wer nicht an Dualismus glaubt, ist aufgefordert, den Aspekt in Ereignissen zu finden, der Mut schenkt, Kraft gibt, und auf den weitere Schritte aufzubauen sind.

Es macht keinen Sinn sich zu lang mit Scheitern zu beschäftigen. Interessanter ist, anzunehmen, wenn Scheitern stattgefunden hat, und dann herauszufinden, was die essentiele Botschaft darin ist. Welche Änderung steht an? Was ist zu lernen? Welche Ängste sind noch aktiv?

Positiv glauben, heißt nicht, alles Negative azulehnen oder auszublenden. Es heißt auch nicht, es „anzunehmen“, weil sich darauf wenig aufbauen lässt. Es heißt, hinzuschauen, und daran zu glauben, dass auch Regen Sinn macht. Dass alles, was uns nicht in den Kram passt, auf irgendwelche Art Sinn macht – auch wenn wir es nicht gleich erkennen. Oder usn dagegen wehren, es zu erkennen.



21. Schönheit des Scheiterns

Warum machen wir, was wir machen? Werden wir es jemals herausfinden, oder ist es uns nur gegeben, amüsante Erklärungsversuche zu finden, die grundsätzlich an der tiefen, eigentlichen Essenz vorbeischrammen?

In vielen Jahren der Rebellion, im Streben nach Loslösung von Sklaverei, im Wunsch Automatismen und Programmierungen loszuwerden, habe ich – wie viele vor mir – tausende Seiten vollgeschrieben. Es wird scheinbar erwartet, dass Leute, die Schreiben oder sich in die Öffentlichkeit begeben, irgendwelche Antworten gefunden haben sollen.Vorbild oder Projektionsfläche sollen sie sein. Abgesehen davon, dass das ein echt übler Job wäre, und wiederum nur eine weitere Form der Sklaverei – Erwartungen von Lesern zu entsprechen - wäre es vor allem eins: anstrengend.

In meinen Augen sind Botschaften die auf diesem Planeten rotieren, Dokumente momentaner Entwicklungsprozesse. Keine Wahrheit ist jemals fest, statisch, unverrückbar. Alles wandelt sich, und selbst die weisesten Worte der Popidole Jesus, Buddha, und Mohammed sind bestenfalls hilfreiche Momentaufnamen, die für all jene nützlich sind, die ähnliche Prozesse durchmachen, wie jene Popstars aus längst vergangenen Tagen.

Wenn ich heute Worte lese, die ich vor Jahren niederschrieb, lese ich vor allem Erinnerungen an Phänomene. Phänomene, die mich dazu brachten, mein Hirn von Worten zu befreien. Ich vermute, dass die Leute gerne hätten, dass ich mich auf eine Bühne stelle. Dass ich so tun soll, als hätte ich etwas erkannt, wüßte ich etwas, oder hätte etwas zu sagen. Abgesehen davon, dass Bühnen wiederum ein Symbol von Sklaverei für mich sind, wo ich zu wenig Freiheit habe, als dass ich es genießen könnte, möchte  ich kein Vorbild oder Idol sein. Ich will nicht in die Abhängigkeit geraten, das was ich mache, mit Reaktionen „meiner Fans“ zu verknüpfen. Oder was noch schwerer wiegte: Gefallen daran zu finden, den Hampelmann für Konsumenten zu machen.

Was ich mache, mache ich, weil es mir damit unerklärlicherweise gut geht. Weil im Künstlerdasein für eine Weile relative Unabhängigkeit möglich war. Weil es mir wichtiger war, Augenblicke subjektiver Erfüllung zu genießen, als das Bruttosozialprodukt anzuheben. Es tut mir leid, wenn ich Deine oder Eure Erwartungen nicht erfüllen konnte. Wie ich als Schriftsteller zu sein hätte. Wie ich als Musiker zu sein hätte. Wie ich als Maler zu sein hätte.

Für mich habe ich erkannt, dass praktisch alle, die in diesem System „erfolgreich“ sind, oder „berühmt“, Rollen spielen. Spielen müssen. Damit sie wahrgenommen werden, damti sie Aufmerksamkeit bekommen. Dass sie sich freiwillig zu Projektionsflächen für Fantasien einer unbekannten Masse machen.

Ich glaube, der Preis, den sie dafür zu zahlen haben, ist sehr, sehr hoch. Mir ist das eigene Wachstum bedeutsamer, als Erwartungen anderer zu erfüllen. Natürlich würde ich mehr Geld verdienen, würde ich das Spiel mitspielen. Mehr Geld verspricht mehr Sicherheit, die leider auch Illusion ist, denn dieser Körper geht so oder so. Ich könnte mich täglich in meiner eigenen Wichtigkeit suhlen. Aber hilft mir das beim Leben? Hilft Ruhm beim Leben?

Wie ich das öfter getan habe, möchte ich mich an dieser Stelle bei allen bedanken, die mir mit ihrer finanziellen Unterstützung bei meinem Künstlerweg die Hand reichen. Das ändert wenig daran, dass ich in kein Konstrukt passe, und kein Konstrukt schaffen will. Diese Worte dienen nicht als Glaubenskonstrukt, um eine neue Religion zu schaffen. Sie sind auch nicht als gefälliges Entertainment gedacht, Dich von Deiner Rückkehr zu Ddir abzulenken. Mein Schaffen und ich sind keine Droge, um nette Gefühle zu bereiten. Hass mich, widerlege mich, ignoriere mich, aber die Botschaft bleibt bestehen. Ich nähere mich dem eigentlichen Zweck des Lebens. Dem Leben selbst. Dieser Weg hat mehr mit Loslassen, Stille, Abgeschiedenheit zu tun, als mit den Millionen Aktivitätsrezepten, die man geschäftig erarbeiten oder teuer erkaufen soll. Da ist weit und breit kein „soll“. Die Natur ist der einzige Lehrer dem es zu folgen gilt. Noch bin ich in letzten Abhängigkeiten der Zweibeinerillusionen verstrickt. Namentlich: Geld. Soziale Konstrukte. Sprache.

Die, die mich ignorier(t)en, verdienen auch meinen Dank, auch wenn sie nie davon erfahren werden. Sie helfen und halfen mir dabei, nicht auf den Aufmerksamkeitszug zu springen. In Zeiten von Internet wollen alle „geliked“ werden und Aufmerksamkeit ist eine Art Währung geworden. Dafür verkaufen die Zweibeiner Würde und Integrität, und verwandeln sich in faxen machende Könner-Artisten.

Oh, wie ist mir das Scheitern lieb geworden!

Dies ist mein eigentlicher Erfolg. So wenig sich mein Ego auf's Scheitern einen Runterholen kann, so heilend ist es. Im Scheitern erfahre ich, wie wenig ich tatsächlich mit den Glaubensmärchen der Zweibeiner zu tun habe. Das macht das Leben unbequem. Es besteht sogar die tägliche Option mich vom Leben in den Tod zu befördern. Einfach, weil das Scheitern-Spiel, ein Alles-oder-Nichts-Spiel ist. Muss ich deswegen Angst haben?
Ich vermute, die Gesellschaften hätten gerne, dass ich Angst hätte. Aber Angst ist nicht kreativ. Nicht schöpferisch. Nicht produktiv. Nicht heiter. Nicht aufbauend. Ich habe gelernt Zweibeiner zu meiden, die mit ihrem Zynismus destruktive Energien verbreiten. Ich lerne immer noch, wie ich die Illusion der Angst - also die Ungewissheit des Zustands nach demTod - zu neutralisieren. Vielleicht ist das, warum mir Erfolg nicht wichtig genug ist, mich zu versklaven. Weil in der Unsicherheit des täglichen Künstlerdaseins, die größere Lektion zu finden ist. Mein Scheitern in der fehlenden Wahrnehmung der Öffentlichkeit, zwingt mich, mich mit meinen Illusionen auseinander zu setzen.

Kein Geld zu haben, ist ein sicherer Weg sich mit Einfachheit zu beschäftigen. Einfachheit wiederum, scheint Freiheit mit sich zu bringen. Materie kommt und geht. Sie haftet nicht an mir und ich nicht an ihr. Somit gibt es keine mir bekannten Systeme, die mich an irgendetwas hindern könnten. Außer mein Hirnkasper. Programme, von denen ich meist nichtmal weiß, wer sie installiert hat. Sehe ich heute Filme, lese ich heute Bücher, höre ich heute Songs, dreht sich mir manchmal der Magen um, welche Botschaften da transportiert werden. Dass diese Botschaften von unwissenden Kindern aufgesaugt werden. Dass ich selbst einmal dieses unwissende Kind war. Im besten Fall kann ich heute Werke von anderen Künstlern als Momentaufnahmen ihrer Prozesse erkennen, anerkennen, und genießen. Im schlimmsten Fall sind es einfach manipulative Hypnosetechniken, um dümmste, absurdeste Einfälle in Gehirne zu schrauben, oder unreflektiert nachzuplappern. Einfachheit bedeutet auch, wählerisch zu sein. Nichts zu glauben, was mir als „toll“ verkauft wird, aber zu genießen, was mir einen Moment der Inspiration schenkt.

Ich lebe zum Zeitpunkt dieser Worte abgeschieden. Habe nur wenig Kontakt zu realen Menschen, und wenige virtuelle Freunde, mit denen ich inspirerenden Austausch habe. Ich habe kein Auto, kein Motorrad, aber ein famoses Fahrrad. Ich habe keine Möbel, und mein Besitz beschränkt sich auf  wenig Kleidung, drei Paar Schuhe, zwei Laptops – die in ständiger Benutzung sind, und von denen eines fast auseinadner fällt, und bald gehen wird – und Malmaterial.

Es gab einen Moment in meinem Leben, da träumte ich davon, allein in einem Haus, in der Natur zu sein. Heute bin ich relativ allein in relativer Natur. Aus Einfachheit heraus, ist es sehr viel einfacher zu beobachten. Wie verstrickt die Zweibeiner sind. Wie wenig Worte mit dem Leben zu tun haben. Während ich dies schreibe, ist mir, als würde ich in einen mentalen Spiegel sehen. Mich erinnern. Wer und was ich bin. Was mein Lebenszweck ist. Und was es letztlich auch sein mag – je mehr ich im Vergleich mit gesellschaftlichen Ideen von Erfolg scheitere, desto tiefer tauche ich in mein eigentliches Sein und Leben. Darin liegt eine unbeschreibliche Schönheit. Womit es tatsächlich auch eine Schönheit des Scheiterns zu geben scheint.

Womit ich niemandem raten möchte, es mir gleich zu tun.

Genießt eure Erfolge, wenn ihr könnt.
Wenn ihr könnt.

Obwohl das Scheitern mir so viele süße Illusionen verwehrt, schenkt es mir Augenblicke unverstellbar tiefen Genusses. Kein Genuss, der dem vergleichbar wäre, den ich in der Umarmung mit Frauen fand. Keine körperliche Wonne, wie beim Essen leckerer Speisen.  Keine exzessiven Wahrnehmungsexplosionen, wie bei Drogenerfahrungen. Ein ganz anderes Spektrum tut sich da auf. Eine Welt jenseits der bekannten Welt. So viel hab ich gelesen, so viel gehört und gesehen – doch niemand außer den Zen Buddhisten hat je von diesen Orten berichtet. Weil diese Ort sich den Beschreibungen durch Worte entziehen. Die Zen Meister erkannten ganz richtig, dass sich zum Narren macht, wer davon spricht.

Bitte, liebes Lesewesen, verzeih‘ mir, dass ich dennoch meine Erlebnisse in Worten niedergeschrieben habe. Sie sind mir einerseits Erinenrung, und eventuell können sie Dir Wegweiser sein. Es ging weiter und weiter, tiefer und tiefer, und nichts ähnelte mehr dem, was irgendwelche Schlauberger großzügig übers Internet verbreiteten. Ich fühlte mich jenseits der allgegenwärtigen Coachinghinweise angekommen. Hatte einen Raum betreten, wo Lektionen stattfanden, die sich nicht mehr mit irgendwas vergleichen ließen, was die großen, wichtigen Lehrer des 21sten Jahrhunderts anpriesen oder zu verkaufen suchten. Das schreibe ich nicht aus Angeberei. Ich machte es nicht. Es geschah. Die Lawine war ausgelöst, und riss immer neue Felsbrocken mit.
22. Der große Abfall

Die Sogwirkung der Einfachheit, funktioniert wie umgekehrte Gier. Während gierige Leute vom Sog der Illusion genarrt werden, mehr und mehr anhäufen, und in ihrer Besessenheit nach Verstrickung zunehmend erkranken, sorgt die umgekehrte Gier dafür, dass mehr und mehr Illusionen von einem abfallen, und Heilung stattfindet.

Das klingt erstmal sehr hübsch, ist aber kein esoterischer Putzi Wutzi. Es ist die vielleicht heftigste Prüfung, die einem das Leben bereit halten kann. Es ist wie Vorbereitung auf‘s Sterben. Es sind kleine Tode. Sie funktionieren ähnlich, wie Orgasmen, die bezeichnenderweise auch „kleine Tode“ genannt werden. Die Illusion fühlt sich meist extremst befriedigend an. Wie beim Sex, blenden wir gerne aus, welche Preise wir dafür zu zahlen haben oder hatten. Und nach dem Orgasmus? Oh-oh... Wehe da ist keine Liebe zwischen den Sexpartnern. Dann muss man das lebendige Sextoy schnell entsorgen. So oder so: die Enttäuschung nach dem Orgasmus könnte einem den Orgasmus schon vermiesen. Hätten wir ihn uns nicht so groß hochstilisiert. So wie wir all unsere Illusionen entweder öffentlich, privat, oder mental hochstilisiert haben.

Es tut so gut, sich mit Materie, Verstrickungen, und Illusionen zu umgeben. Es ist eine Art energetsicher Schutzschild. Er verlangt nicht von dir, dich mit dir zu beschäftigen. Sie wollen nur „bezahlt“ werden. Egal welche Farbe der Preis hat, der Sammelbegriff der Währung heißt „Schmerz“. Ich hab mir schon die Finger wund geschrieben, über das Phänomen des Automobil-Kultes. Dass Autos, als sie recht neu waren, durchaus als „Fortbewegungsmittel“ oder „Symbol der Freiheit“ gesehen werden konnten.  Und heute? Niemand scheint sich mehr darüber bewußt zu sein, wie tief man sich für so ein Auto versklaven muss. Es beginnt mit den völlig unangemessenen Fahrschulkosten. Dann die Anschaffung des Autos. Benzinkosten. Versicherungen. Reparaturkosten. Strafzettel. Der Druck im öffentlichen Straßenverkehr, keinen Unfall zu bauen. Und obendrauf, gibt‘s noch die Gewissheit einen besonderen Beitrag an der Umweltzerstörung und sozialen Ungerechtigkeit zu leisten. All das nehmen die Leute in Kauf. Sie akzeptieren, sich massiv zu versklaven - wenn sie nur ihre fahrbare Schutz-Zelle haben. Die Welt sähe anders aus, mit weniger Autos, und Zweibeiner wären weniger versklavt.

Sehen sie aber nicht.
Wollen sie auch nicht wissen.
Bequemlichkeit und Illusion gewinnen.
Wie in fast allen anderen Bereichen auch. Sei es Konsum, oder Beziehung, Ehe, oder Arbeit. Die Hinweise sind allgegenwärtig, der Selbstbetrug ebenso.

Der Selbstbetrug - und ich weiß, wovon ich da schreibe - funktionirrt auf einfachste Weise: man findet sich etwas, das einen Kick gibt. Man macht aus dem Kick eine Gewohnheit. Man bezahlt dafür mit Schmerz, und redet sich ein, der Kick würde über den Schmerz hinweg helfen. Das ist das Perpetuum Mobile der Selbstlüge. Es darf gefragt werden:

Wo liegt in mir der Ursprung des Schmerzes?
Ist dieser Schmerz real oder eingebildet?
Ist er aktuell, erinnert, oder fantasiert?

Hier ist, wo praktisch jede Droge der Zweibeiner ansetzt. „Nimm dies, und du vergisst für eine Weile den Schmerz“. (Ausnahme sind hier psychedelische Substanzen, die nicht dazu geeignet sind, Verdrängung zu fördern, sondern Hinweise geben können. Vorausgesetzt, man fällt nicht in die Falle des Hinweis-Tourismus. Ich habe Leute getroffen, die einen Trip an den anderen reihten, und glaubten, sie fänden Erleuchtung, wenn sie nur dafür sorgten, dass das LSD-Level konstant bliebe.)

Ab einem bestimmten Punkt in meinem Leben, hörten Drogen auf zu funktionieren. Zuerst beobachtete ich es mit dem geliebten Extacy. Es war so ein schönes Hilfsmittel, einmal zu sehen, zu erkennen, wer man sein könnte, wenn man nicht verschlossen, wertend, durchs Leben ginge, sondern von Herz zu Herz kommunizierte. „Dummerweise“ (zum Glück) hatte die Droge eine Sicherung eingebaut. Du konntest nicht ständig auf Extacy sein, ohne deine Glückshormone aufzurauchen. Irgendwann kam der große Absturz. Den ich nur bei anderen beobachten durfte. Bei mir sagte die Droge einfach eines Nachts: „Das war‘s“ - und Droge und Körper waren nicht länger kompatibel. Was ich Schritt für Schritt mit jeder Substanz erlebte. „Das war‘s“ - und die Substanz wurde ersatzlos gestrichen. Das heißt... Ersatzlos insofern, weil sie nicht durch eine andere Substanz ersetzt wurde, aber durch mehr Frieden, mehr Ruhe, mehr Tiefe, mehr Einsicht.

Ich schildere das mit den Drogen, weil es eine gute Metapher für die Funktionsweise des
„Abfallens der Illusionen“ ist. So wie mein Körper und Extacy plötzlich nicht mehr kompatibel waren, war mein Sein plötzlich nicht mehr kompatibel mit Konsum. Auch mit inspirierenden Konsum von Filmen, Büchern, oder Musik.

Wie lieb man manche Illusion gewonnen hat, merkt man erst, wenn sie gegangen ist. Dann merkt man, wie oft man sich mit Büchern, Filmen, oder Musik „abgelenkt“ hat, und dass es diese Ablenkung nicht mehr gibt. Da ich mich täglich mehrere Stunden mit fremden Kreationen abgelenkt hatte, wurden meine Tage massiv länger. Je länger die Tage wurden, desto sonderbarer erschienen mir die Ablenkungen, die ich zuvor praktiziert hatte. Warum eigentlich? Warum hatte ich mich so lange, so viel mit fremden Welten beschäftigt?

Mir fiel auf, dass ich verpasst hatte, ein Update zu installieren. Dass die Messages angekommen waren, und es irgendwann nichts mehr gab, was ich nicht auch aus mir schöpfen konnte. Beispiel: ich las Bücher, und hatte das Gefühl, nur meine eigenen Worte gespiegelt zu sehen. Ich sah Trailer für Filme, malte mir meine eigenen Handlungen dafür aus, und war grenzenlos enttäuscht und gelangweilt, was der fertige Film im Kino war. Meine Filme gefielen mir besser. Besonders herb traf mich der Verlust von Musik. Es schien mir, als wäre viel der Faszination der Musik direkt mit Drogenrausch verknüpft gewesen. Ohne Drogen, hörte ich nur aufgeblähte Egos, die unbedingt beeindrucken wollten, oder Lärm machen mussten, weil sie Angst vor Stille hatten. Wie war es mir zuwider, wenn bei praktisch jeder Zusammenkunft von mehr als drei Zweibeinern, irgendwer ein Lärmgerät rausholte.
Ganz anders, als die Klänge, die ich in der Natur hörte. Da wollte niemand sich aufdrängen. Da wollte niemand mit Virtuosität beeindrucken. Da wollte niemand die anderen beeinflussen.

Mein Essen hatte eine Einfachheit gewonnen, dass mich Supermärkte kaum mehr locken konnten. Weil all das eingeschweißte Zeug für mich keinerlei Nährwert mehr hatte. Es stellte sich generell die Frage, was noch Nährwert hatte.

Zuletzt fiel auch die Lust von mir ab. Ganz böse Überraschung, weil ich geglaubt hatte, dass sich meine Lust nur vertiefen würde. Dass ich tiefere Gefühle und Ekstase finden würde. Das scheiterte jedoch daran, dass ich keine Partnerinnen fand, die bereit waren, in die Lust als solche einzutauchen. Fast alle potentiellen oder tatsächlichen Partnerinnen hatten irgendwelche Erwartungen oder Vorstellungen, die ich nicht erfüllen wollte. „Ich“ wollte überhaupt nicht mehr da sein. Hier stieß ich an die Grenze, die beinahe augenblicklich alle Verstrickungen und Dramen meiner früheren Beziehungen spiegelte.

Es war unmöglich, dass sich Zweibeiner für Lust trafen, ohne ihre Egospiele zu spielen. Ja, ich hatte auch ein Egospiel. Ich hatte das Egospiel, dass ich keine Egospiele mehr wollte. Mein Anspruch, keine Erwartungen zu haben, war meine Erwartung. Und so häuften sich unbefriedigende Erlebnisse - bis das ganze Sexding verkümmerte, vertrocknete, und wie ein morscher Ast von meinem Lebensbaum abfiel. Ich will immer noch träumen, „nicht für immer“, aber momentan häufen sich die Hinweise, dass es schwierig werden dürfte. Mit allem, was von mir abfällt, entsteht mehr Raum, mehr Zeit, dadurch mehr Möglichkeit zum Beobachten, und je tiefer ich beobachte, desto weniger scheint mich irgendetwas zu betreffen.

Ich steige hinter die Mechanismen - habe aber zunehmend weniger Lust sie zu erklären, oder mich verständlich zu machen. Noch etwas, das von mir abfällt. Der Wunsch, mich verständlich zu machen. Eigentlich verständlich, angesichts einer anonymen Masse, die sich maximal in den Sumpf der Illusion begibt, und überwiegend damit beschäftigt ist, sich selbst zu feiern. Stattdessen wachsen in mir Werte, die ich bis eben noch für altbacken oder religiös manipulativ erachtet hatte. Häfiger und häufiger stolpere ich über Werte, die nicht in der Eso-Szene oder den scheinheilig Spirituellen anzutreffen sind, aber in alten, religiösen Geboten.

Es ist heftig zu sehen, dass die Lust und der Sextrieb von mir abfällt, und ich mich plötzlich in nächster Nähe zu religiösen Leuten befinde, da das alles als Irrtum ablehnen. Was soll ich sagen? Außer, dass sie Recht haben. Was auch immer die Idee dahinter sein mag, bei ihnen, so fühle ich heute, dass ich mir schlicht zu wertvoll bin, als dass ich mich wieder auf ein Sexspiel einlasse, in dem ich nicht 100% gemeint bin. In dem ich nicht 100% geliebt bin. Überraschung: es sieht mir gerade so aus, dass nur, wenn ich 100% angenommen, gewünscht, und geliebt bin, die Freiheit habe, in den Raum der Lust einzutauchen, den ich mir wünsche.
Ich hab genug „geilen Sex“ gehabt, um sicher sagen zu können: irgendwann wird es beliebig. Wenn da nicht etwas grundsätzlich Verbindendes mit im Bett ist. Ein gemeinsames „Ja“ füreinander.

Alles kann Metapher oder Spiegel für alles sein. So, wie mein Selbstwert im Bereich Sex und Partnerschaft gewachsen ist, überträgt sich das auch in andere Bereiche. Der illusionäre Charakter der meisten Spiele der Zweibeiner ist inzwischen offensichtlich. Das Regelwerk der idiotie ist allgegenwärtig, und wird nur dadurch aufrecht erhalten, weil kaum jemand sich die Zeit nimmt genauer hinzusehen.  Ruhm, Macht, Geld, Prestige - all das hat keinerlei Substanz. Je mehr es glänzt, desto mehr Illusion scheint es zu sein. Ich seh‘ all den Luxus-Kult - aber entdecke nur die gleichen Hässlichkeiten, die ich ich auch im Junkfood vom Bahnhofsimbiss finde.

Liebe ist sehr stark mit Einfachheit verbunden. Es braucht für Liebe weit weniger Worte, als ich hier geschrieben habe. Ja, ich überführe mich mit diesen Zeilen der Ego-Illusion, und kann mich da nur rauswinden, wenn ich schreibe, dass ich mir das als Erinnerung schenke. Aber andere damit erreichen? Kann ich jemals irgendwen mit etwas anderem erreichen, als mit einer Umarmung, einem Kuss, oder dem Geschenk des Zuhörens?

Das Leben meint es eindeutig gut mit mir, und löst unnötige Äste von mir abfallen. Ich bin unglaublich offen und bereit für alles, was da kommen mag. Alle Zeichen stehen auf
„Schenken“. Ich weiß nur noch nicht was und wem...


23. Love Love Love

Im Juli 2017 lag meine alte Welt in Trümern. Das klingt dramatisch, aber all die zerstörten Konstrukte schufen freien Ausblick auf weite Landschaft und herrliche Sonnenaufgänge, blauen Himmel, Sonnenuntergänge, und Sterne. Die meisten Zweibeiner haben große Angst „etwas“ zu verlieren. Weil sie mit Dingen, Fähigkeiten, oder Handlungen ihre Angst vertreiben wollen. Indem sie dieses Spiel von Teenagertagen bis zum Tod spielen, verpassen sie das „wahre Leben“. Zweibeiner wurden selten müde, Ideen zu entwickeln, was „das wahre Leben“ zu sein hätte. Was das Leben nicht ansatzweise interessiert. Es zeigt sich dann, wenn wir unseren eitlen Stolz ablegen, und und für das wahre Leben öffnen.

Hier geschah etwas, das ich nicht im Traum mir vorzustellen gewagt hätte: das Leben forderte mich einmal mehr auf, noch tiefer loszulassen. Hier ist es nochmal dringend nötig daran zu erinnern, dass ich dies nicht niederschreibe, um anzugeben, oder das Gefühl zu vermitteln, ich stünde „über“ irgendwem, wäre „weiter“, oder hätte irgendwas erreicht, was mich „besonders“ machte. Egal wie diese Zeilen klingen mögen - es ist nicht meine Absicht, etwas darzustellen. Bitte, liebes Lesewesen, nimm diese Zeilen als meinen - hoffentlich ausreichend bescheidenen - Versuch, meinen Weg zu dokumentieren, und wohin mich das Leben schickte.

Nun ging es nicht mehr um Materie, die losgelassen werden wollte, sondern mein Stolz. Ja. Stolz. Ich hatte nicht gedacht, dass ich sowas überhaupt gehabt hätte. Ich hätte es wohl auch nicht erkennen können, wenn mir nicht zur gleichen Zeit mehrere Freunde und Freundinnen etwas gespiegelt hätten, was ich auch in mir trug:

Das eitle Bestreben, selbst bestimmen zu wollen, wie das Leben zu spielen hätte.

Es mag sonderbar klingen, in einer Zeit, in der allerhand Eso-Schnullis uns verkaufen wollen, wir bräuchten nur zu wünschen, und schon schickt uns das Unviersum unsere Bestellung. Verrückterweise gibt es sogar eine Wahrheit in dieser Idee. Das Leben schickt uns wirklich unsere Bestellungen. Es erfüllt uns wirklich unsere Wünsche. Wenn diese Wünsche mit unserem Lebensweg, mit unserem Lebenszweck in Deckung sind. Das Leben erfüllt usn sogar unsere unsinnigesten Einfälle - damit wir den Irrtum erkennen können. Letztlich sidn wir aufgefordert, herauszufinden, was unsere tiefste, innerste Wahrheit ist. Wer wir wirklich sind. Was unsere tatsächliche Aufgabe ist.

Ich war eingiermaßen überrascht, als die Antwort nicht lautete „Künstler“. Im Gegenteil. Da war etwas in dem Künstler-Spiel, was zutiefst künstlich war, und ein Spiel, das sich meinem Einfluss entzog. Ich bemerkte, dass ich im Künstler-Spiel nicht wirklich „einfach“ lebte. Dass ich die Hinweise der letzten Monete weitgehend ignoriert hatte. Dass es Zeit war, ein Update zu installieren, und zu überlegen, ob ich so weitermachen konnte, wie bisher.

Ich hatte gemalt, war kreativ gewesen, weil es mir Freud emachte. Und weil es mir Freude machte, anderen meine Sichtweisen zu schenken. War es das, was das Leben von mir wollte?

Wie um mir meinen Denkfehler, meinen Irrtum, unter die Nase zu reiben, schlug das Leben mit einem Basballschläger zu. Über Wochen kam kein Geld mehr herein, und während außerhalb von mir herrlcihster Sommer war, wurde es in mir eisigster Winter. Normalerweise war das der Zeitpunkt, liebe Freunde um Hilfe zu bitten - nur fühlte es sich diesmal nicht richtig an. Auch meine Geldnot war ein Geschenk. Nur eines, das ich nicht begriff. Ich wollte der Sache auf dem Grund gehen, und ließ es darauf ankommen. Ich war bereit, den ganzen Weg zu gehen. Bis in den Untergang. Wie ich das schonmal vor 15 Jahren getan hatte. Ich machte weiter, wa sich machen konnte, aber beobachtete, was mit meiner Angst geschah. Zu meiner größten Überraschung, war sie nicht da. Keine Angst. Es war... ungewöhnlich. Ich hatte kein Geld mehr, mein Kühlschrank leerte sich, und da war keine Angst. Ich hatte auch keine Antworten. Keine Hoffnung auf ein Wunder. Da war nur grenzenloses Vertrauen, dass alles seine Richtigkeit hätte, und ich schon herausfände, worum sich dieser Test drehte.

Wer in Deutschland, oder einer modernen Gesellschaft aufwuchs, wurde sicherlich auch mit den heiligen Vorzügen der Arbeit geimpft. Die meisten Zweibeiner rennen in die Arbeits-Sklaverei, sobald das Geld knapp wird. Dass das nicht die Antwort auf die Frage war, dass das nicht die eigentliche Lösung der Aufgabe war, hatte ich schon vor 15 Jahren erkannt. Diesesmal schien das Leben die Sache noch etwas zuspitzen zu wollen. Weil ich wissen wollte, ob ich der Einzige auf dieser Welt war, dem das geschah, gab ich im Internet den Suchbegriff „living without money“ ein.

Ich hätte dankbar sein können, als ich rausfand, dass ich nicht der Erste war. Die Dankbarkeit sollte erst etwas später kommen. Zuerst war da eine gewisse Enttäuschung. Mein Ego musste wiedereinmal akzeptieren, dass schon jemand vor mir den Weg ohne Geld gegangen war. Sicher, Diogenes hatte ich schon vor langer Zeit für seinen extremen und mutigen Weg bewundert. Mich interessierte jedoch, ob das in der Neuzeit auch möglich war - und es wurden mir tatsächlich mehrere Namen von der Suchmaschine ausgespuckt. Die Namen, und die damit verbundenen Wege, die mich am Meisten interessierten waren: „Peace Pilgrim“ und „Daniel Suelo“. (Sofern Dich ihre Wege interessieren, findest Du im Internet jede Menge Informationen über sie.)

Für einen Augenblick war ich sehr inspiriert. Sowohl Peace Pilgrim, als auch Daniel Suelo, hatten das Spiel noch viel weiter getrieben als ich. Und sie hatten nicht nur „überlebt“, sondern sogar ein Ausmaß an Freiheit erlangt, das mir sehr erstrebenswert erschien. Daniel Suelo erwähnte in seinen Texten immer wieder Jesus - und PENG!, noch ne Inspiration. Ich hatte die geschichten von und um Jesus nie unter dem Geldaspekt gesehen. Plötzlich wurde diese Figur sehr viel interessanter. Ich hatte schon öfter gedacht, dass Jesus ein ziemlich coller Typ gewesen sein musste, wenn es ihn denn wirklich gegeben hat. Hatte ihn aber nie als jemand gesehen, der die Absurdität des Geldsystems durchschaut hatte. Natürlich kannte ich allerhand Zitate, die ihm zugeschrieben wurden, aber erst jetzt wurde mir die ganze Tragweite seiner Lebens- und Liebesvision bewusst. Dass es bei dem Satz „geben ist seliger denn nehmen“, nicht um ein moralisches Konstrukt ging, sondern um einen direkten Wegweiser Richtung Freiheut und Lebensglück. Konnte ich das erst verstehen, während ich in den Abgrund runter kletterte?

Hier schlug die Erkenntnis voll zu. Dass ich eitel und stolz war. Dass ich dem Leben meine Ideen aufdrücken wollte. Dass ich mich geweigert hatte, Hinweise und Lehren anzunehmen, weil ich hatte „besonders“ sein wollen. Weil ich hatte „anders“ sein wollen. Weil  ich den Wert meines Lebens daran messen wollte, wie ungewöhnlich mein Leben war. Dass ich mich ständig und immerzu verglich, obwohl mir nicht mehr zuwider war, als mich zu vergleichen oder verglichen zu werden.
Diese Erkenntnis erschütterte mich tief - und plötzlich war ganz klar, warum ich kein Geld mehr hatte. Einerseits, weil ich an eine Illusion glaubte. Weil ich glaubte, Geld hätte Macht - obwohl es mein Glaube war, der einer Idee macht gab.
Aber sehr viel schwer wog mein Hochmut. Mein eitler Stolz.

Du magst nun fragen, was ich damit meine? Stolz ist oft mit Tricks verbunden. Das Leben nicht in Demut und Dankbarkeit anzunehmen, sondern so zu tun, als hätte man es selbst gemacht. Es mag vielleicht ein wenig sodnerbar klingen, vielelicht sogar fast religiös, doch in meinem eitlen Stolz, hatte ich verpasst, dem Leben meine Verbeugung zukommen zu lassen. Es ist schwer zu beschreiben. Es war, wie Aufwachen. Ein Erkennen, dass ich nicht auf der Erde war, um meinen Willen zu manifestieren, sondern die Freiheit geschenkt bekommen hatte, mein Leben im Rahmen meiner Möglichkeiten zu genießen....

Ich war seit jeher jemand gewesen, der daran geglaubt hatte, dass ich eine Bestimmung auf dieser Erde hätte. Da ich nicht religiös war oder bin, ist dieser „Bestimmer“ nicht „Gott“. Es ist vielmehr eine Art Spielfeld, in das ich geboren wurde, um maximale Freude und maximalen Sinn zu finden. Das hatte mich immer begleitet. So lang ich zurückdenken kann, auch wenn ich mir in der Kindheit darüber anders bewusst war, als heute.

Daraus folgt eine sehr einfache Schlussfolgerung.
Wenn das Spielfeld schon bereitet ist, wenn der Raum für mich bereits gebaut wurde - warum dann all die Sorgen, all das Scheitern, all die Verstrickung und Verwirrung?
Wäre es nicht naheliegend, viel lieber jeden Moment aufzusaugen, sich nicht um Geld zu sorgen, nicht an Partnerschaften zu klammern, sondern dahinzutreiben, wie ein Blatt im Wind?

Es befiel mich beinahe eine Art Euphorie. Ich sah mich schon in Höhlen schlafen, mir mein Essen erbetteln, und wie ein heiliger leben...

Als nach nur einem Tag Fasten, Geld reinflatterte...

War das das Zeichen des Lebens, dass ich doch nicht als Höhlenmensch ohne Geld leben sollte? Dass ich doch noch was mit Kunst zu tun hatte? Dass ich meine Lektion begriffen, die Prüfung bestanden hatte?
Oder stand mir die wahre Prüfung noch bevor?